Groß angelegte Community Tanzprojekte kommen in Deutschland seit dem Film „Rhythm is It!“ immer wieder zustande. 2013 wurde das integrative Projekt „Carmina. Es lebe der Unterschied“ von der Christopherus Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Laufenmühle in Baden-Württemberg initiiert und durchgeführt. Wolfgang Stange, der Pionier von inklusiven Tanzproduktionen, hatte die künstlerische Leitung inne. Sebastian Heinzel dokumentierte den dreiwöchigen Prozess mit einem integrativen Filmteam.
Ein Ensemble aus behinderten und nicht behinderten Menschen, Schülern und Senioren, professionellen Tänzern und Laien: die Mischung könnte nicht bunter sein. Und gerade darin sieht Wolfgang Stange die Stärke: „Vive la difference“, ist sein Motto und er lebt danach. Inspiriert von der Arbeit der Choreografin Hilde Holger, gründete er Anfang der 1980er Jahre die Tanzgruppe Amici in London, die er seither leitet. Seinen inklusiven Ansatz setzt er außerdem immer wieder bei internationalen Großprojekten um.
Viel Zeit war nicht: drei Wochen hatte das künstlerische Team, um Orffs einstündige Carmina Burana tänzerisch in Szene zu setzen. Daher stellte Royston Maldoom seine Choreografie zur Verfügung, die von Volker Eisenach einstudiert wurde. Außerdem wirkten Stanges Co-Direktor Colm Callagher und die Pina Bausch-Tänzerin Jo Ann Endicott mit.
Sebastian Heinzel hat den Probenprozess begleitet und in der Dramaturgie kleine Geschichten über einige der 150 Tänzerinnen herausgefiltert. Etwa die Geschichte von Ali, der sich erst verweigert mitzumachen, um dann als Solist in eine für ihn neue Rolle buchstäblich hineinzuwachsen. Oder Lukas, der seine anfängliche Scheu vor den behinderten Kollegen zunehmend verliert. Doch der Film zeigt auch, wie schwierig es für Kinder ist, behinderte Menschen zu akzeptieren. Gerade die Kleineren tun sich schwer, die Größeren haben bereits einen sozialen Lernprozess durchgemacht und zeigen sich tolerant und offen. Eine herzzerreißende Szene ist ein Paartanz zwischen einer Frau mit Down Syndrom und einem Buben, der sich nicht überwinden kann, sie anzusehen. Nach dem Tanz rennt er abrupt zu seinem Freund und wischt seine Hände an dessen T-Shirt ab. Der traurige Blick der Frau … die in einer späteren Szene aber ein bezauberndes Lächeln zeigen wird.
Man kann aber auch beobachten, wie behinderte Menschen nicht nur besser „fokussieren“ können, wie die Choreografen die Konzentrationsfähigkeit nennen, sondern in ihrem körperlichen Ausdruck viel offener und direkter sind als die sogenannten „Normalen“. Deren Renitenz führt denn auch prompt zur „Krise“ im Kreationsprozess, und die Choreografen sind drauf und dran, das Handtuch zu schmeißen. Doch am Ende gewinnen alle in einem großartigen Prozess, der die jungen (und älteren) in ihrem ganzen Wesen herausfordert. Diese Zeit werden ihre Schüler „ihr ganzes Leben nicht vergessen“ – wie es eine Lehrerin ausdrückt und hofft, dass etwas von dem Geist dieser drei Probenwochen in den Schulalltag gerettet werden kann.
Heinzel hat einige Freiwillige als Kamerateam „engagiert“ und mit der besonders eifrigen Unterstützung von Thomas und Lukas einen berührenden Dokumentationsfilm gedreht. Das Ergebnis aus 80 Stunden Filmmaterial umfasst zwei DVDs: die Dokumentation „Carmina – Es lebe der Unterschied!“ und „Carmina – die Aufführung“, die musikalisch von der jungen Süddeutschen Philharmonie Esslingen und dem Esslinger Vocalensemble ungesetzt wurde und drei Abende lang vor 1200 Zuschauern stattfand.
Der Film führt wieder vor Augen, wie prägend ein derartiges künstlerisches Projekt sein kann: wie die Teilnehmer über sich hinauswachsen, wie sie im Team arbeiten, wie sie soziales Verhalten üben und Empathie erlernen. Denn die Fähigkeiten, die man für die gelungene Theaterarbeit braucht, sind auch für eine funktionierende Gesellschaft nötig.
Und Empowerment pur. In diesem Sinne hat das letzte Wort im Film der Choreograf Royston Maldoom bei der Generalprobe: „Die Person, die am allerbesten weiß, ob ihr euer Bestes gebt, seid ihr allein!“
Die Doppel-DVD ist zu erwerben über den online Shop von Heinzelfilm.