Elf Monate war die Ausstellung „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ im Theatermuseum zu sehen. Man würde diese umfassende Schau gerne als Dauerausstellung in Wien wissen, doch am 10. Februar fällt der sprichwörtliche Vorhang. Zum Glück ist dazu die gleichnamige, äußerst spannende und sorgfältig gestaltete Publikation erschienen, die die österreichische Tanzgeschichte nicht nur chronologisch abbildet sondern sie auch aus der Perspektive unterschiedlicher Wissensgebiete beleuchtet.
Auch wenn das Buch die Ausstellung nicht eins zu eins abbildet, also kein Katalog im eigentlichen Sinne ist, so sind die visuellen Aspekte auch hier ein entscheidender Faktor. Der reich bebilderte Band umfasst die Tanzentwicklung in Österreich von Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1945 und verfolgt ihre Weiterschreibung anhand einiger Protagonistinnen, die meisten von ihnen in ihrem Exil in Großbritannien, Australien oder Israel.
Der Rahmen
Im ersten Teil wird der Kontext abgesteckt und dieser ist vom Aufbruch der Frauen geprägt. Elke Krasny geht in ihrem Beitrag „Die Stadt“ der politischen Befreiung in Konjunktion mit Bewegung aus der feministischen Perspektive nach. So verschränkt sie etwa den ersten Frauenstreik in Wien oder die politische Zuschreibungen des Körpers im Alltag mit Aussagen zeitgenössischer ChoreografInnen wie Doris Uhlich und Amanda Piña. Deborah Holmes erforscht „Die neue Frau“ in Artikeln, die zum Thema Tanz in Journalen der Frauenbewegung erschienen. Andrea Amort geht dem Phänomen der Massenbewegung anhand vom „Festzug der Gewerbe“, den Laban 1929 im Rahmen der Wiener Festwochen inszeniert hat, nach.
Die Tanzhistorikerin Gunhild Oberzaucher-Schüller spürt in ihren Text „Der Körper“ den spezifisch wienerischen Aspekten des modernen Tanzes nach (ebenso wie in ihrer Kolumne „Wiener Tanzgeschichten“ auf tanz.at) und beschreibt die Trainingsmethoden, die Grundlage für die neue Form des künstlerischen Tanzes waren.
In eine Art Rauschzustand kommen Tänzer, aber auch Friedrich Nietzsche beim Schreiben. Arno Böhler zeichnet den Stellenwert von Tanz in Nietzsches Dionysischem Weltbild nach. Daran anknüpfend beschreibt Elke Pichler den Einfluss von Nietzsches Philosophie auf die Tänzerin, Jogalehrerin und Philosophin Susanne Schmida. „Der Rausch“ lautet der Beitrag von Andrea Amort über den Skandal, den ein Auftritt von Anita Berber in Wien hervorrief. In einem weiteren Beitrag untersucht sie die innovativen Ideen der Tänzerinnen Isadora Duncan, Gertrud Bodenwieser, Grete Wiesenthal und Rosalia Chladek anhand ihrer eigenen Texte. Experten aus einer Reihe „tanzfremder“ Wissensgebiete stellen eine Verbindung zwischen der Wiener Tanzszene und Literatur, Psychoanalyse, Judentum, Musik, Fotografie und Bühne her.
Der Bruch
Unter dem Titel „Der Bruch“ werden im zweiten Teil einerseits die politischen und künstlerischen Umbrüche ab 1930 in Wien und ihre Auswirkungen untersucht: auf KünstlerInnen wie Gertrud Kraus, Gertrud Bodenwieser oder Cilli Wang, denen die Flucht vor den Nazis ins Ausland gelang, sowie Grete Wiesenthal, Hanna Berger und Rosalia Chladek, die blieben.
Andererseits ist ein Kapitel der Spurensuche und Sichtbarmachung des choreografisch-tänzerischen Erbes der (verfemten) KünstlerInnen gewidmet. Seit den 1980er Jahren gab es immer wieder sporadische Rekonstruktionen, zuletzt eben in der Ausstellung „Alles tanzt“ mit einem Rahmenprogramm von 45 Aufführungen (mit Rekonstruktionen, Re-enactments und vom Thema Exil inspirierten Kreationen von StudentInnen der MUK). Alfred Oberzaucher beschreibt die rekonstruierten Werke der Wiener Tanzmoderne mit einem daran anschließenden umfassenden Verzeichnis von Bühnenauftritten sowie filmischen Dokumenten.
Ein abruptes Ende nahmen auch die Volksbildungsaktivitäten der Familie Suschitzky im roten Wien, die ab 1925 Kurse für und Aufführungen mit Kindern im Arbeiterviertel Favoriten anboten und damit eine frühe Version des Community Dance realisierten (siehe auch Wiener Tanzgeschichten auf tanz.at).
Folge und Wirkung
Eine Tänzerin, die in London besonderen Einfluss auf die Entwicklung dieser partizipativen Tanzform hatte, war die Wienerin Hilde Holger, die im dritten Teil des Buches „Folgen und Wirkung“ vorgestellt wird. In diesem Abschnitt wird das Wirken von Rosalia Chladek in Wien und Gertrud Bodenwieser in Australien vorgestellt. Gaby Aldor zeichnet die Tanzentwicklung in Israel von den Ornsteins und Gertrud Kraus bis Ohad Naharin nach.
Das Lexikon
Ein Lexikon, „Das KünstlerInnen-Netzwerk der Wiener Tanzmoderne“, ergänzt diesen umfassenden Band, der wieder neue Lichter auf eine Tanzzeit wirft, deren Spurensuche sich mit zunehmendem Zeitabstand immer schwieriger gestaltet. Mit dem Tanzarchiv im MUK, das mit dem Nachlass Rosalia Chladek seine Tätigkeit aufgenommen hat, existiert nun seit 2015 eine Forschungsstelle für österreichische Tanzgeschichte. Deren Forschungsarbeit bildete den Grundstein für die Ausstellung und der damit verbundenen Publikation. Sie sind hoffnungsvolle Zeichen, dass die Aufarbeitung des Erbes und seine Wirkung auf heutige TänzerInnen nun systematisch betrieben werden können. Im Buch wird der Gegenwartsbezug unter anderem durch einen Beitrag von Doris Uhlich abgedeckt. Zwischen ihr und den Tänzerinnen der Wiener Moderne liegt noch eine ganze Generation, deren Arbeit dem Vergessen entrissen werden sollte.
Die Texte im Buch „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“ bieten eine akademisch fundierte Aufarbeitung der Wiener Tanz-Zeitgeschichte und gleichzeitig eine anregende Lektüre. Durch seine elegante Gestaltung und mit der Fülle an Bildmaterial verführt das Buch aber auch einfach immer wieder zum Schmökern.
Andrea Amort „Alles tanzt. Kosmos Wiener Tanzmoderne“, Hatje Cantz Verlag, Berlin, 2019
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