Lieber Ulrich,
Am Samstag haben wir deinen 90. Geburtstag mit viel Freude würdig gefeiert. Dabei wurden wir wieder daran erinnert, welch bedeutende Rolle du gespielt hast, dass der Tanz in Deutschland und darüber hinaus „sichtbar“ (O-Ton Thomas Kufen, Oberbürgermeister von Essen), und ich ergänze: (be-)greifbar, geworden hat. Durch deine Vernetzungs- und Advocacy-Arbeit ab 1975 hat der Tanz begonnen, mit einer Stimme zu sprechen. Du hast eine Blaupause geliefert, wie es gelingen kann, ihm als eigenständige Kunstform Anerkennung und Geltung zu verschaffen.
Passend zu deinem Leben stand auf der Einladung zum Fest: „Alle sagten: ‚Das geht nicht‘. Dann kam einer, der wusste das nicht und hat’s einfach gemacht“. Zum Beispiel, den „Deutschen Tanzpreis“ ins Leben gerufen, der heuer auch einen runden, nämlich den 40. Geburtstag begeht. So erinnert sich der ehemalige Präsident des Deutschen Bundestages Norbert Lammert, dass du eines Tages in seinem Büro gestanden und ihn gebeten hast, die Schirmherrschaft dafür zu übernehmen. Dieser hatte bis dahin gar nichts mit Tanz zu tun. Du aber konntest in überzeugen und seine Transformation war komplett: Seither hat er keine der glanzvollen Tanzpreis-Galas mehr ausgelassen.
Ebenso nachhaltig war dein „Überfall“ auf die Südtiroler und Bozener Vertreter der Politik, um sie von der Notwendigkeit eines Tanzfestivals zu überzeugen. 1985 wurde der Ballettsommer Bozen (heute Tanz Bozen / Bolzano Danza) als erste gemeinsame Veranstaltung der italienischen und deutschen Kulturverwaltung aus der Taufe gehoben. Auf deine Einladung habe ich mehrmals das Festival als Journalistin besucht, 2005 hast du mir die ehrenvolle Aufgabe der künstlerischen Leitung des Workshop-Programms übergeben. Auch ich habe diese Tätigkeit mittlerweile weitergegeben. Denn auch das habe ich von dir gelernt: dass man die nächste Generation rechtzeitig ans Ruder lässt, um seine Arbeit nachhaltig abzusichern. Das ist dir mit deinen zahlreichen Initiativen geglückt.
Im Mittelpunkt des Festaktes zu deinem 90er stand ein Film von Heidemarie Härtel, der deine persönliche und berufliche Laufbahn in einem liebevollen und informativen Zusammenschnitt aus Archivmaterial und Interviews erzählte. Die berührenden Eindrücke, den der Film in allen Anwesenden hinterließ, wurden anschließend mit einem Gespräch vertieft.
Tänzer, Pädagoge, Manager und kreativer Netzwerker
Deine Leidenschaft für den Tanz begann also 1951 mit den ersten Schritten beim Ballett Dortmund, die dich anschließend zu Kurt Jooss führten, zu einem Studium an der Folkwang-Schule, wo du Kollege von Pina Bausch warst. Dein erstes Engagement 1958/59 katapultierte dich gleich in die Rolle des Premier Danseur Etoile beim Ballet de Charleroi (heute: Ballet royale de Wallonie). Damals warst du in Hauptrollen der klassischen Ballettliteratur wie in „Schwanensee“, „Giselle“ oder „Romeo und Julia“ zu sehen. Du warst Mitglied des neu-gegründeten Folkwang-Ballett unter Kurt Jooss und zeitgleich erster Solo-Tänzer beim Ballett der Städtischen Bühnen Essen (heute: Aalto Ballett Essen). Drei Jahre lang hast du in Kanada bei der Canadian Opera Company und dem National Ballet of Canada getanzt.
Mit der Gründung einer Familie mit deiner wunderbaren, leider viel zu früh von uns gegangenen Frau Renate Roehm, geb. Meyer (1939–2014) hast du begonnen, den Fokus deiner Arbeit auf die Tanzpädagogik zu verlagern, nach einer entsprechenden Ausbildung bei der Canadian Dance Teachers Association und später bei der Royal Academy of Dance in London. Der Unterricht in deinen erfolgreichen Ballettschulen, zuerst in Kanada und bald ab 1973 in Essen, folgten dem RAD-Lehrplan. Ab 1975 warst du darüberhinaus für den Aufbau der RAD in Deutschland und Österreich zuständig. Einige derer Vertreter waren per Video unter den Gratulant*innen und erinnerten sich mit warmen Worten der Zusammenarbeit mit dir.
Diese Verbände haben dir auch eines klar gezeigt: nur gemeinsam kann man etwas erreichen. Und so hast du im selben Jahr auch den Berufsverband für Tanzpädagogik ins Leben gerufen, dem du bis 2012 vorgestanden bist. Der Verband führt Weiterbildungen für Tanzpädagog*innen und Schüler*innen (wie die Sommertanzwoche Bregenz und die Tanzwoche Wopswede) durch, befasst sich mit rechtlichen und Steuerfragen rund um den Unterricht. 1978 hast du die Zeitschrift Ballett Intern gegründet und redaktionell geleitet. 1983 vergab der Verband schließlich den ersten mittlerweile so renommierten „Deutschen Tanzpreis“ an Gret Palucca. Seither wird er jedes Jahr im Rahmen einer prächtigen Gala im Aalto Theater Essen verliehen. Bei der Preisverleihung an deine Studienkollegin Pina Bausch wurde dir 1995 von Bundespräsident Richard von Weizäcker das Bundesverdienstkreuz am Bande des Verdienstordens verliehen. Von Weizäcker war bereits 10 Jahre davor Ehrengast beim „Folkwang Fest der Künste“, das – muss man es noch sagen? – auf deine Initiative hin entstanden ist.
Du warst 2006 Mitbegründer der „Ständigen Konferenz Tanz“, der du bis 2014 vorstandest und der dann in den „Dachverband Tanz Deutschland“ umbenannt wurde. Dieser ist heute ein effektives Vernetzungs- und Lobby-Instrument der deutschen Tanzszene und Ansprechpartner für Kulturpolitiker*innen. Es gibt eine große Vielfalt an Einrichtungen, die im Dachverband Tanz zusammenarbeiten. Dessen derzeitiger Geschäftsführer Michael Freundt ebenso wie dein Nachfolger im Deutschen Berufsverbandes für Tanzpädagogik Tobias Ehinger und weitere Vorstandsmitglieder waren natürlich auch auf deinem Fest.
All diese Initiativen haben dazu geführt, dass der Tanz als eigenständige Kunstform in Deutschland anerkannt ist, dass die Ballett- und Tanzcompagnien an den Stadt- und Staatstheatern – und Deutschland hat derer viele – heute zumeist einen autonomen Status haben und deren Leiter im Rang eines Intendanten stehen. Damit steht der Tanz selbstbewusst auf einer Ebene mit Oper und Schauspiel. Und die Anerkennung der Kulturpolitik ist mittlerweile ebenfalls gefestigt. Neben den bereits erwähnten erwiesen dir ehemalige und aktive Kulturdezernenten der Stadt die Ehre.
Denn du hast bedeutend daran mitgearbeitet, dass die Stadt Essen, dessen Tanztradition mit Kurt Jooss in den 1920er Jahren begann, zu einem weit über die Stadtgrenzen bekannten Tanzzentrum wurde. Verdientermaßen bist du 2013 nach deinem Rückzug aus dem Trägerverein selbst mit dem Deutschen Tanzpreis gewürdigt worden, dessen Gala ein Highlight im städtischen Kulturkalender ist.
Und so hast du deinen 90. Geburtstag (eigentlich am 14. September) mit einer zahlreich erschienen Kohorte an Freunden, Familie und Weggefährten gefeiert. Über 100 von ihnen sind aus ganz Deutschland, aus Österreich und der Schweiz angereist. Und du hast die Rolle des Gastgebers so souverän ausgefüllt wie man es eben von dir seit 40 Jahren gewohnt ist. Lieber Ulrich, ich habe die Feier mit dem Gefühl verlassen, dass bei deiner Geschichte noch lange nicht das letzte Wort gefallen ist.
Im Namen des tanz.at-Teams wünsche ich dir also für die Zukunft weiterhin alles, alles Gute!
PS: Die Verleihung des Deutschen Tanzpreis 2023 an die Gründungsmitglieder des Wuppertaler Tanztheaters Malou Airaudo, Josephine Ann Endicott, Lutz Förster und Dominique Mercy findet am 14. Oktober im Aalto-Theater Essen statt. Die Laudatio hält die Tänzerin/Schauspielerin Mechthild Grossmann. Die sehbehinderte Performerin Sophia Neises erhält eine Ehrung für herausragende Entwicklung im Tanz. Tanzpädagoge Peter Appel wird für sein Lebenswerk geehrt. Tickets gibt es hier.