Am 3. Dezember ist der Choreograf, Tänzer und Lehrer Wolfgang Stange, einer der Pioniere des inklusiven Tanzes, im Alter von 77 Jahren gestorben. Kurz bevor seine Tanzcompagnie AMICI nächstes Jahr ihren 45. Geburtstag feiert. Ich hatte das Glück bei deren ersten Produktionen in London als Tänzerin mitzuwirken und ihn bei der Arbeit in Gesundheits- und sozialen Einrichtungen aktiv zu begleiten.
Für Wolfgang waren körperliche oder mentale Einschränkungen kein Hindernis für die künstlerische Entfaltung. “Irgendwie”, sagte er einmal zu mir, “sind wir ja alle behindert”. Etwa, wenn man, so wie er, relativ spät eine Tanzausbildung beginnt. “Am Place (dem Sitz der London Contemporary Dance School, Anm.) habe ich mich oft behindert gefühlt”, sagte er dazu. Das konnte ich nur zu gut nachvollziehen. Ich war im letzten Jahr meines Studiums am Laban Centre.
1980 hatte seine erste Produktion “I am not yet dead” mit einem Ensemble von Performer*innen mit Down Syndrom, mit Sehbehinderung und Profitänzer*innen realisiert. Bei der Premiere kam Wolfgangs außerordentliche Empathiefähigkeit zutage.
Die Zuschauer*innen saßen bereits im Saal, als einer der Tänzer einen heftigen Anfall von Lampenfieber bekam und sich weigerte auf die Bühne zu gehen. Unruhe beim Rest der rund 20 Darsteller*innen – wir sollten ja schon auftreten. Doch Wolfgang, damals beinahe so unerfahren wie sein Ensemble und ebenso supernervös, machte plötzlich eine 180 Grad Wende. Ganz ruhig setzte sich er sich zu dem Tänzer, hielt seine Hand und sprach mit leiser Stimme geduldig zu ihm. Wahrscheinlich erklärte er ihm, dass ohne ihn die Vorstellung nicht zu machen wäre. Er verstehe wohl seine Angst und ja, wir können natürlich auch alle nach Hause gehen. Was immer seine Worte waren, der Tänzer stand nach einigen Minuten auf, bereit der Welt zu begegnen. “I am not yet dead” kam zur Premiere und war Auftakt für eine Erfolgsgeschichte, die wesentlicher Motor in der weltweiten Verbreitung der inklusiver Tanzpraxis wurde.
Hilde Holgers Einfluss
Wolfgangs Stange Arbeit war von der gebürtigen Österreicherin Hilde Holger, die vor dem Terror-Regime der Nazis flüchten musste, maßgeblich geprägt. Sie entdeckte in ihm den Künstler, während seine Ausbildung an der London Contemporary Dance School in erster Linie auf Tanztechnik fokussiert war. "Hilde taught me to recognise and value honesty on stage", sagte er. Sie inspirierte ihn auch zur Arbeit mit Menschen mit Behinderung, die mit ihrem Sohn Darius begann.
“Wolf used to teach Darius in the early days, and Darius never forgot that. As did all the students Wolfgang helped over the many years, of varying abilities ... To my mind he was a saint with a huge compassionate heart, and who, like my mother, realized the Power of Dance”, erinnert sich Hilde Holgers Tochter Primavera Boman-Behram.
Mit Expressionismus könnte man seinen künstlerischen Stil beschreiben, wußte er doch die Ausdrucksstärke seinen Ensembles bestens zu nützen und Themen wie Krieg, Völkermord, Isolation, Wahnsinn, Unterdrückung und Ausgrenzung bildgewaltig in Szene zu setzen.
“What some might see as disabilities, Stange sees as traits to be harnessed and used. He’s a showman, wholly unsentimental, with an exceptional gift for drawing truthful performances from his cast. He’s also one of British theatre’s great unsung heroes. Few artists make a real difference. Stange has”, schrieb Luke Jennings in The Observer.
“Rückblick”, eine Hommage an Käthe Kollwitz brachte ihm 1982 den künstlerischen Durchbruch. Der Schauspieler Ben Kisley, der gerade durch den Film “Ghandi” von Richard Attenborough Weltruhm erlangt hatte, entdeckte AMICI und übernahm die Schirmherrschaft der Compagnie. In Folge dessen wurde auch der eminente Londoner Tanzkritiker Clement Crisp auf die Gruppe aufmerksam. “Amici affirms life, creativity and the power of compassion”, schrieb er in der Financial Times.
Der “Community Artist”
Bereits in den 1970er Jahren hatte die Künstlerin Gina Levete in London eine Agentur gegründet, die Künstler*innen mit Einrichtungen wie Spitäler, Tageszentren, Altersheime, Sozialeinrichtungen oder Justizvollzugsanstalten zusammenbrachte. Wolfgang war ein beliebter Lehrer für alle Altersklassen und bald mit Lehrverpfichtungen ausgebucht.
Als gefeierter Workshop-Leiter und Choreograf war er in Sri Lanka, Japan, Australien, Amerika, Ägypten und Europa tätig. In Sri Lanka, von wo sein Lebenspartner George Beven stammte, schuf er vier Produktionen für die Butterfly Theatre Company mit der Sunera Foundation, die mit Flüchtlingen, behinderten Soldaten, ehemaligen tamilischen Kämpfern und Tsunami-Überlebenden arbeitete.
“Working in community settings one comes across amazing and authentic talent, combined with such purity and honesty - that is the most refreshing and rewarding aspect of the work. The teaching is based on the origins of education, drawing out potential, which requires the creation of a non-threatening environment where each student is respected for their individuality”, schrieb er.
Der Filmemacher Sebastian Heinzel dokumentierte diese Arbeit bei dem integrativen Projekt „Carmina. Es lebe der Unterschied“, initiiert und durchgeführt von der Christopherus Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Laufenmühle in Baden-Württemberg. Wolfgang wurde mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnet, zuletzt 2023 mit der Ehrendoktorwürde der University of Roehampton.
Auch In Österreich war der gebürtige Berliner immer wieder zu Gast, seit Mitte der 1980er Jahren regelmäßig am Orff-Institut an der Universität Mozarteum in Salzburg. 1998 kam er mit seiner Tanzgruppe AMICI nach Wien, wo er das Stück “Hilde”, eine Hommage an seine verehrte Lehrerin, im Odeon zeigte.
Für Wolfgang Stange standen die Menschen, die ihn umgaben, mit denen er arbeitete und lebte, im Mittelpunkt. Er war immer auf der Seite der Unterdrückten und Entrechteten und repräsentierte einen unerschüttlichen Humanismus, den er mit Leidenschaft vermittelte. Und er schrieb: “I would love to teach autocratic figures to see if our humane approach would change their ways. After teaching hardened soldiers and ex-militant combatants and seeing the change in them - maybe there can be a glimmer of hope.”
Seine Fähigkeiten sind heute gefragter denn je. Die ihn auf seinem Weg begleiteten blicken in tiefer Dankbarkeit auf sein Wirken, auch wenn er gleichzeitig in unserem Leben eine schmerzliche Lücke hinterlässt.