Mit Bettina Masuch leitet ab dieser Saison eine neue Chefin die künstlerischen Geschicke im Festspielhaus St. Pölten. Auf den ersten Blick ist die Veränderung nicht zu erkennen, wird doch die hochkarätige Tanztradition am Haus nahtlos fortgesetzt. Doch auch wenn Masuch die Linie weiterführt, gibt es in dieser Saison eine Reihe von Nachwuchstalenten zu entdecken.
Ein Ausblick mit Bettina Masuch
Doch erst einmal zu den Highlights, unter denen es es ein Wiedersehen mit Tanzgrößen wie Sidi Larbi Cherkaoui gibt, der die Saison am 7. Oktober mit „Vlaemsch (chez moi)“ eröffnet. Zusammen mit dem bildenden Künstler Hans Op de Beeck, der das Bühnenbild gestaltete, dem Modedesigner Jan-Jan Van Essche und dem Lautenspieler Floris de Rycker und dem Ensemble Ratas del viejo Mundo, erforscht der marokkanisch-flämische Choreograf mit seiner Eastman Company das flämische Erbe aus einer persönlichen Perspektive.
In dieser Produktion sieht Masuch das Thema „Heimat“ exemplarisch verortet. In ihrer Pressekonferenz im April dieses Jahres kam dieser Begriff wiederholt vor. Doch was meint sie damit wirklich? „Heimat“, so Masuch, „ist die emotionale Zugehörigkeit zu einem Ort, zu einer Person, oder auch zu einer bestimmten Zeit. Die Frage von Heimat ist in unserer Zeit eine Herausforderung, weil sie nicht mehr selbstverständlich und eindeutig ist wie eben auch bei Sidi Larbi Cherkaoui.“
Dies trifft auch auf die Biografie von Akram Khan zu. Deshalb ist es besonders spannend, wenn er sich einen Klassiker der Ballettliteratur vornimmt. Der britisch-bengalische Choreograf kehrt diesmal mit dem English National Ballet und seiner gefeierten, raffinierten Version von „Giselle“ ans Festspielhaus zurück (24. und 25. Februar), zu der Vincenzo Lamagna die Musik nach der Originalkomposition von Adolphe Adam kreierte.
Ein weiteres Highlight zu Saisonende bringt eine erste Begegnung mit dem französischen Choreografen und Direktor des Theatre National de Chaillot, Rachid Ouramdane. „Corps extrêmes“ ist „ein Stück über die die Sehnsucht fliegen zu können, eine Hommage an die Errungenschaften und Fähigkeiten des Menschen, aber auch ein Mahnmal über die Verletzlichkeit des Menschen“, fasst Masuch zusammen. Inspiriert durch seine frühere Zusammenarbeit mit dem Akrobatenkollektiv Cie XY, erzählt Ouramdane diesen Traum vom Fliegen mit zehn Performer*innen, inklusive Akrobat*innen und Extremsportler*innen, einer Kletterwand und mit einem Film. (16. Juni)
Ein großes Haus für zeitgenössischen Tanz
Als Hauptanreize für ihren Wechsel nach St. Pölten, nennt Masuch die Größe des Hauses und das Residenzorchester (tanz.at berichtete über die Bestellung). Die ehemalige Leiterin des Tanzhaus NRW in Düsseldorf sieht ihr Programm „als Ergänzung zu dem, was in Wien passiert. Schließlich kommt ein Großteil des Publikums aus Wien, hier eine Konkurrenzsituation aufzubauen wäre wenig sinnvoll“. Vielmehr will Bettina Masuch beide Orte „als Region zusammendenken“. Und kein Tanz-Veranstaltungsort in Wien verfügt während der Saison über ähnliche Bedingungen wie das Festspielhaus St. Pölten. Da ist einerseits die große Bühne, und andererseits der Kleine Saal, der in Zukunft für partizipative und multifunktionale Formate zur Verfügung stehen soll. Das mittlere Format werde hingegen in Wien gut abgedeckt.
Die zwei Probebühnen sollen für Residenzen genützt werden, um das Haus auch in Zukunft „jenseits des Vorstellungs- und Konzertbetriebes mit Leben zu füllen“. Masuch will diese als Proberäume für lokale Künstler*innen anbieten, „eine Einladungsgeste an die Szene in Österreich setzen und die Türe aufmachen. Für mich ist das eine Gelegenheit, neue Künstler kennenzulernen.“ Diese werden im Rahmen eines Open Calls aufgerufen, ihre Projekte zu präsentieren, die dann von einer Jury ausgewählt werden.
Die Dimension des Festspielhaus St. Pölten sei ein Glücksfall, denn es ist „für den zeitgenössischen Tanz nicht selbstverständlich auf großen Bühnen gespielt zu werden.“ Masuch will diese Möglichkeit vor allem auch für die jüngere Generation von Choreograf*innen öffnen. In ihrer ersten Saison zählen dazu: Saïdo Lehlou, der mit sieben B-Boys einerseits der französischen Hip-Hop-Szene einen Tribut zollt und andererseits mit seiner weichen Bewegungssprache Stereotypen der Maskulinität in Frage stellt („Wild Cat“ am 29. Oktober); die Groupe Acrobatique de Tanger unter der Leitung von Maroussia Diaz Verbèke, die knallbunt und mit einer Vielzahl an körperlichen Stilen von Break Dance bis Freestyle-Fußball eine Hymne auf die marokkanische Jugend tanzt („FIQ! / Wach auf!“ am 19. November); oder Oona Doherty aus Belfast, die mit ihren sozialkritischen Stücken starke Statements setzt („Navy Blue“ am 11. November).
Soziale Fragen bestimmen auch die Arbeit von Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso, der als Tänzer mit Alain Platel und Sidi Larbi Cherkaoui gearbeitet hat und nun mit afrikanischen und europäischen Tänzerinnen und dem Musiker Magic Malik „Wakatt / Unsere Zeit“ erforscht (21. Jänner).
„Der Perspektivenwechsel vom eigenen Körper in die Umwelt“, wird in Doris Uhlichs Stück „Sonne“ (22. April) und in „Moby Dick; or, the Whale“ der Performance-Künstlerin Wu Tsang mit dem Zürcher Kammerorchester (15. April) verkörpert. Er manifestiert sich, wenn auch in einem anderen Sinn, in den Arbeiten von Sharon Eyal, bei denen die Gemeinschaft in den Mittelpunkt rückt. Tanzmainz (übrigens die Compagnie, mit der der Wiener Ballettchef Martin Schläpfer seine choreografische Erfolgsgeschichte startete) tanzt das Stück „Soul Chain“ der israelischen Choreografin (15. Oktober).
Ein Orchester im Haus
Der zweite Forte des Festspielhaus St. Pölten ist Möglichkeit der Zusammenarbeit mit dem Tonkünstler-Orchester Niederösterreich. „Auch jüngere Choreograf*innen fangen wieder an sich mit Musik auseinanderzusetzen, und zwar reicht hier das Spektrum von moderner bis klassischer Live-Musik als integraler Bestandteil der Performance. Wir haben dadurch eine lange Perspektive in der Zusammenarbeit und können gemeinsam Projekte entwickeln“, sagt Masuch und plant in diesem Sinne eine Werkstatt, in dem junge Choreograf*innen mit Musiker*innen zusammenarbeiten und Projekte entwickeln können. In dieser Saison hat das noch nicht geklappt, da Masuchs Vorbereitung auf ihre erste Saison von „Lockdown und Home Office geprägt war“ und sie erst spät in der Planung persönliche Gespräche führen konnte.
So gibt es in dieser Saison drei große Projekte mit dem Orchester: Am 3. Dezember „Mozart / Concert Arias“, ein Stück von Anne Teresa Keersmaeker, das ihre Compagnie Rosas 1992 beim Festival d‘Avignon zur Uraufführung brachte und das kürzlich ins Repertoire des Opera Ballet Vlaanderen aufgenommen wurde. Das Ballett von Flandern kommt übrigens am 25. März ein weiteres Mal ins Festspielhaus, mit „Futur Proche“ von Jan Martens, bei dem die Cembalistin Goska Isphording ein breit gefächertes Repertoire aus unterschiedlichen Epochen spielt.
Das belgische Produktionshaus Fabuleus geht in seinem Stück „Electric Life“ den Veränderungen nach, die die flächendeckende Einführung der Elektrizität im frühen letzten Jahrhundert gebracht hat. Die musikalische Vorlage, die vom Tonkünstler-Orchester interpretiert wird, ist Igor Strawinskis „Petruschka“. In dieser Produktion, in der Nachwuchstänzer*innen und Profis gemeinsam auf der Bühne sind, sieht Masuch eine„interessante Aufforderung an junge Menschen, sich auch mit klassischer Musik auseinanderzusetzen und die Brücke in die eigene Zeit und die eigene Lebensrealität zu schlagen.“ (6. Mai)
Die dritte Produktion mit dem Tonkünstlern ist kein Tanz- sondern ein „Gesamtkunstwerk“ von Jóhann Jóhannson mit Musik, Text und einem schwarzweiß Film: „Last and First Man“ am 18. Februar.
Selbstverständlich bieten das TON auch in dieser Saison ein umfangreiches Konzertprogramm, in das Kuratorin Constanze Eiselt mit Gustostückerln aus den Bereichen Pop, Jazz und Weltmusik vielfältig Abwechslung bringt.
Angebote an die Familie – „Fliegen lernen“ von Lottableben und dem Theater Nuu (2019 mit dem STELLA-Darstellender. Kunst.Preis für junges Publikum ausgezeichnet) am 10. November, Polymer DMT von Fang Yun Lo am 18. Februar, Compagnie Non Nova von Phia Ménard am 19. März, sowie Marcos Moraus „Karneval der Tiere“ mit dem Skånes Dansteater am 3. Juni – ergänzen das Performanceprogramm, das von Rahmenveranstaltungen vor und nach den Aufführungen sowie einem lebendigen Community und Outreach-Programm begleitet wird.
Details zum Programm gibt es hier: www.festspielhaus.at