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TitelCharmatz iconAn neun Abenden steht der Name Boris Charmatz auf dem Programm von Impulstanz 2025. Der Choreograf, der seit seiner ersten Arbeit, dem Duo „À bras-le-corps“ (1993) mit dem Festival verbunden ist, leitet seit 2022 das Tanztheater Wuppertal Pina Bausch, verabschiedet sich jedoch mit Ende des Monats wieder aus dieser Position. In Wien hat man wahrscheinlich eine der letzten Gelegenheiten seine Arbeiten an einem Abend mit dem Werk von Pina Bausch zu sehen. Einen tieferen Einblick in die Person und die kreative Handschrift des Choreografen gibt das Buch „Nahaufnahme Boris Charmatz. Tanz und Text 1993-2024“, das am 12. Juli in der Roten Bar im Volkstheater präsentiert wird.

„Der Tanz dient mir zu ALLEM. Tanzen ist das Einzige, das mich zurzeit, in Schüben, überfällt. Ich bin allenfalls noch in der Lage, Stimmungen für Gesten, für tänzerische Momente, zu Papier zu bringen“, schreibt Boris Charmatz in einem Text. Er spricht darin über Gegensätze, die ihn beschäftigen, Oxymora, die sein Werk bestimmen. 

Mit seinen Gedanken steht er auch für den Tanz der letzten Jahrzehnte, als das Denken darüber nahezu gleichwertig zur Bewegung wurde. „Auf den Bewegungsautobahnen fühle ich mich etwas hilflos“, schreibt er. Seine Tanzsprache ist nicht von einem inneren Bewegungsdrang sondern von der Interpretation abstrakter Ideen geleitet, zum Beispiel: „Tanzen, indem man auf das Auftauchen lauert, und dabei wissen, dass die Koffer schwer sind, dass sie in einem sind, dass nur Schluchzer das Gebäude ein wenig erschüttern können.“ 

Gegensätze manifestieren sich auch in seiner künstlerische Doppelexistenz: zwischen institutioneller Verankerung und freier Produktion, zwischen dokumentarischem Anspruch und visionärem Überschwang.Herses

Herausgegeben vom Alexander Verlag als Gemeinschaftsproduktion des Pina Bausch-Ensembles und Charmatz' eigenem Kollektiv Terrain, verdichtet “Nahaufnahme: Boris Charmatz” die bisherige Arbeit in einer klug komponierten Anthologie von Archivmaterial. Marietta Piekenbrock, langjährige Mitstreiterin und Kuratorin des Bandes, zeichnet Charmatz' Werdegang in minutiöser Chronologie nach und verzichtet auf jegliche interpretierende Einordnung. Diese erfolgt durch vielstimmige Statements Rezensionen, Interviews und Essays, Textfragmenten und Werkfotos von den Anfängen der Association edna über das experimentelle Musée de la Danse in Rennes bis zur Wuppertaler Ära. Zu Wort kommen neben dem Protagonisten Kollegen wie Jerome Bel oder Tino Seghal sowie eine Reihe von Autor*innen aus Kunst und Theorie. Die gedruckten Zeugnisse werden durch Videos ergänzt, die über einen QR-Code zu César Vayssiés Tanzdokumentationen zugänglich sind. Diese multimediale Erweiterung realisiert Charmatz' Vision eines "Museums des Tanzes" im Digitalen. Minutiöse Produktionsdaten zu sämtlichen Werken, die jede Mitwirkende namentlich würdigen, vervollständigen die Bestandsaufnahme.

Im Zusammenspiel von Text-, Bild- und Videomaterial entsteht das Porträt eines radikalen Bewegungsdenkers, der sich auf keinen Stil eingrenzen lässt. Ob als Solist, in kleinen Tänzerensembles oder in der Arbeit mit 200+ Laien, es ist die Welt eines Suchenden, die sich dem Betrachter eröffnet. 

AattentionCharmatz' bevorstehender Abschied vom Wuppertaler Ensemble verleiht dieser Retrospektive auf 318 Seiten besonderes Gewicht und wird unversehens zum künstlerischen Testament seiner dortigen Arbeit. In diesem Sinne mag man auch die Wiener Gastspiele sehen. In “Club Amour” vereinen sich zwei kreative Handschriften an einem Abend: Mit “herses” und “Aatt enen tionon” stehen Charmatz' Choreografien aus den 1990er Jahren, einem ikonischen Frühwerk von Pina Bausch, “Café Müller”, gegenüber. Des weiteren wird bei Impulstanz “Nelken. Ein Stück von Pina Bausch” aus dem Jahr 1982 in Wien gezeigt.

“Um wirklich eine neue Vision für die Kompanie, die Stadt, die Kunst zu entwerfen … müssen wir auch akzeptieren, Dinge loszulassen“, sagte der Franzose bei der Pressekonferenz in Wuppertal anlässlich seiner Bestellung. Den Gegensatz zwischen dem Bewahren des Bausch-Erbes und neuen kreativen Impulsen konnte er hier nicht auflösen. Wohin die Entdeckungsreise den Choreografen als nächstes führen wird, bleibt das offene Finale dieser Publikation.

Marietta Piekenbrock, Tanztheater Pina Bausch und Terrain Boris Charmatz (Hg.): „Nahaufnahme Boris Charmatz“, Alexander Verlag, Berlin, 2023 

Impulstanz-Events:

Buchpräsentation am 12. Juli in der Roten Bar im Volkstheater bei freiem Eintritt. Direktbestellung bei Amazon

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch + Terrain Boris Charmatz: „CLUB AMOUR. Café Müller / Aatt enen tionon / herses, duo” am 10., 11., 12., 13. Juli im Burgtheater

Tanztheater Wuppertal Pina Bausch + Terrain Boris Charmatz: „Nelken. Ein Stück von Pina Bausch“ am 17., 18., 19., 20. Juli im Burgtheater

 

 

 

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