Für das klassische Ballett zählen Flexibilität und Beweglichkeit zu den wichtigsten Voraussetzungen. Eine überdurchschnittliche Beweglichkeit der Gelenke und Bänder über das normale Maß hinaus, wird als Hypermobilität (HM) bezeichnet. Diese wird somit aus ästhetischen Gründen im klassischen Ballett gefordert und bevorzugt. Tänzer mit HM können dabei beschwerdefrei sein und so Vorteile aus ihrer außerordentlichen Beweglichkeit ziehen. Jedoch birgt die HM nicht nur Vorteile, sondern auch gesundheitliche Risiken, auf die nicht genügend Rücksicht genommen wird.
Die Diagnose einer HM wird mittels den Testkriterien nach Beighton gestellt. Diese basieren auf Messungen der Dehnbarkeit bzw. der Gelenke. Wenn mindestens 5 von maximal 9 Punkten der Testkriterien erfüllt sind, liegt eine HM vor.
Interessant ist die höhere Prävalenz von HM bei Ballettstudenten, im Vergleich zu Personen ohne professionelle Tanzausbildung. Außerdem nimmt die HM innerhalb des hierarchischen Systems der Ballettwelt ab und kommt bei Ballettstudenten häufiger vor (9,5 %), als bei Solisten (4,3 %).
Das Auftreten einer HM in Verbindung mit Gelenkschmerzen und Gelenkverrenkungen wird als Hypermobilitätssyndrom (HMS) bezeichnet. Neben Gelenkschmerzen werden auch gehäuft Verletzungen, das Auftreten von Leistenbrüchen und eine besonders elastische Haut beobachtet. Ein HMS kann außerdem ein Hinweis auf eine angeborene Bindegewebserkrankung sein. Zur Bewertung eines HMS werden die Brighton-Kriterien herangezogen.
Bis jetzt wurden nur Studien mit Teilnehmern aus dem klassischen Ballett durchgeführt, nicht jedoch mit Tänzern aus dem zeitgenössischem Bereich. In meiner Bachelorarbeit stelle ich die Ergebnisse meiner Pilotstudie wie folgt vor: Die Gesamtstichprobe umfasste 10 Tanzstudierende (9/10 weiblich) der Konservatorium Wien Privatuniversität. Das Alter der Probanden lag zwischen 14 und 22 Jahren. Alle Untersuchungen erfolgten jeweils nach dem Training, sodass die Gelenke, Muskeln und Bänder der Teilnehmer bereits aufgewärmt waren und mangelndes Aufwärmen somit keinen Einfluss auf die Testergebnisse hatte. Die Tanzerfahrung der Studienteilnehmer lag zwischen 10 und 16 Jahren, davon in klassischem Ballett durchschnittlich 11 Jahre. Im Schnitt lag das Ausmaß des wöchentlichen Tanzunterrichts zwischen 8 bis 22 Stunden pro Woche.
Die untersuchte Anzahl von 10 Personen lässt eine aussagekräftige statistische Auswertung nicht zu. Jedoch zeigen diese Daten in Grundzügen ein Verhalten wie in anderen Studien. Meinen Auswertungen nach sind 4 von 10 Tänzern hypermobil, 2 davon haben ein HMS. Multiple Gelenkschmerzen und Sehnenentzündungen wurden am häufigsten angegeben. Interessant ist, dass die Person mit dem höchsten Beighton Score kein HMS aufweist.
Auch mit zunehmender Balletterfahrung (über 10 Jahren) nimmt die Häufigkeit einer HM in meinem Kollektiv nicht zwangsläufig zu. Diese Beobachtung wird durch Ergebnisse der Literatur (siehe unten) unterstützt, die besagen, dass Balletttraining keine HM fördert.
Durch die HM neigen Tänzer dazu, mit überstreckten Gelenken zu stehen oder sich auszuruhen und müssen zusätzliche Muskelkraft einsetzen um eine Stabilität der Gelenke herzustellen. Dies führt zu einer chronischen Überlastung und Schmerzen. Eine dadurch bedingte vorzeitige Alterung des Gelenkes kann bei einer ausgeprägten Form zu einer vorzeitigen Berufsaufgabe führen.
Man könnte davon ausgehen, dass das klassische Balletttraining eine HM fördert und für eine Überdehnung der Gelenke verantwortlich ist. Grahame u.a. haben zwar eine erhöhte Häufigkeit der HM bei Tänzern beobachtet, deren Ansicht nach, wird eine HM jedoch nicht durch das Balletttraining hervorgerufen. Offensichtlich werden hypermobile Personen mit außerordentlicher Beweglichkeit als vielversprechende Tänzer angesehen und sind deshalb häufiger in der Ballettwelt vertreten.
Tänzer mit HM oder dem HMS sind jedoch anfälliger auf trainingsbedingte Verletzungen die zur Heilung einen längeren Trainingsstopp erfordern. Aus diesem Grund selektionieren sich für wichtige Positionen in der Regel Tänzer ohne HM oder HMS. Neueste Forschungsergebnisse berichten außerdem von einem Zusammenhang zwischen der HM und neurophysiologischen Defiziten wie beispielsweise eine erhöhte Schmerzwahrnehmung. Dabei geben im wahrsten Sinne des Wortes „weiche“ Menschen schneller auf, da diese in einigen Fällen neben HM auch an Angststörungen und Depressionen leiden.
Eine HM bietet jedoch einige Vorteile. Beispielsweise hilft sie dem Tänzer sich den steigenden technischen Anforderungen besser anzupassen. Speziell im Klassischen Ballett spielt die Ästhetik eine wichtige Rolle, wobei Choreographien Bewegungen verlangen, die ohne einen gewissen Grad an HM nicht auszuführen wären. Die HM bietet außerdem einen Vorteil bei Selektionsverfahren in der Ballettwelt. Im Bereich der Tanzpädagogik haben hypermobile Tänzer den Vorteil physisch und ästhetisch den hohen Ansprüchen weiterhin ohne intensives Training zu entsprechen. Der weniger riskante Tanzunterricht schützt hypermobile Tanzpädagogen vor Verletzungen die sonst bei intensiven Proben, ständigem Training und häufigen Vorstellungen als aktiver Tänzer häufiger auftreten.
Für mich hat sich der Eindruck bestätigt, dass eine muskulär gestützte HM bis zu einem gewissen Grad wünschenswert bzw. von Vorteil ist. Eine HM ist jedoch keine zwingend notwendige Voraussetzung für den erfolgreichen Tanzberuf. Die HM und das HMS sind aufgrund des erhöhten Verletzungsrisikos und der längeren Regenerationszeit trotz allem keine idealen Voraussetzungen für eine langjährige und erfolgreiche Tanzkarriere. Von HMS betroffene Tänzer können jedoch durch spezielles Training Strategien entwickeln, den Anforderungen ihres Berufes besser zu entsprechen, das erhöhte Verletzungsrisiko zu minimieren und so ein vorzeitiges Ende ihrer Tanzkarriere vermeiden.
Alina Kettenbach
"Hpyermobilität - Nutzen und Schaden im Klassischen Tanz" ist die Abschlussarbeit des Bacherlorstudiums „Zeitgenössischer und Klassischer Tanz“ an der Musik und Kunst Universität Wien, das Alina Kettenbach im Juni 2015 im Alter von 19 Jahren abschloss.
Während ihrer Zeit an der Musik und Kunst Universität tanzte sie unter anderem in Stücken von Choreografen wie William Forsythe und Trisha Brown.
2014 gewann sie durch Mitwirkung in einem Gruppenstück den Fidelio Wettbewerb und ebenso den 1. Preis bei „Flesh Dance“ im Tanzquartier Wien. Nebenbei trat sie auch in der Operettenproduktion „Die Lustige Witwe” auf und war bei Impulstanz 2015 mit Brown, King & Uhlich im Akademietheater zu sehen. Zur Zeit studiert sie Biologie an der Universität Wien.