Auf der Suche nach dem Leid. Sex sells – und wenn in Begleitung von Skandalen und leidenden Opfern besonders gut. Diese Binsenweisheit nutzt Deirdre Kelly, Journalistin, Autorin und Tanzkritikerin aus Kanada, in ihrem 2012 erschienenen Buch „Ballerina. Sex, Scandal and Suffering Behind the Symbol of Perfection“. Was wie ein fundierter Überblick über die Rolle der Tänzerin im Wandel der Zeit wirkt, erinnert phasenweise eher an die Herz-Schmerz-Geschichten der Hochglanzjournale.
Auf 200 Seiten Text spannt Deirdre Kelly einen historischen Bogen vom Tanz am Hofe König Ludwigs XIV bis in die heutige Zeit, wobei ihr trotz der 250 angeführten Literaturquellen und einem umfangreichen Fußnotenverzeichnis weniger an einer tiefschürfenden und umfassenden Analyse gelegen ist – die zudem mit Jennifer Homans „Apollo's Angels. A History of Ballet“ schon in hervorragender Form vorliegt. Vielmehr bastelt sie mit Hilfe von Einzelschicksalen einen Flickenteppich zusammen, aus dem immer wieder ihre Überzeugung spricht, Tänzerinnen seien gequälte, geschundene und ausgebeutete Kreaturen, wahre Märtyrerinnen im Dienste der Kunst. Zwar gelingt Kelly eine glaubwürdige Schilderung der Situation der Tänzerinnen im französischen Ballet de cours, in der Aufklärung und der Romantik – der trübe Backstage-Bereich der Pariser Oper zu einem institutionalisierten Bordell verkommen, die Karrierechancen abhängig von Einfluss und Anzahl der männlichen Beschützer, treffend „les abonnés“ genannt – nur rückt sie einiges nicht ins rechte Licht. Dass die männlichen Rollen in Frankreich ab etwa 1840 fast ein Jahrhundert lang von Frauen en travestie getanzt wurden, weil so viele Mädchen in die Ballettschulen stürmten und später beschäftigt werden mussten, entspricht nicht den Tatsachen. Auch die Behauptung, der tödliche Unfall der Pariser Tänzerin Emma Livry 1862, die, nachdem ihr Kostüm bei einer Generalprobe Feuer gefangen hatte, den Folgen ihrer schweren Verbrennungen erlag, hätte zum Niedergang des romantischen Balletts in Paris und der darauf folgenden künstlerischen Stagnation geführt, ist schlicht falsch. Hier schlägt man besser bei Jennifer Homans nach.
Mit dem vierten Kapitel „Streben und Hungern nach Aufmerksamkeit“ demontiert Kelly weiter ihre Glaubwürdigkeit. Die berühmtesten russischen Tänzerinnen nicht unerwähnt zu lassen ist das eine, das andere sich darüber zu ergehen, wer mit wem verheiratet war oder eine Affäre, womöglich noch eine homosexuelle, hatte. Penetrant eindimensional wird die Autorin bei George Balanchine. Er sei Gott-ähnlich, Vaterfigur oder Ersatzehemann gewesen, der seinen Tänzerinnen ein Sexualleben verbot, es sei denn eines mit ihm. Essen sollten sie möglichst wenig, am besten nichts, damit sie seinen Idealproportionen entsprächen. Tabu auch Mutterschaft und Heirat. Balanchine, Tyrann seiner sich selbstlos unterwerfenden Tänzerinnen, wird für deren Schönheits-OPs und Essstörungen verantwortlich gemacht. Gelsey Kirkland war so ein Opfer, ihr widmet Kelly mehrere Seiten am Ende des Buches, auf denen sie in fast weihevoller Verehrung darlegt, wie Kirkland die Qual ihres Künstlerdaseins überwand. Als hätten diesen Frauen weder Eigenverantwortung noch freien Willen! Nein, sie wären abhängig und unmündig und schuld an alledem sei Balanchine. So einfach kann man es sich machen. Andere Ballettdirektoren, wie Mikhail Baryshnikov und Reid Anderson, nimmt Kelly ebenso mit festem, feministischem Blick ins Visier, nichts toppt aber ihre Erregung über Balanchine.
Die beiden letzten Kapitel thematisieren, womit Tänzerinnen heute ringen: Körperbild, Alter, Bezahlung, das oft frühe Ende der Karriere, das Stillhalten und Schweigen. Außer Zweifel steht, dass es hier und da im Ballett, wie in jeder anderen Branche auch, hinter den Kulissen gärt. Beispielsweise berichtete die DancingTimes (Juli 2013) über das Bolschoi-Ballett, dessen 2003 gefeuerte Tänzerin Anastasia Volochkova äußerte, Tänzerinnen der Company seien gezwungen worden, mit wohlhabenden Mäzenen zu schlafen, was von der Bolschoi-Direktion als schmutziges und irres Gerede abgetan wurde. Das Thema ist also immer noch top-aktuell! Wobei noch kein Wort verloren wurde über die Schwierigkeiten männlicher Tänzer.
Kellys Buch hätte in weit größerem Umfang dazu beitragen können, durch eine offene Debatte diesen Code des Schweigens zu durchbrechen, wenn sie souveräner und fairer argumentiert und platte Stereotype („No pain, no gain“) vermieden hätte. Wenn sie realisiert hätte, dass eine Tänzerin nicht der bewunderte Inbegriff der Perfektion sein kann, sofern sie nicht alle Hingabe darauf verwendet. Dass ein Leben als Tänzer/in alles andere als ein bequemer Schlendrian ist, weiß man, wenn man diesen Beruf ergreift. Leider geht nahezu unter, warum sich junge Mädchen zu dieser Ausbildung entschließen, was sie trotz aller Widrigkeiten bei der Stange hält: Das Gefühl, einer Berufung zu folgen und die Glücksmomente auf der Bühne beispielsweise. Schade, das wären Dreh- und Angelpunkte gewesen, die aufgezeigt hätten, warum sie eben keine fremdbestimmten Opfer sein müssen.
Deirdre Kelly: Ballerina – Sex, Scandal and Suffering Behind the Symbol of Perfection, Greystone Books, 2012
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