Die berüchtigte Figur des frauenmordenden Ritters Blaubart steht im Mittelpunkt des 2011 am Hessischen Staatstheater Wiesbaden uraufgeführten Balletts von Stephan Thoss. Zu Musik von Henryk Górecki und Philip Glass spürt der vielfach ausgezeichnete deutsche Choreograph unterschiedlichen Motiven des Märchens nach und deckt verborgene Geheimnisse des Menschen Blaubart auf. Nun studiert er „Blaubarts Geheimnis“ mit dem Wiener Staatsballett ein.
„Sehr modern und wild“ findet Kirill Kourlaev, Titelheld der Wiener Premiere, diese choreografische Version des Blaubart-Märchens. Seine Mischung aus modernem und klassischem Idiom, die atemberaubende Schnelligkeit und Dynamik, aber auch die Poesie und Lyrik seiner Ballette machen Stephan Thoss zu einem der erfolgreichsten Choreografen seiner Generation.
Geboren 1965 in Leipzig, erhielt Thoss seine Ausbildung an der Palucca-Schule in Dresden, wo ihn sein Lehrer Patricio Bunster – ein ehemaliger Solist bei Kurt Jooss und später Chef des Nationalballetts in Chile – nachhaltig prägte und ihm in einem choreographischen Zusatz-Studium die Jooss-Leeder-Technik vermittelte.
Nachdem er beim Choreografischen Wettbewerb in Hannover einen Preis gewonnen hatte, wurde er 1992 Haus-Choreograf an der Staatsoper Dresden, wo er als Tänzer engagiert war. 1998 wurde er Ballettdirektor der Bühnen Kiel. Drei Jahre später übernahm er die Leitung des Ballettensembles in Hannover, seit der Spielzeit 2007/2008 ist er in dieser Funktion in Wiesbaden tätig.
Als Gastchoreograf war Stephan Thoss bisher beim Hamburg Ballett unter John Neumeier, dem Stuttgarter Ballett unter Marcia Haydée , dem Bayerischen Staatsballett, dem Balletto di Toscana Florenz, dem Nederlands Dans Theater sowie beim Aalto-Theater Essen tätig. Darüber hinaus erfolgten mit seinem jeweiligen Ensemble Auslandsauftritte in Italien, Frankreich, Kroatien, Finnland, Indonesien, Taiwan, Brasilien, Thailand und die USA. „Blaubarts Geheimnis“ ist seine erste Arbeit in Wien.
Anders als in der ursprünglichen Fassung des Märchens von Charles Perrault, ist Blaubart bei Stephan Thoss kein brutaler Frauenschlächter, der die Leichen der ermordeten Gattinnen sorgsam in einem Zimmer seiner Burg verbirgt. Vielmehr fragt Thoss nach der Dynamik der Beziehung zwischen dem erfahrenen Mann und seiner jungen Braut.
Der Geschichte von Judith und Blaubart stellt Thoss im ersten Teil des Abends Szenen voran, die unterschiedliche Spielarten im grundsätzlichen Verhältnis zwischen Männern und Frauen schildern. Aus diesen Präludien kristallisieren sich schließlich die beiden ProtagonistInnen heraus.
Blaubart (Kirill Kourlaev) und Judith (Alice Firenze) sind bei ihm ein Paar, das einen Weg zueinander sucht. Während Blaubart schon auf eine Reihe von Beziehungen zurückblickt, ist Judiths romantisches Bild von der Liebe noch nicht durch negative Erfahrungen geprägt. Wird es ihr gelingen, die früheren Frauen ihres Mannes, quasi die „Leichen in seinem Keller“ zu akzeptieren? Gelingt es ihm andererseits, die Spuren und Verletzungen zu überwinden, die das Scheitern seiner Beziehungen in seiner Seele hinterlassen haben? Blaubart führt seine Frau durch die unwirkliche Atmosphäre der Zimmer seines Schlosses, er nimmt sie mit auf dem Weg durch das Labyrinth seiner Seele. Er ist bereit, für die gemeinsame Zukunft seine dunklen Rätsel mit ihr zu teilen, aber vor dem letzten Geheimnis schreckt er zurück.
„Thoss ist jemand, der thematische Stoffe gern als Ausgangsbasis nutzt, um sich dann in seiner choreografischen Arbeit ganz und gar dem Tiefenrausch der Musik hinzugeben“, schrieb „Die deutsche Bühne“ nach der Premiere in Wiesbaden. „Die Blaubart-Geschichte dient dabei nur zur Metapher, mittels der Thoss feinsinnig von den Irrungen und Wirrungen der Liebe erzählen kann, von Schuld, Vergangenheitsschmerz und der Kraft zweier Menschen, sich dennoch eine neue, gemeinsame Zukunft zu formen … Am Ende liegen Judith und Blaubart übereinander, vereint – auf dem Rücken. Nach dieser Art von Tanztheater kann man süchtig werden.“
Wiener Staatsballett „Blaubarts Geheimnis“, Premiere am Samstag, 15. Dezember 2012 an der Wiener Volksoper. Weitere Vorstellungen: am 19. Dezember 2012, 17., 29. Jänner, 1. Februar, 10., 20., 24. Juni 2013