Preise hat er wahrlich schon einige bekommen, der Choreograf und designierte Wiener Ballettchef Martin Schläpfer, aber diesen erhält er von seiner Heimat St. Gallen und er liegt dem Schweizer natürlich besonders am Herzen. Wenige Kilometer von hier, im Appenzeller Bergland in Altstätten ist er geboren, in St. Gallen lernte er seine ersten Ballettschritte.
Auch ist, wie Schläpfer in seiner sehr persönlichen und nachgerade philosophischen Dankesrede bemerkte, der Große St. Galler Kunstpreis ausnahmsweise kein Tanzpreis, „sondern ehrt seit jeher breit gestreut, was mir sehr zusagt. Denn nicht immer kann ich das Inzüchtige der Ballett- und Tanzwelt so gut nehmen, wie ich es vielleicht sollte.“
Für die Wiener, das zukünftige Publikum des designierten Staatsballett-Ballettdirektors, ist diese Verleihung deshalb so interessant, weil die Laudatio am 2. Dezember im Theater St. Gallen ein Amtsvorgänger Schläpfers hielt: Gerhard Brunner leitete das Wiener Staatsopernballett von 1976 bis 1990, war bekanntlich zuvor Journalist und hernach Intendant in Graz, dann der Begründer der Intendanten-Ausbildung an der Universität Zürich. Auch wenn ganze fünf Kollegen und ihre Amtszeiten zwischen ihm und Schläpfer liegen, so setzt Brunner – der Vorvorvorvorvorvorgänger, wenn man es denn ausschreiben will – eine ganz besondere Hoffnung in den Schweizer Choreografen, das ging aus seiner schönen, tiefgründigen Laudatio hervor.
Launig erzählte er von seinem eigenen Amtsantritt in Wien unter Egon Seefehlner, als „Geld kaum eine Rolle spielte, die Gewerkschaft eine wichtige“ und als das, „was man ein Budget nannte, auf ein Blatt Papier passte. Handgeschrieben.“ Brunner würdigte Schläpfer in all seinen Funktionen als Tänzer, Ballettdirektor und natürlich vor allem als Choreograf: „Die wirklich guten unter ihnen sind rarer als weiße Trüffeln. Wer kritisch prüft, wie viele als prägend oder gar wegweisend anzusehen sind, wird kaum zwei Hände brauchen.“ Die Ensembles in Bern, Mainz und Düsseldorf/Duisburg habe er „mit einer so glücklichen Mischung aus tanzpädagogischer Kompetenz, direktorialer Bestimmtheit und schöpferischem Genius“ geleitet, dass wir ihn heute als eine der führenden Persönlichkeiten feiern können. Mit Blick auf Wien und einem zarten Kassandra-Ruf im Unterton betonte Brunner, wie sehr Schläpfer in jeder seiner bisherigen Wirkungsstätten von Anfang an geschätzt und unterstützt wurde: „Dreimal bewältigte Martin Schläpfer alle Schwierigkeiten der Anfänge, um für sich und eine weitere Reihe von Choreografen alle Voraussetzungen zu schaffen für die wirklich kreative Arbeit. Es ehrt ihn als Direktor wie als Kollegen, dass er sich nirgendwo die Konkurrenz vom Leib zu schaffen versuchte, sie vielmehr auf höchstem Niveau suchte und allen Vergleichen auch standhielt.“
Den für viele immer noch überraschenden Umzug von Düsseldorf nach Wien erklärt Gerhard Brunner damit, dass dieser Choreograf nie auf dem errungenen Ruhm ausgeharrt habe, weil er Bequemlichkeit und Selbstgewissheit nicht kennt: „Martin Schläpfer sucht Reibungen, Widerstände, Zuspitzungen. Daraus erwächst ihm seine mentale Kraft. Es sind die großen Fragen, die großen Herausforderungen, die er sucht, und seine Kühnheit, selbst das scheinbar Unmögliche anzugehen, wird auch seinen nächsten Lebensabschnitt prägen.“
Die Musikstadt Wien sei dabei alles andere als eine zufällige Wahl, den Schläpfer wolle sich hier „dem Thema der choreografischen und musikalischen Interdependenz stellen“. Nach Brunners Meinung wird Schläpfer der reichen Wiener Musikgeschichte ein längst fälliges Kapitel Tanzgeschichte auf demselben Niveau hinzufügen. Im Jahr 1761, beim „Don Juan“ von Christoph Willibald Gluck und Gasparo Angiolini, verortet der ehemalige Staatsopernballettdirektor den letzten Wiener Beitrag, der sowohl musikalisch wie auch choreografisch auf der höchsten Höhe einer Epoche angesiedelt war: „Mozart, Beethoven und die ganze Heerschar haben ihr choreografisches Gegenüber nie gefunden.“ Auch Gustav Mahler, der bedeutendste Direktor der Wiener Staatsoper, sei am Ballett gescheitert und beließ es in seiner Provinzialität, resümierte Brunner und warf einen Blick voraus: „Man versucht sich als eine Ironie der Geschichte vorzustellen, dass Martin Schläpfer es sein wird, der sich in Wien nicht nur als der von Gustav Mahler vermisste Helfer entpuppt, sondern als ein schöpferisches Alter Ego. Dass es ihm gelingt, den Symphoniker und Ballettverächter Gustav Mahler dauerhaft auf jener Bühne anzusiedeln, der er sich als Komponist verweigert hat. Für Martin Schläpfer ist die Auseinandersetzung mit Gustav Mahler Programm.“
Für den Schweizer Choreografen, der Musik nicht einfach benütze, sondern ihre Formen und Strukturen achte, ist der Tanz aber nicht die gehorsame Tochter der Musik, sondern beide Künste stehen gleichwertig nebeneinander, so Brunner. Verwurzelt im klassischen Akademismus, habe Schläpfer den Modern Dance in einem „radical classicism“ absorbiert. Den Spitzenschuh setzt er als „Waffe, Werkzeug und Fetisch zugleich“ ein, eines aber dürften die Wiener nicht erwarten: „In seiner Ganzheit ist Martin Schläpfers Werk eine einzige Absage an alle tänzerischen Märchen und Feenwelten, an Prinzen und Elfen, an alles Ätherische und Ephemere. Seine Welt ist unsere Welt, unser Heute. Im Zentrum steht der Mensch in seiner existenziellen Bedrängnis.“ Und Brunner gab Martin Schläpfer wie auch den Wienern etwas mit, was sich wie eine Warnung und eine Hoffnung gleichzeitig anhört: „Sein Lieblingstier ist der Kaffernbüffel. Dessen Kraft wird Martin Schläpfer brauchen, wenn er aufbricht nach Wien, um sich daran abzuarbeiten, was man dort, meist unreflektiert, als Tradition heimspricht. Wer Martin Schläpfer kennt, weiß allerdings, dass es nur ein Begriff der Tradition sein kann, dem er sich verpflichtet fühlt, nämlich Gustav Mahlers ‚Feuer bewahren, nicht Asche anbeten‘.“
Umrahmt wurde die Preisverleihung, zu der Schläpfer auch seine erste Lehrerin Marianne Fuchs und seinen damaligen Basler Ballettdirektor Heinz Spoerli begrüßte, mit echter Appenzeller Musik, mit wunderbar lyrisch gehauchten Jodlern. Und natürlich von Tanz, der selbst auf der kleinen Bühne in der St. Galler Lokremise einen nachhaltigen Eindruck davon gab, was die Wiener in Zukunft erwartet. Marlúcia do Amaral, Schläpfers Muse schon seit seinen Mainzer Jahren und soeben mit dem deutschen Theaterpreis „Der Faust“ als beste Tänzerin ausgezeichnet, wurde in „Ramifications“ zur zerbrechenden Puppe, drehte Pirouetten und zog eine beängstigende Schnute, hob in Grand Jetés ab und starb einen düsteren Schwanentod.
Yuko Kato und Marcos Meñha, ebenfalls vom Ballett am Rhein, zeigten die „Tänze“ aus „Pezzi und Tänze“, ein Werk aus der Mainzer Zeit und eine der typischen Miniaturen des Choreografen. Als wär’s ein ganzes Stück von Samuel Beckett, tröstete Meñha die gramgebeugte Kato, richtete sie immer wieder auf, lächelte ihr etwas vor, und sekundenlang spielten sie wie die Kinder. Das ist Schläpfer at his best, grotesk und doch fließend in den Bewegungen, zärtlich und virtuos mit der Dynamik spielend, immer auf die Musik und doch so völlig unerwartet in seiner Musikalität. Genau so sieht die besondere Wechselwirkung zwischen Tanz und Musik aus, wenn man plötzlich die Traurigkeit in Franz Schuberts schönen Walzern hört, nur weil Yuko Kato diese Schritte dazu tanzt. Mit einem Wort von Horst Koegler beschrieb Gerhard Brunner es als „handlungslose Handlungsballette“, das Erzählen „von Menschen und ihren Beziehungen, vom Glück und von den Bedrohungen unseres Seins, von Sehnsucht und Not, von Zweifel und Hoffnungen“, die Gefühle eines ganzen Lebens in wenigen, intensiven, todtraurigen und selig lachenden Minuten. Wien hat allen Grund, Martin Schläpfer genau wie Mainz und Düsseldorf mit offenen Armen zu empfangen.