Die Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München ist eine der wichtigen hiesigen Institutionen des klassischen Tanzes – in einem Bereich also, in dem der Dachverband Tanz Deutschland vor allem vorzuweisen hat: Defizite. Gemeinsam, dennoch, luden Akademie und Verband jüngst zu einem zweitägigen Symposium zur professionellen, klassischen „Tanzausbildung im Wandel“. Der Pressemitteilung zum Abschluss zufolge war’s „ein Signal an die gesamte Tanzwelt“. Tatsächlich? Und welches Signal wurde da eigentlich ausgesandt?
Die Diskussion um Methoden, Missbrauch und Macht im Tanz und in der Tanzausbildung vermittelt den Eindruck, der klassische Tanz, und nur er, habe ein tiefgreifendes Problem, und dessen Symptome würden zurzeit in den einschlägigen Ausbildungsstätten sichtbar: Die Ballettakademie der Wiener Staatsoper, die Staatliche Ballettschule Berlin, die Tanz-Akademie Zürich. Der Dachverband Tanz Deutschland (Anmerkung zur Transparenz: in dem der Autor bis 2018 mehrere Jahre lang in Arbeitsgruppen und im Vorstand tätig war) ist diesem Eindruck grundsätzlich eher gewogen als abgeneigt und ungeachtet seines Anspruchs, über ästhetische Vorlieben hinweg für die Gesamtheit des Tanzes in Deutschland zu sprechen: Für manche im Dachverband ist alles „Klassische“ per se des Teufels.
Zwar gehören dem Dachverband auch Personen und Institute des klassischen Tanzschaffens an. Doch Genese, Struktur, Arbeitsprogramm, Projekte, innere Repräsentanz, öffentliche Darstellung und Personal des Verbandes weisen ihn als eine Lobbyorganisation zur Förderung vor allem des nicht-klassischen Tanzschaffens aus – und den „Dachverbands“-Titel als ein Beispiel eher für nutzbringende Selbstdarstellung als für Kongruenz zwischen Schein und Sein.
Anti-klassisch gepolter Dachverband
Die „Polung“ des Dachverbandes und seiner Handlungsebene in tanzklassischen Fragen lässt sich auch daran ablesen, welche Personen er (nicht) in das Leitungsteam des Münchner Symposiums entsandte. Nämlich nicht etwa Expertinnen und Experten des Fachgebietes – von denen innerhalb des Verbandes offenbar nicht einmal alle entsprechend angefragt wurden –, sondern mit Michael Freundt und Claudia Feest den Geschäftsführer des Verbandes und ein, bis 2021, langjähriges Vorstandsmitglied, die beide ausgezeichnete Kenner und Netzwerker sind – allerdings des freien und ausdrücklich nicht des klassischen Tanzschaffens in Deutschland.
Freundt und Feest konzipierten das Symposium zusammen mit vier Personen der Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater München (HMTM): Die Theaterwissenschaftlerin und Dozentin für Tanzgeschichte Anna Beke, der Leiter der Münchner Akademie Prof. Jan Broeckx, deren Dozent David Russo sowie der HMTM-Professor für Elementare Musikpädagogik und Beauftragte der Hochschulleitung für die Ballett-Akademie Prof. Andrea Sangiorgio. Gemeinsam schufen sie ein eng getaktetes Programm aus teils parallel stattfindenden Workshops, Lectures, Interviews und Gesprächsrunden zu vier Themenkomplexen: Physische und psychische Gesundheit von Tänzerinnen und Tänzern, Exzellenz und Wettbewerb, Diversität und Ethik sowie Netzwerk, Austausch und Reflexion.
Programmpunkte als Ersatzhandlung
Was die Gesprächsformate des Symposiums betrifft, so boten sie für keines der Themen ausreichend Zeit, kaum ein Aspekt wurde in Tiefe und Breite erörtert, sondern bestenfalls schlaglichtartig beleuchtet. Das lag auch an Programmpunkten ohne Nutzwert im Sinne der Veranstaltung, die lediglich Ersatzhandlung waren, Selbstbespiegelung oder Bauchpinselei.
So wurde, beispielsweise, jenseits aller Relevanz für die Themen des Symposiums, die deutsche „Ausbildungskonferenz Tanz“ vorgestellt, ein seit 2006 bestehendes Gebilde aus den zehn staatlichen Ausbildungsstätten für Tanz und Tanzpädagogik Deutschlands, das allerdings weniger durch seine (gemeinsame) Arbeit als durch Fördergelder des Bundes am Leben erhalten wird. Die (seit Jahren) offenkundige Dysfunktionalität der „Konferenz“ wurde dabei in München gerade dadurch sichtbar, dass sie nicht Mitveranstalterin des Symposiums war – dessen Themen schließlich von A bis Z „ihre“ Themen sind beziehungsweise sein müssten. Ebenso vorgestellt wurde, ohne Impulse für das Symposium zu liefern, die noch junge Ethik-Kommission des Dachverbandes Tanz: Ein papierener Vortrag ihrer Aufgaben und Ziele, der als papierene Handreichung vollauf genügt hätte. Und Prof. Dr. Claudia Jeschkes Abriss ihrer Forschung zum tanzpädagogischen Gehalt der Aufzeichnungen von (und Illustrationen zu) Blasis, Adice, Saint-Léon oder Cecchetti war zwar hochinteressant – hatte aber lediglich in der Person der Dozentin einen Bezug zur Biografie einer der Kuratorinnen des Symposiums (Anna Beke studierte bei Dr. Jeschke) und keinen zu dessen Themen.
170 Personen sollen teilgenommen haben, vor Ort und online, wobei das vor Ort überschaubare Publikum (sofern nicht Studierende der Münchner Akademie die Reihen füllten) eine umso höhere Online-Beteiligung nahelegt. 50 der 170 Personen waren referierend oder moderierend dabei, ungefähr zu einer Hälfte (von der wiederum die meisten der Münchner Akademie angehörten) leibhaftig in den Münchner Studios, zur anderen per Bild- und Tonübertragung aus ihren Büros.
Die gesamte Tanzwelt?
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer stammten, laut Pressemitteilung, aus über zehn „verschiedenen“ Ländern – und zwar so verschieden wie Deutschland, Österreich und die Schweiz (woher die Mehrzahl der referierenden und moderierenden Frauen und Männer kam), und so verschieden wie Frankreich, Italien, die Niederlande, Großbritannien, Finnland und Kanada. Somit fehlte lediglich der gesamte östliche und südöstliche Teil Europas, ganz Asien, Australien und das für den klassischen Tanz nicht eben unbedeutende dominierende Land Nordamerikas (von Kanada abgesehen also der gesamte asiatisch-pazifische Raum), ganz Afrika, ganz Mittel- und ganz Südamerika. Vermutlich haben sich die Macherinnen und Macher des Symposiums also noch Wochen intensiver Nach- und Öffentlichkeitsarbeit vorgenommen, damit das Signal ihres Symposiums tatsächlich die gesamte Tanzwelt erreicht.
Wenn’s denn ein Signal gewesen wäre, das von diesem Symposium ausging! Eher waren’s zwei grundverschiedene – so verschieden (hier hat das Wort Berechtigung) wie die Veranstalter des Symposiums.
Das Signal der Münchner Akademie
Die Münchner Akademie verpflichtete sich vor zwei Jahren auf ein pädagogisches Konzept, eine Ethik ihres Tuns, das die Debatten und Erfordernisse der Zeit aufnimmt und den Beweis erbringen soll, dass in der professionellen klassischen Tanzausbildung die Förderung von Exzellenz nicht nur einhergehen muss, sondern auch einhergehen kann mit Lehrmethoden, die die physische und psychische Gesundheit der werdenden Tänzerinnen und Tänzer erhalten und fördern, und mit wertschätzenden Haltungen und Handlungen der Lehrpersonen gegenüber Studierenden.
Dieses Konzept einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen und coram publico eine erste Bilanz zu ziehen, war für die Münchner Akademie Anlass, zu diesem Austausch über „Tanzausbildung im Wandel“ einzuladen – und war zugleich ihr „Wir haben verstanden“-Signal an die Tanz-Öffentlichkeit. Die Akademie trug zum Programm der zwei Tage denn auch insbesondere praktische Einblicke in ihr Konzept und ihre Ausbildungsarbeit bei. In den Diskussionsrunden wurde allerdings auch deutlich, dass man in München zwar auf dem Weg, aber wohl noch nicht am Ziel ist.
Stumme Studierende
Friedrich Pohl, Mitbegründer der Vereinigung „dancersconnect“, kritisierte etwa, dass die Einbindung der Studierenden „auf Augenhöhe“ zwar im pädagogischen Konzept der Münchner Akademie prominent verankert, deren praktische Umsetzung jedoch nicht entsprechend erkennbar sei (worauf das Publikum applaudierte, inklusive der – wenigen – in diesem Moment anwesenden Studierenden der Münchner Akademie). Bemerkenswert auch, dass sich die Akademie allein durch Wortbeiträge der Lehrenden re- und präsentierte, aber Studierende der Akademie dem Symposium nur stumm beiwohnten. Man redet über sich, aber – vor Publikum – lieber nicht mit den Studierenden? Sind die jungen Leute, die sich immerhin auf einen Bachelor-Abschluss vorbereiten, des Denkens und Sprechens nicht fähig? Hat man gar Furcht vor dem, was sie sagen könnten?
Und Jan Broeckx, den beim Gedanken an Ballettwettbewerbe für junge Tänzerinnen und Tänzer offenbar ein tiefes Unbehagen beschleicht, richtete seine skeptischen Fragen ausgerechnet an Gewinner und Gewinnerinnen solcher Wettbewerbe wie Violetta Keller, Julian MacKay, Bianca Teixeira, Shale Wagman und Stanislaw Wegrzyn. Kein Wunder, dass sie nichts Erhellendes dazu sagen konnten, was es für Tanzkünstler in Ausbildung bedeuten mag, von ihrer Schule nicht ausgewählt und zu einem Wettbewerb entsandt zu werden oder dort nicht zu „gewinnen“ – während freilich die im Publikum sitzenden Studierenden der Akademie, die genau dazu hätten Auskunft geben können, ungefragt blieben.
„Schräge“ Momente
Ein „schräger“ Moment: Es geht um Augenhöhe, doch „vorne“ sitzen und sprechen die, die „gewonnen“ und es schon ins Engagement geschafft haben, während die, um die es tatsächlich geht, lediglich zusehen und zuhören dürfen.
Ob „alte“ Denkweisen und Methoden der professionellen Tanzausbildung an der Münchner Akademie vielleicht noch stärker fortwirken als man es sich dort erhofft und wünscht? Auch Anna Beke, die, immerhin als Tanzhistorikerin, offenbar allen Ernstes um die Zukunft der Kunstform Ballett fürchtet, wenn nicht „jetzt“ „etwas“ geschieht, sorgte für einen ähnlich seltsamen Moment im Gespräch mit Martin Schläpfer.
Es sollte um „Einblicke in die Neuausrichtung der Wiener Ballettakademie gehen“, eine Stunde lang. Eine der Fragen der Moderatorin war dann tatsächlich diesem Thema gewidmet. In Erinnerung bleibt aber vor allem Bekes Vorstellung der Person und Befragung ihres Gesprächspartners, gespickt mit Zitaten, Superlativen, Hymnen und Ehrerbietung, als sei Ballett noch immer eine höfische Kunst und Martin Schläpfer auf dem Weg, zur Ehre der Tanz-Altäre erhoben zu werden, mindestens (was nur durch die Erhebung von Mavis Staines zur Welt-Revolutionärin des Tanzschaffens übertroffen wurde, nachzulesen in den biografischen Hinweisen zu den Symposiumsgästen).
Monolog statt Moderation
Überhaupt die Moderationen dieses Symposiums! Viele frönten statt der Macht des Wortes der Macht des Wort-Habens. Da war „Moderation“ und „Monolog“ oft eins, geriet häufig in Zeitnot und arbeitete Stichworte ab statt Themen aufzugreifen, weiterzugeben und weiterzuspinnen – sprich: ein Gespräch zu organisieren; da erging frau (ja, frau) sich in dröge vorgelesenen „Vorstellungen“ der Gesprächsgäste und langatmigen „Einführungen“ auf Kosten der Gesprächszeit anderer (Rekord: 19 von 60 Minuten, bis eine erste Frage an den ersten von fünf Gesprächsgästen gestellt war); da war immer wieder dem Hinweis zu lauschen, dass Moderatorin und Gast sich „schon lange kennen“, oft und überflüssigerweise gefolgt von Details dazu, woher, weshalb und wie gut der Gast der Moderatorin bekannt und wie überaus dankbar letztere sei, den Gast überhaupt je kennengelernt zu haben; und da gelang es Dr. Mariama Diagne, Vorsitzende der Gesellschaft für Tanzforschung, ihre Moderation mit einem langen, langen Vortrag zu beginnen und dabei kaum einen der Sätze, in die sie ihre Gedanken goss, ohne eine Unzahl „Ähms“ und „Ehms“ und ein, zwei, drei Neuanfänge zu sprechen.
Sprechverbot für Nicht-Opfer
Ein Sprechverbot, das die Kuratorin und Moderatorin Claudia Feest durchzusetzen versuchte, war dann der Moment, der dem anderen Signal dieses Symposiums, dem des Dachverbandes Tanz, einen besonders klaren Ausdruck verlieh. Es ging um Diversität und Rassismus, und ein Gast im Publikum, zum Sprechen eingeladen, wagte es, den Schilderungen der Gesprächsrunde eine eigene Erfahrung anzufügen – deren Aussage der Moderatorin jedoch nicht ins Konzept passte.
Der Gast, der sich offenbar selbst einer Menschengruppe zurechnete, die hierzulande aufgrund von (dunklerer) Hautfarbe und („südländischer“) Anmutung Opfer von Rassismus werden kann, wagte doch tatsächlich auszusprechen, er habe in vielen Jahren als Tänzer in Dresden nichts von dem erlebt, was in der Diskussionsrunde besprochen worden sei, sondern stets Respekt und Kollegialität. Das nahm die Moderatorin zum Anlass, dem Sprechenden das Wort verbieten und das Mikrofon entziehen zu wollen. Claudia Feest: Hier werde über Rassismus gesprochen. Was in der Sicht der Moderatorin offenbar bedeutet, dass Erfahrungsberichte von Nicht-Rassismus unterm Teppich zu bleiben haben.
In derselben Gesprächsrunde stellte Bettina Wagner-Bergelt die – abstruse – Behauptung auf, hinsichtlich Diversität und Rassismus sei irrelevant, dass es im klassischen Tanz immer wieder Menschen anderer als „weißer“ Hautfarbe gegeben habe (und gibt), die Solistinnen und Solisten (geworden) sind. Es gehe nicht um Prinzenrollen. Es gehe darum, dass Menschen jeglicher Hautfarbe und Ethnie jeglichen Part einer klassischen Choreographie müssten tanzen dürfen.
Pippi-Langstrumpf-Sicht der Welt
So richtig das Postulat Wagner-Bergelts, so falsch ihre einleitende Behauptung, die eine Pippi-Langstrumpf-Sicht der Welt des Tanzes offenbart, die man der langjährigen Stellvertretenden Direktorin des Bayerischen Staatsballetts nicht zugetraut hätte: Als fielen Solistinnen und Solisten vom Himmel, und als durchliefen Tanzkünstlerinnen und -künstler nicht Entwicklungsstufen. Die indes führen stets von „jedem Part“ zu den tragenden Rollen, nie umgekehrt, nie anders. Freilich nicht für alle – weshalb aber Solistinnen und Solisten, die nicht dem ethnischen Mehrheitsbild eines Ensembles entsprechen, für mehr als sich selbst stehen und gerade eben für das, was Wagner-Bergelt forderte.
Die verquere „Argumentation“ Bettina Wagner-Bergelts (die viele Jahre lang auch Mitglied des Vorstands des Dachverbandes Tanz war) ergänzte immerhin passgenau die Sicht auf das klassische Tanzschaffen, die vor, während und nach dem Symposium in Einlassungen seitens des Dachverbades aufschien: Der klassische Tanz, und nur er, hat ein tiefgreifendes Problem, das gerade, endlich, sichtbar wird – und was nicht in dieses Bild passt, wurde verschwiegen oder zurechtgebogen.
Verschwiegen und zurechtgebogen
So war die Rede von „den“ Vorwürfen, derer „immer mehr“ „ans Licht“ kämen, und von „den“ Skandalen in Wien, Berlin, Zürich, Bern und Basel, wurde unter Verweis auf diese „Fälle“ dem klassischen Tanz ein „systemisches Problem“ bescheinigt, die Analogie zu „Me too!“ hergestellt und eine „emanzipatorische Bewegung“ gefordert: Jedes zur Skandalisierung geeignete Stichwort fiel, das zurzeit die Medien beherrscht, und es wurde nicht etwa vorsichtig ausgesprochen, nicht etwa mit einem Vorbehalt der Prüfung versehen, sondern im Tonfall des erwiesenen und bewiesenen Fakts, der Vorwürfe zu Verurteilungen macht und auch angebliche Skandale zu tatsächlichen.
Und es war zugleich nicht die Rede davon, dass das „Bern Ballett“ sich zwar „Ballett“ nennt, aber ein explizit zeitgenössisches Tanzensemble ist, das mit klassischem Tanzschaffen wenig bis nichts zu tun hat; nichtdavon, dass die (in der Tat klassisch orientierte) Ballettschule des Theaters Basel in enger personeller Verbindung zum Wirkungs- und Verantwortungsbereich eines Modern Dance-Ensembles (welches das Basler „Ballett“ seit 2001 unter Richard Wherlock ist) gegründet und aufgebaut wurde; während der Name Jan Fabre gar nicht erst fiel, der für einen der wenigen tatsächlich gerichtsfest abgeschlossenen „Me too!“-Fälle im Tanz steht – im zeitgenössischen Tanz, wohlgemerkt; und verschwiegen wurde, dass in jüngerer Zeit in Lausanne, Genf und im ebenfalls schweizerischen Sion vier dem zeitgenössischen und experimentellen Tanzschaffen zugehörige Ensembles und Schulen von Vorwürfen des Machtmissbrauchs und sexueller Übergriffe betroffen waren.
Parteiische Dachverbands-Beiträge
So parteiisch waren die Dachverbands-Beiträge zum Münchner Symposium, dass der Tanzklassik zugeneigte Menschen im Vor-Ort-Publikum die Absicht dahinter meinten geradezu mit Händen greifen zu können: Hier sollte eine bestimmte Kunstform gerichtet werden als vermeintlicher Hort Schwarzer Pädagogik und des Schlechten im Menschen an sich.
Einfache Erklärungen und Dämonisierungen sind indes auch in der Kunst dem Populismus näher als seriöser Analyse. Der Sache, um die es geht, ist damit nicht gedient. Es ist nun einmal nicht der klassische Tanz, der sich zeitgemäße ethische Konzepte und neue Verhaltenskodizes geben muss, sondern der Tanz als Ganzes - wie so viele Bereiche in Gesellschaft, Kunst, Sport, Wissenschaft und Politik (von der Religion zu schweigen), die sich insbesondere in „westlichen“ Ländern in der Folge von „Me too!“ rechtfertigen und Widersprüchen stellen müssen, die sich zwischen ihrem äußeren Bild und ihrer inneren Wahrheit zeigen.
Rassismus, Diskriminierung und Machtmissbrauch sind nicht Teil der Ästhetik und DNA einer bestimmten Kunstform, nicht einmal einer einzelnen Kunstrichtung als solche. Sie sind, traurig genug, Teil des Menschen, überall, zu allen Zeiten, in allen Ethnien. Wer ihre Überwindung anstrebt, indem er sie unterhalb dieser Erkenntnishöhe instrumentalisiert, handelt so unethisch wie das, was er oder sie zu bekämpfen vorgibt, ist.
Jetzt: „Arbeit an der Ästhetik“
Es steht indes zu befürchten, dass der unterschwellige Feldzug des Dachverbandes Tanz Deutschland gegen das klassische Tanzschaffen weitergeht. Während des Symposiums forderte Bettina Wagner-Bergelt, der klassische Tanz müsse sich von „classical bodies“ ab- und „nicht-normierten“ Körpern zuwenden und verband dies mit der als Vorwurf gemeinten Anmerkung, „sogar Schläpfer“ habe „klassische Körper“ in seinem Ensemble. In einem eigenen Fazit zum Schluss des Symposiums (zu dem die Münchner Hochschule auf Nachfrage nicht Stellung nehmen mochte) kündigt der Dachverband dann an, dass nach dem Symposium die „Arbeit“ am „Thema Ästhetik“ (neben der Arbeit an den Themen Ethik, Diversität, Gesundheit und Prävention) erst „richtig“ losgehe.
Gebeten um Beispiele, was mit „Arbeit an der Ästhetik“ gemeint sei, war der Dachverband nicht willens, Auskunft zu geben. Aus den Antworten der Symposiums-Kuratorin Claudia Feest wurde immerhin klar, dass man insbesondere die Arbeit an der Ästhetik des klassischen Tanzes meint. Angesichts der unterschiedlichen ästhetischen Positionen im Dachverband sei aber eine „eigene Veranstaltung“ erforderlich, um die „ästhetischen Fragestellungen“ zu klären. Und irgendwann in der Zukunft würden dann auch weitere Aspekte betrachtet wie soziale und Bildungsgerechtigkeit (die beim Symposium selbst nicht erwähnt und erst auf eine Nachfrage hin als – auch – relevant in Bezug auf Diversität und Diskriminierung bezeichnet wurden).
Leise Hoffnung
In der Aussicht auf eine „eigene Veranstaltung“ zu ästhetischen Fragen liegt immerhin eine leise Hoffnung. Nämlich die, dass der Dachverband, der sich seit seiner Gründung 2006 noch nie in ästhetischen Fragen positionierte, damit eine Absicht formuliert hat, der so bald keine Taten folgen werden – schon aus Gründen des Selbsterhalts. Denn eine Lobby für den künstlerischen Tanz jeglicher Couleur, aus der eine Ästhetik-Polizei für einen Teil des Tanzschaffens hervorginge, stünde wohl eher über kurz als über lang vor der Implosion.
München, Ballett-Akademie der Hochschule für Musik und Theater (HMTM), 25./26. November 2022: Symposium „Tanzausbildung im Wandel. Gegenwart. Realität. Zukunft. Visionen“, Veranstalter: HMTM und Dachverband Tanz Deutschland. www.tanzausbildung-im-wandel.de