„Die Künste sind bekanntermaßen ein Hauptfeld der Intrige, insbsondere die darstellenden Künste … Sind demnach also Menschen, die sich von berufs wegen diesen Künsten hingeben, besonders anfällig dafür, ‚Täter“ oder ‚Opfer' von Intrigen zu sein“, fragt Ralf Stabel in seinem Buch IM Tänzer. IM steht in diesem Fall für „Inoffizieller Mitarbeiter“, denn der Autor hat ein Stück deutsch-deutscher Geschichte aufgearbeitet. Es geht um das Spitzelwesen des Staatssicherheitsdienstes (Stasi) der DDR, der sich gerne aus den Reihen des künstlerischen, technischen und administrativen Personals InformantInnen anwarb, die über KollegInnen Auskunft gaben. In der DDR galt Kunst als Waffe im Kampf der gesellschaftlichen Systeme und spielte daher eine zentrale Rolle in der ideologischen Propaganda. Themen der Bespitzelung waren: mögliche Fluchtpläne in den Westen, sexuelle Vorlieben, ideologische Einstellungen, aber auch die Einhaltung eines künstlerischen Programms, das dem Regime genehm war. Insgesamt ging es der Staatssicherheit darum, möglichst lückenlose Profile der Staatsbürger anzulegen - informelle MitarbeiterInnen waren in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu finden. Ein gefährliches Spiel, auf das sich die InformantInnen größtenteils „freiwillig“ einließen.
Der Pakt der IM mit der allmächtigen Partei hatte freilich viel weit reichendere Folgen als dies eine gemeine Intrige in einem freien Staat auszulösen imstande ist. Immerhin waren bei der Anwerbung der IM neben ideologischen auch finanzielle Gründe maßgeblich. Nicht nur ehemals Betroffenen - und jeder DDR-Bürger war potenziell ein Subjekt der Bespitzelung - muss es bei der Lektüre kalt über den Rücken laufen.
Stabel hat gründlich recherchiert und das Spitzelwesen und die Tätigkeiten der IM in der Deutschen Staatsoper Berlin und an der Palucca-Schule Dresden dokumentiert sowie die „Karrieren“ der IM-Netzwerker „René“ und „Tom“ verfolgt. Besonders interessant ist das Kapitel über Gret Palucca, der letzten Vertreterin der Moderne in der DDR. Obwohl sie weder Mitglied der NSDAP noch der SED war, gelang es ihr, sich immer mit den Mächtigen zu arrangieren. Geholfen hat ihr dabei eine scheinbar völlig apolitische Haltung und eine mächtige Portion Selbstbewusstsein. Freilich war sie immer ein Subjekt der Bespitzelung, aber ihre diversen Eskapaden (inklusive ihrer Absetzung in den Westen) blieben weitgehend ohne folgen. Es dürfte also wohl auch die apolotische Haltung vieler TänzerInnen dazu beigetragen haben, dass die Stasi in diesem Berufsstand relativ einfaches Spiel hatte.
Stabels Buch ist nicht nur aufgrund seiner differenzierten Haltung gegenüber „Opfern“ und „Tätern“ lesenswert (er nennt die Beteiligten nur mit ihrem Decknamen, die tatsächlichen Personen werden nicht vorgeführt), sondern auch deshalb, weil er einen Einblick in eine bisher weitgehend unbekannt Tanzgeschichte gibt. Diese freilich ist ebenso ideologisch geformt und gefärbt wie das ganze DDR-System - auch darüber hatten die IM zu wachen.
Ralf Stabel: IM "Tänzer"
Erscheinungsjahr: 2008
ISBN: 978-3-7957-0165-9
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