Wie im Expressionismus insgesamt so spielt das Motiv des Tanzes auch im Werk des Malers Ernst Ludwig Kirchner eine wichtige Rolle. Mit dem Thema Tanz hat sich der Künstler so kontinuierlich und intensiv beschäftigt wie mit keinem anderen Sujet. Absolut passend daher der Titel eines neuen, im Hirmer Verlag erschienenen Ausstellungskatalogs zur gleichnamigen Schau im KirchnerHaus Aschaffenburg: „Kirchners Kosmos: Der Tanz“.
Dass der Tanz ein durchgängiges, konstantes Motiv in Kirchners Werk ist, variationsreich verwendet in den unterschiedlichen Schaffensphasen, zeigt der neue Kirchner-Katalog in fünf fundierten Textbeiträgen und einem hervorragenden Abbildungsteil. Kirchner habe das Motiv des Tanzes, so Brigitte Schad im Vorwort der Publikation, „als Metapher für einen künstlerischen Prozess“ verstanden. Übereinstimmend verweisen die Autoren des Bandes daher auf die zentrale Bedeutung, die der Betrachtung körperlicher Bewegung in Kirchners Werk zukommt. Das „Sehen von Bewegung“ regte Kirchner zu immer neuen Bildzeichen für dynamische Handlungsabläufe an. In seinen Kompositionen aus flächenhafter Dichte und aufgelockerter Struktur verstand er es, die Wahrnehmung von Bewegung zu suggerieren.
Wie der Katalog bestens zeigt, interessierte sich Kirchner für die verschiedensten Genres des Tanzes. Eine große Rolle spielten für ihn die Mode- und Gesellschaftstänze seiner Zeit, ebenso Varieté, Zirkus und Tingeltangel. Aber auch das klassische Ballett fand Eingang in sein Werk. 1909 porträtierte Kirchner Olga Preobrajensky, Primaballerina des Petersburger Hoftheaters, und den Ballettmeister Georges Kiatschk nach einer kurzen Skizzierung auf einer Postkarte an Erich Heckel in einem Gemälde und einer Lithographie.
Vor allem aber lag Kirchners Fokus auf dem Ausdruckstanz des frühen 20. Jahrhunderts. Hier sah er sein Ziel verkörpert, konträr zu akademischen Normen, eine neue, freie Sprache für die Kunst zu finden. In der mit den körperlichen Bewegungen einhergehenden sinnlichen Ausstrahlung fand Kirchner seine Vorstellung einer harmonischen Synthese aus Kunst und Natur realisiert. Nachdem die Tänzerin Nina Hard den Sommer 1921 bei ihm in Davos Frauenkirch verbracht hatte, schrieb Kirchner daher begeistert an Nele van de Velde: „Wir hatten eine junge Tänzerin zu Besuch da.(...) Sie hat einen sehr schön gewachsenen Körper. (....) so hatte ich wieder einmal Gelegenheit das lang entbehrte Studium des Nackten in freier Natur wieder aufzunehmen.“
Kirchner hatte Kontakt zu vielen der „neuen“ Tänzer und Tänzerinnen, darunter Gret Palucca, Vera Skoronel und Berthe Trümpy. Eine besondere künstlerische Übereinstimmung verband ihn mit Mary Wigman. 1926 besuchte Kirchner einige ihrer Proben und die Tänzerin notierte: „Er hat unzählige Skizzen gemacht. Ich habe manches gute Gespräch mit ihm geführt. Am Schönsten aber war das stillschweigende gegenseitige Einvernehmen, das Einverständnis in künstlerischen Dingen.“ Und Kirchner wiederum betonte in einem Brief an seine Lebensgefährtin Erna Schilling: „Dieser Tanz giebt mir doch viel, er hängt sehr mit unserer Moderne zusammen.“
Dass einige Quellennachweise fehlen und andere falsch überschrieben sind, stört die Lektüre zwar nicht wirklich, aber das Lektorat des Anhangs hätte gern etwas genauer sein können. Davon abgesehen führt der Band die verschiedenen Bereiche von Kirchners Verwendung des Tanzmotivs übersichtlich und fundiert zusammen. Und ermöglicht so einen genauen und spannenden Blick auf ein vielschichtiges und wichtiges Werk.
Kirchners Kosmos: Der Tanz. Katalog zur Ausstellung im KirchnerHaus Aschaffenburg. Hirmer Verlag, München 2018. 168 S.
Die Ausstellung "Kirchners Kosmos: Der Tanz" ist noch bis 30. Dezember 2018 im KirchnerHaus Aschaffenburg zu sehen.
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