Das Alvin Ailey American Dance Theater (AAADT) weihte als erste Kompanie Paris‘ neuen Veranstaltungstempel „La Seine Musicale“ ein. Mit elf Stücken präsentierten sie am amerikanischen Unabhängigkeitstag fast das gesamte Spektrum ihrer diesjährigen Tournee: Lebensgefühl, Religion, hartes Training und körperliches Bewusstsein ebenso wie sich zu Musik hochgradig emotional in Bewegung ausdrücken zu können. Demnächst gastiert die Compagnie wieder in München und Frankfurt.
Energie, Kraft, Leidenschaft, Enthusiasmus und Perfektion in Formvollendung – seit fast sechs Jahrzehnten bündelt das Alvin Ailey American Dance Theater diese Palette an Qualitätsmerkmalen. Sie zeichnen eine Kompanie aus, die Begeisterung durch Tanzen entfachen will – von Klassik über Modern Dance bis Hip-Hop. Oberstes Gebot jeder Choreografie – ob alt oder neu, ob humorvoll oder melancholisch – ist der von Gründervater Alvin Ailey überlieferte „Spirit of Dance“. Den Ensemblemitgliedern bedeutet er alles.
Der überlange Auftaktabend fand in Paris statt und weihte das brandneue, am westlichen Stadtrand gelegene Veranstaltungszentrum „La Seine Musicale“ szenisch ein. Nähert man sich dem imposanten Baukomplex des Architekten Shigeru Ban, liegt er in Beton gefasst wie ein Luxusdampfer mit gläserner Kuppel an der Seine. Innen jedoch reduziert die Hallendimension mit einem riesig-flachen Parkett die Anzahl guter Sitze, von denen aus man freien Blick hat auf Körper und Füße der raubtiergleich-athletischen, die Bühne mal rhythmisch-eruptiv, mal geschmeidig-elegant beherrschenden Protagonisten. Trost für die Münchner, die im Deutschen Theater lediglich ein Ausschnitt von vier Beiträgen erwartet, sind zwei noch nie in Deutschland gezeigte Choreografien – und die viel bessere Sicht!
Für „Four Corners“ von 2013 erweckt der gebürtige Brooklyner Ronald K. Brown eine mystische Vision zum Leben: Vier Engel halten an den vier Ecken der Welt die vier Winde fest. Das erinnert an José Limóns „The Moor’s Pavane“, entwickelt sich – eng verwoben mit dem Song „Lamentations“ von Carl Hancock Rux – im Raum aber schwingender und abstrakter. Passend für eine Formation, die wenig auf die Wirkung von opulentem Setdesign gibt und stattdessen unablässig nur mit Kostümen und Requisiten im Gepäck unterwegs ist.
In „Exodus“ von Rennie Harris wirken die Tänzer anfangs leblos. Zahlreiche Schießereien der Polizei und der Verlust seiner Mutter beschäftigten den in Philadelphia aufgewachsen Choreografen vor der Uraufführung 2015. Dann steigert sich sein Stück zu einer Feier des Lebens. Zu Gospel und House Music groovend verschmilzt Poesie mit Hip-Hop. Ignoranz wird mit Rap und Bequemlichkeit mit fetzigen Schrittkombinationen aus dem Streetdance-Vokabular bekämpft.
Längst nicht mehr alle Mitwirkenden des AAADT sind dunkelhäutig. Das Repertoire war niemals auf „schwarzen Tanz“ und „schwarze Musik“ begrenzt. Mitreißender Erlebniswert zählt – für das Publikum genauso wie für die Crew auf der Bühne. Negatives Feedback gab es, so ist zu hören, noch nie. Und die Bandbreite an Stilen ging schon zu Aileys Lebzeiten über dessen choreografische Handschrift und eigene, oft von Blues, Spirituals und Gospels inspirierte Arbeiten hinaus. Ihren legendären Nimbus verdankt die außergewöhnliche New Yorker Truppe dennoch dem afroamerikanischen Erbe ihres 1931 in Texas geborenen Gründers. Vor allem in den frühen seiner 79 Ballette verarbeitete er Erinnerungen an seine ländliche, von Rassismus und Wirtschaftskrisen geprägte Herkunft.
„Revelations“, Aileys 1960 uraufgeführtes Schlüsselwerk, schöpft aus der Südstaatentradition der Schwarzen. In atmosphärischen Bildern wird thematisiert, wie der Glaube die Menschen durch schwere Zeiten trägt und das Flehen der Sklaven um Freiheit veranschaulicht. Auf eine Taufe am Fluss folgt zu „Rocka my soul in the bosom of Abraham“ der Kirchgang, mit heiteren Konflikten zwischen den fein herausgeputzten Männern und Frauen. Er gipfelt in einem großen Fest ekstatischer Fröhlichkeit, die neun Tänzerinnen und neun Tänzer barfüßig in den Boden stampfen. Ein nicht tot zu kriegendes Signet- und Meisterwerk, das auch diesmal wieder das Münchner Gastspielprogramm beendet.
Auch nachdem Choreograf Robert Battle 2011 die künstlerische Leitung von Aileys Muse und Nachfolgerin Judith Jamison übernommen hat, wird hier anders als in irgendeiner Kompanie sonst getanzt: ursprünglich, überschäumend und voll positiver Energie. Robert Battle stammt aus Liberty City in Florida, wo Barry Jenkins sein jüngst oscarprämiertes Filmdrama „Moonlight“ drehte. Der Chef steuert diesmal das dreiminütige Solo „Takademe“ (1999) bei. Einen Brillanten virtuoser Cross-Over-Kunst, der – irre schnell und scharf akzentuiert – Rhythmen des indischen Kathak-Tanzes dekonstruiert. Wiederum: zeitlos faszinierend.
A propos Gastspiel:
Ganze sechs bis acht Monate jährlich verbringen die 34 Interpreten des AAADT auf Tournee. Ihr Titel dabei ist „Cultural Ambassador to the World“. Volle Vorstellungen sind wichtig, weil hauptsächlich mit diesen Einnahmen die sozialen Education-Projekte der Alvin Ailey Foundation finanziert werden. Dazu gehören wöchentlich bis zu 80 frei zugängliche Tanzklassen verschiedener Stilrichtungen und Niveaus. Außerdem umfasst die Dachorganisation die seit 1969 bestehende Ailey School sowie das Ailey II. Hier finden schon seit 1974 12 junge Nachwuchstalente ein Engagement. Wer es in die Hauptkompanie schafft, hat das in den USA seltene Glück, einen Ganzjahresvertrag zu bekommen. 2004 bezog die Stiftung das Joan Weill Center for Dance in Manhattan. Es ist mit 12 Studios und einem 275-Plätze-Theater das größte reine Tanzhaus in New York City.
Begonnen hat die Geschichte der Kompanie 1958. Damals veränderte Ailey mit einer Gruppe schwarzer Kollegen schlagartig die Wahrnehmung und Spannbreite des Modern Dance. Er hatte bei Lester Horton (der in Los Angeles als Erster Farbige in sein Ensemble aufnahm), Martha Graham, Hanya Holm und Charles Weidmann studiert. Sein choreografischer, inhaltlich spirituell unterlegter Stilmix sprach ein globales Publikum an. Tanz für Jedermann – aufregend und aufwühlend. Klug konzipiert nach dem Motto: „Locke die Zuschauer erst einmal ins Theater, dann kannst du ihnen anbieten, was du willst. Aber du kannst ihnen nichts zeigen, solange sie draußen bleiben.“
Alvin Ailey American Dance Theater, Deutsches Theater München, 22. bis 27. August; Frankfurt, Alte Oper, 29. August bis 2. September 2017