Gerät die Kommunikation in einem Ensemble aus dem Takt, tut dies weder den Künstlern noch der öffentlichen Meinung gut. Seit April 2014 schwebt nun schon der Name Igor Zelensky wie das sagenhafte Damoklesschwert über dem Bayerischen Staatsballett. Auf der einen Seite: Noch-Ballettchef Ivan Liška und sein Team, das zum Ende der Spielzeit nach 18 Jahren mächtig stolz auf ein Repertoire großer Diversität zurückblickt.
Wie in nächster Zukunft damit umgegangen werden wird, steht noch in den Sternen. Farewell-Auftritte für die aus der Truppe scheidenden Mitglieder jedoch blieben bei aller Programmplanung ausgeklammert – oder im Wirbel hausinterner Abwicklungsprozesse stecken.
Dabei gäbe es durchaus Veranlassung, beispielsweise im Fall des Ersten Solisten Lukáš Slavický. Nach 17-jähriger Ensemblezugehörigkeit übernimmt der Sohn zweier Solisten ab kommender Spielzeit selbst die Leitung einer Tanzsparte – am Südböhmischen Theater in Budweis. Ein Karrieresprung, sowohl zeitlich als auch altersbedingt perfekt eingefädelt. Zuzana Zahradníková, die gemeinsam mit Slavický nach einer Ausbildung am Prager Konservatorium 1999 nach München kam, wird (ebenso wie Katharina Markowskaja und Léonard Engel) ihr Wissen in Richard Siegals Projekten als Freelancer einbringen und sich darüber hinaus an der Neueinstudierung von Gerhard Bohners „Die Folterungen der Beatrice Cenci“ am Saarländischen Staatstheater beteiligen.
Am anderen Ende des Verhandlungstisches agiert – (nicht nur) für die Öffentlichkeit bisher weitgehend schmallippig und fast unsichtbar – der beruflich noch in Moskau als Ballettchef des Stanislavsky und Nemirovich-Danchenko Theaters verankerte Neue. Offen in die Karten schauen lassen will Zelensky sich nicht. Wobei man nachvollziehen kann, dass der gebürtige Russe – vorerst auf jeden Fall – sein zweites Standbein in der Heimat behält. Und natürlich Tänzer von dort nach München bringt. Die Hintertür zu Halbherzigkeit gepaart mit einem, glaubt man Tänzern, ausgesprochen sowjetisch-autoritären und alleinbestimmenden Führungsstil darf diese Doppelfunktion allerdings nicht sein. Auf dem Spiel steht das künftige Profil des Bayerischen Staatsballetts. Ein solches weiterzuführen und zu entwickeln, ist kein Nebenjob.
Als Liška seinerzeit zum Nachfolger von Konstanze Vernon bestimmt wurde, hatte er als unerfahrener Direktionsanfänger Glück. Er war der Wunschkandidat der Staatsballettgründerin und die lud ihn ein, eine Saison lang gemeinsam den gleitenden Amtswechsel vorzubereiten. Eine Ablöse ohne Aufschrei. Nun aber schwelt in München die Gerüchteküche, anstatt dass Zelensky selbst Klartext spricht. Immerhin stehen seit Ende Mai endlich auch offiziell diejenigen Ensemblemitglieder fest, die weiterhin am Nationaltheater beschäftigt bleiben. Darunter Ivy Amista, Javier Amo, Mia Rudic und Tigran Mikayelyan sowie Séverine Ferrolier und Matej Urban oder Mai Kono, deren bisherige Karriere man von ihren Anfängen an der Münchner Ballett-Akademie mitverfolgen konnte. Auch Luiza Bernardes Bertho und Evgenia Dolmatova bleiben, ebenso wie die vier Demi-Solisten Jonah Cook, Dustin Klein, Erik Murzagaliyev und Adam Zvonař. Außerdem 14 Tänzerinnen und 10 Tänzer aus dem Corps de ballet. Macht insgesamt 37 (versus 29 abgehende) von der alten Crew.
Igor Zelensky wird Zeit brauchen, um in München anzukommen. Auf die Erfahrungen des über Jahre stark in der Leitungsebene engagierten Peter Jolesch, der in Rente geht, kann er dabei nicht mehr zurückgreifen. Als dessen Nachfolger rückt Zoltan Mano Beke aus dem Ensemble auf. Die Riege der Ballettmeister bleibt bis auf eine Ausnahme unangetastet: Yana Serebryakova, ehemalige Mariinsky-Tänzerin und Zelenskys Ehefrau, übernimmt den Posten von Colleen Scott, die ihrem Mann Liška in den (Un-)Ruhestand folgt. Dieser wird sich über sein fortbestehendes Aufgabenfeld innerhalb der Heinz-Bosl-Stiftung verstärkt um die Entwicklung der Junior-Company, das Bayerische Staatsballett II, kümmern. Die Verbundkonstellation und Kooperationen mit den Junioren und der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München (Leitung: Jan Broeckx) sind weitere Baustellen für Zelensky. Darin liegen viele Chancen. Vorausgesetzt, man kommt miteinander klar.
Laut Staatsballett hat Zelensky alle Fristen eingehalten. Dennoch hält er beratungsresistent wohl noch bis zum 25. August (Ende der Sommerpause) an der so charmant von Doris Day gesungenen Filmsong-Devise „Que Sera, Sera“ („Whatever Will Be, Will Be“) fest. Bedauerlich, wird ihm dies doch zunehmend als schlechter Ton, Inkompetenz und diplomatische Verhandlungsunfähigkeit ausgelegt. Dass es intern aufgrund von Umgangsformen, Missverständnissen aufgrund unterschiedlicher Mentalitäten und mangelnder Diskussionsbereitschaft zwischen den Fronten bereits knirschte, machten Lucia Lacarra und Marlon Dino am Mittwoch deutlich, als sie – von Fragen zu Zelenksy und dem Leitungswechsel gelöchert – ihre persönliche Sicht auf die Situation erläuterten. Als international geschätztes Ausnahmepaar des Bayerischen Staatsballetts hatten die beiden ihren Entschluss, nach 14 Jahren die in ihrer Identität auf einen Wandel zusteuernde Kompanie zu verlassen, zum Anlass genommen, die Presse über Hintergründe und eigene Pläne zu informieren.
25 bis 30 Vorstellungen durfte das Paar unter Ivan Liška pro Saison in München tanzen. Dazu kam der Vertrauensbonus, die genauen Termine vor allen anderen zu erhalten, um drum herum trotz Solisten-Normalvertrag unzählige Gast- und Galaauftritte in aller Welt planen und wahrnehmen zu können. Dagegen offerierte Zelensky ihnen bei insgesamt 70 Abenden und einer Aufteilung der Hauptrollen auf zehn Solisten nur mehr 12 Auftritte. Ein absolutes No-go.
Tanz ist eine körperintensive Herzensangelegenheit, die ihre Erfüllung auf der Bühne findet. Sich in die erste Reihe eines Ensembles und an die Weltspitze zu arbeiten, erfordert jahrelange Disziplin, Verausgabung, totale Hingabe bei permanent hartem Training und beständigem Verzicht. Gute Künstler motivieren neue Rollen und Kreationen, die mit bloßer vertraglicher Sicherheit nicht aufzuwiegen sind. Wer es soweit gebracht hat, will – vergleichbar mit der großartigen Power-Ballerina Sylvie Guillem – seine letzte Karriere-Etappe auskosten, nicht zurückrudern. „Genug ist genug“ wirft Partner Dino in den Raum und seine Frau ergänzt: „We are fighters“. Für die kleine Familie bedeutet das, noch öfter die Koffer zu packen. Freie Lücken im Kalender haben Lacarra und Dino schon jetzt kaum.
Das Theater Dortmund hat sie als ständige Gäste mit offenen Armen unter Vertrag genommen und Ballettchef Xin Peng Wang wird mit beiden seinen „Faust II“ kreieren. Premiere ist dieses Jahr am 29. Oktober. Nach ihrer Münchner Zusammenarbeit mit dem zeitgenössischen Choreografen Russell Maliphant freuen sie sich außerdem als Teil seiner in London stationierten Company neue Erfahrungen sammeln und Stilgrenzen einreißen zu können. „Man lernt dabei etwas über sich selbst. Wird ein Tänzer älter, muss er sich verändern und neue Herausforderungen annehmen.“ Lacarra, von der im Nationaltheater das Porträtbild von Robert Longo verbleibt, weiß, wovon sie spricht. Zurück zu ihren Anfängen führt sie eine dritte Schiene: In Madrid, wo die Spanierin an der Schule von Victor Ullate studierte, ist Beethovens „La Pastorale“ geplant. Das tröstet und erleichtert den Abschied von einem Chef, der momentan mehr Unsicherheit denn Vertrauen verbreitet.