Am 18. Oktober zeigte das Festspielhaus St. Pölten erstmals in Österreich das von Emanuel Gat choreographierte Stück „Freedom Sonata“ zur Musik Beethovens und Kanye Wests. Das Stück, das anlässlich Gats 30-jährigem Jubiläum als Choreograph entstand und im Juli dieses Jahres beim Festival de Marseille Weltpremiere feierte, befasst sich intensiv mit dem Spannungsfeld Freiheit und Individualität in Bezug zu Gemeinsamkeit und Gruppendynamiken.
Elf Tänzer:innen wirbeln über die Bühne. In fließenden Übergängen mal eng zusammen als große Gruppe, mal jeweils zu zweit oder dritt, dann wieder einzelne Darsteller:innen ganz alleine. Sie drehen sich, springen, rollen sich am Boden, bewegen sich im Takt ihrer ausladenden Bewegungen durch die Luft. Jede:r „macht sein/ihr eigenes Ding“, ehe sie sich alle in synchronen Bodypercussion-Bewegungen oder einander zugewandt, im Kreis wieder finden. Aus der Dynamik ist klar ersichtlich: Trotz Ausbrechens und Solowegen holt einen die Gruppe immer wieder ein, nimmt einen wieder auf, vereinnahmt einen. Manchmal stürzt sich die Gruppe regelrecht auf die einzelnen Tänzer:innen, dann wieder scheint es, als kriechen sie zurück in den Schoß der Gruppe. Unterstützt – im Verlauf des Abends wohl aber eher unterbrochen – wird die Performance durch das Hereinholen, Auflegen und Festkleben langer weißer Bahnen auf der Bühne, bis diese gänzlich damit bedeckt ist. Dies geschieht unter lautem Geschrei, der mit Klebeband und Besen ausgerüsteten Darsteller:innen. So verstärkt sich die Botschaft, dass es Freiheit im gesellschaftlichen Gesamtgefüge geben kann, dies aber nicht absolute Losgelöstheit bedeutet. Vielmehr bedarf es in einer Gruppe, bzw. gar in der Gesellschaft als solcher, der Koordinierung und Zusammenarbeit. Unterstützt wird diese Botschaft etwa mit einer sehr prägnanten Zeile Kanye Wests: „I am one with the people“ heißt es etwa an einer Stelle. Die insgesamt 90-minütige Darbietung wurde mit tosendem Applaus und Standing Ovations belohnt.
Der Abend im Festspielhaus St. Pölten entließ, vor allem ob der tänzerischen Leistung, ein begeistertes Publikum. Dennoch war hinsichtlich der tieferen Botschaft der Performance, bzw. der Wahl der Musik, Verwirrung unter den Gästen festzustellen: Einerseits zu hören sind die harten Beats des US-amerikanischen Rappers Kanye West. Getanzt wird zu seinem siebten Studioalbum The Life of Pablo aus dem Jahr 2016, das in seiner gesamten Länge Teil der Performance ist. Unterbrochen wird es nur einmal durch den zweiten Satz von Ludwig van Beethovens letzter Sonate Nr. 32, komponiert zwischen 1821 und 1822 und gespielt von Mitsuko Uchida, in einer Aufnahme aus dem Jahr 2006. Für Gat verkörpern beide Künstler auf ihre jeweils eigene Art Freiheit: Beethovens Sonate dadurch, dass sie die strenge Ordnung dieser Kompositionsform aufbricht und bereits erste Anklänge des Jazz und Ragtime beinhaltet. Kanye West ist in den Augen Gats einer der wichtigsten, kreativsten und innovativsten Musikkünstler der letzten zwei Jahrzehnte, der extreme Grooves schafft und sie zugleich wieder zerstört. Vor allem die Wahl Kanye Wests, und das gerade durch einen israelischen Choreographen, lässt einen ratlos zurück – denn dass der Sänger in letzter Zeit immer wieder durch eine unter anderem extremistische, rechtsextreme Haltung auffiel, die bis zur Leugnung des Holocaust, der Sklaverei und der Apartheid ging, wird nicht thematisiert. Damit wird das Stück aber der Behandlung eines Kernaspekts des Spannungsfelds von Freiheit und gesellschaftlicher Zugehörigkeit bzw. Ausgrenzung nicht gerecht.
Sehr stimmungsvoll und passend zur Choreografie hingegen ist die eigens von Gat entworfene Lichtshow des Stücks: eine schwarze Bühne, die ohne jegliche Dekoration auskommt, harte Scheinwerfersetzung auf nur bestimmte Teile der Bühne, abwechselnd mit weicherem Licht, etwas Bühnennebel. Gegen Ende ein sehr stimmiges Bild aus schwarz und weiß, mit Schatten – unterstützt durch die enge und knappe, in denselben Farben gehaltene Kleidung der Tänzer:innen.
Insgesamt ein Abend mit eindrucksvollen Tänzer:innen, der jedoch den Blick auf die unterliegenden Fragen der Gesellschaft mangels einer kritischen Auseinandersetzung mit der Wahl eines der Musikkünstler, nicht nachkommt.
Emanuel Gat: „Freedom Sonata“ am 18. Oktober im Festspielhaus St. Pölten