Seit 2019 entwickelt Sandra Chatterjee eine Methode der Bewegungsimprovisation, die durch verschiedene Gerüche (von Sandelholz oder Weihrauch bis hin zu Knoblauch und Schweiß) stimuliert wird. „The Smell of Labour“, aber auch der Geruch von Armut oder Kolonialisierung, konnte so tänzerisch eruiert und bearbeitet werden.
Chatterjee, Tänzerin, Choreografin, Wissenschafterin, in München als Kind eines bengalischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, verdankt ihre frühe Tanzleidenschaft einem Hüftleiden: dieses machte ihr damals das Laufen schwer, das Tanzen mit seinen vielen Spiral-, Horizontal- und Vertikal-Bewegungen aber wurde um so schneller zur Passion.
Internationale Ausbildungen – von Indien über Hawaii bis Kalifornien – schärften Sinne und Intellekt für ihre heutigen Themenschwerpunkte: Klassismus, Rassismus, Kolonialismus.
Die promovierte Tanzwissenschafterin hielt eine Gastprofessor in Köln, derzeit ist sie an der Paris-Lodron-Universität Salzburg in einem Projektteam verankert.
Sandra Chatterjee wurde von der Theoriekuratorin des Tanzquartier Wien (tqw), Anna Leon, eingeladen, in Workshops und Lectures ihre Arbeit zu präsentieren.
Ich erreiche Sandra Chatterjee in Kolkata (vormals: Calcutta), der Heimat ihres Mannes, des Musikers Arko Mukhaerjee.
„Nahe der Stadt gibt es ein riesiges Industriegebiet mit zigtausenden Arbeiter:innen. Sie verdienen minimal und riskieren täglich, mit Nichts auf der Straße zu stehen, wenn der Betrieb zusperrt.“ Das war für Sandra, ihren Mann und viele andere Künstler:innen am Beginn der Corona-Pandemie Grund für Initiativen, die das Nötigste wie Essen und Lebensmittel kostenlos an jene verteilten, die dies z.B. wegen des Lockdowns oder eines Zyklons dringend brauchten. Kreative traten online auf, um so u.a. Geld für eine Kantine zu erspielen, die es auch heute noch gibt. „Mittlerweile bietet die Kantine den Menschen, die auf Taglohnbasis arbeiten müssen oder arbeitslos geworden sind, einfaches warmes Essen um weniger als 50 Cent. Eine Gesellschaft wurde gegründet und wir konnten ein mehrstöckiges Haus bauen, es ist fast komplett – unten Kantine, oben Platz für Tanz, Musik, Kunst. Jedes Stockwerk ist nach bekannten Frauen, Aktivistinnen aus Bengalen benannt.“ Tanzen, politisches und soziales Engagement und wissenschaftliche Arbeit verweben sich bei Sandra Chatterjee. So eben auch die Arbeit mit Gerüchen.
Abseits von synästhetischen Eindrücken vermitteln Gerüche auch Erinnerungen und Stimmungen. „Wir sind ja das Tanzen mit Musik gewohnt. Beim Geruch ist es ein Mehr an Arbeit, aber es lässt sich auch viel mehr experimentieren.“ Die Gerüche (ver-)führen uns in Vergessenes, längst Verdrängtes, erzählen uns Geschichten. „Ganz besonders Weihrauch, wenn er durch den Raum weht, in unterschiedlichen Intensitäten.“ Die „bösen Geister“ sind für Sandra Chatterjee sehr reale: „Wenn sich etwa der böse Geist des Rassismus oder Klassismus durch den Geruch manifestiert, können wir Gerüche als Antidoten finden und sammeln. Diese geben wir bei der nächsten Performance dem wieder neuen, nächsten Publikum weiter.“ Für die innovative Künstlerin können das „Mut, Ruhe, Offenheit, Vorausschau“ sein.
Klar, eine Person wie Sandra zur „Aneignungsdebatte“ zu befragen. Eine Halbdeutsche Halbbengalin, die auf der ganzen Welt unterwegs ist: Unter welchen Bedingungen findet für sie kulturelle Aneignung statt? Sie hat eine Anfangsformel: „Aneignung ist dann, wenn sie deinem eigenen Profit dient. Das kann auf materieller oder auch emotionaler Ebene sein. Immer, wenn ich mich selbst bereichere. Dies ist die erste Frage, die man sich stellen muss, um durch das komplexe Thema je nach Situation und Kontext zu navigieren.“
Tanz den Geruch
Ich hatte die Gelegenheit, einen Workshop mit Sandra Chatterjee im tqw mitzumachen. Kaffee, Trockenfisch, Sandelholz und andere Düfte vermittelten mir und den Mittanzenden das ungewohnte Gefühl, Erinnerungen, Assoziationen und Emotionen, ausgelöst von den Gerüchen, in Bewegung zu erleben. Die erfrischend unverkopften theoretischen Erläuterungen Sandra Chatterjees machten das Ganze zu einem intellektuell-sinnlichen – und auch politischen Erlebnis.
Der zusammenfassende Abschluss der Workshop-Reihe von und mit Sandra Chatterjee und Kolleg:innen geht am 13. Juni 2023 um 18 Uhr bei freiem Eintritt im Tanzquartier Wien über die Bühne.