In ihren „Wiener Tanzgeschichten“ behandelt Gunhild Oberzaucher-Schüller, renommierte Tanzhistorikerin und Autorin, Historisches und Anekdotisches, Tänzerisches und Gesellschaftliches – meist, aber nicht nur, über den Bühnentanz. Sie erscheinen in loser, in Bezug auf ihre Themen keinesfalls in chronologischer Folge und, soweit möglich, von einem aktuellen Anlass ausgehend. In der ersten Wiener Tanzgeschichte geht es um die Anfänge des Spitzentanzes – anlässlich der Wiederaufnahme von „La Sylphide“ an der Wiener Staatsoper.
Angesichts des Dargebotenen reagierte die Presse des Jahres 1805 mehr als unwillig. Der Unwille nahm immer drastischere Formen an: Dieses Tanzen auf der Spitze sei einfach lächerlich! Es gehöre nicht auf eine Bühne der Wiener Oper (die damals sowohl im Burgtheater als auch im Kärntnertortheater spielte), es sei ganz einfach Zirkus, oder ärger: „Seiltänzerey“! Trotz insistierender Zurufe, sich doch an das bewährte Alte zu halten, änderte sich nichts. Die Solistinnen des Ballettensembles, seien sie Italienerinnen (wie etwa die Schwestern Decaro) oder Französinnen, experimentierten einfach weiter. Nach einiger Zeit vergeblicher Ermahnungen, doch „seriös“ zu bleiben, sah man sich veranlasst, 1807 eine „Theorie des Tanzes“ zu veröffentlichen. Klar und deutlich hieß es da: „Ob ein Mensch, gleich einem Storche etliche Minuten auf der Zehenspitze eines Fußes auf den Boden, oder auf einem Seile stehe“ sei doch ein und dasselbe, Ballett sei aber nicht Zirkus! Kritisiert wurde aber auch eine neue Schrittkreation, die ebenso lächerlich schien, wie das Tanzen auf der Spitze: „Wenn der Mensch mit einem horizontalgestrekten, und einem in Grund stehenden Beine, wie ein Meilenzeiger frey stehet, und gleich einem Wetterhahne, nur viel schneller noch sich im Kreise drehet, oder einen Stuhl auf der Nase balanzirt, indem er auf einem Bein hüpft; was ist der Unterschied?“ Auch dies – wir haben es dabei ohne Zweifel mit einem développé à la seconde zu tun, das leicht in eine Arabesque gewendet werden kann – wäre also zu unterlassen!
Spätestens am 19. Mai 2015 – dem Zeitpunkt, zu dem das Wiener Staatsballett wieder „La Sylphide“ tanzt – kann überprüft werden, was das Tanzen auf der Spitze versinnbildlichen und auf welche Art die Pose Arabesque eingesetzt werden kann. Marie Taglioni wird dann wieder in aller Munde sein. Sie war es nämlich, die das epochemachende Werk 1832 in Paris in der Choreographie ihres Vaters, Filippo Taglioni, kreiert hatte. Und wieder wird sie – fälschlicherweise wie angesichts des Erwähnten zu erkennen ist – als „Erfinderin“ des Spitzentanzes genannt werden. Obwohl beide, Vater und Tochter Taglioni, derlei nicht entwickelt haben, kommt ihnen aber sehr wohl eine ganz besondere Rolle in der Theatergeschichte zu, denn sie waren es, die die schon über ein Vierteljahrhundert andauernden Experimente ins Sinnvolle wendeten. Sie waren es gewesen, die den Spitzentanz als die gültige Ausdrucksform jenes Themenkomplexes etablierten, der zu dem bevorzugt aufgegriffenen Stoffen der Zeit gehörte: Die Rede ist von einem unbestimmten Anderen, vom Phantastisch-Irrealen. Mit dem Spitzentanz nämlich war ein ebenso unverwechselbares wie überzeugendes Mittel gefunden, den neuen Themenkreis auf die Bühne zu stellen. Und die Arabesque symbolisierte eindrucksvoll das Luftige und Flüchtige, das die bürgerliche Welt des Protagonisten bedroht.
Vater und Tochter Taglioni hatten mit beidem – Spitzentanz und Arabesque – in Wien experimentiert. Filippo war in den Zehnerjahren, als er Solist des Wiener Ensembles gewesen war, Teil der aufmüpfigen Jungen gewesen. Immer wieder hatte er andere Engagements angenommen, war aber in den Zwanzigerjahren, nun als Choreograph und Lehrer, wieder nach Wien gekommen, wo Marie am 10. Juni 1822 ihr offizielles Bühnendebüt gab. 1826 hatte Filippo am Kärtntnertortheater mit der „Nachtwandlerin“ ein Ballett herausgebracht, in dem er, bei näherem Hinsehen, bereits eine Szenenfolge realisierte, die noch heute wesentlicher Teil des I. Aktes von „La Sylphide“ ist. Auf dem Abendzettel der Aufführung findet sich nämlich folgende Inhaltsangabe: „Ganz ermüdet setzt sich Gustav (so der Name der männlichen Hauptrolle) auf einen Stuhl und schläft ein, desgleichen tut auch sein Diener; Gustav, über ein Geräusch erwachend, ergreift seinen Säbel, ein Fenster öffnet sich, und Marie (so der Name der weiblichen Hauptfigur, die hier als Nachtwandlerin auftritt), weißgekleidet, mit einem Lichte in der Hand, tritt ein; der Diener erwacht und erschrickt, indem er Marien für einen Geist hält. Gustav wird von Marien zum Tanzen aufgefordert, während sie ihm das Tuch, welches sie von Justin (ihrem Verlobten) erhalten, überreicht, und ihn zwingt, seinen Ring mit dem ihren zu vertauschen.“ In dieser „Nachtwandlerin“ also – deren Protagonistin eine Verwandte der Sylphide ist, denn auch sie steigt störend und weiß aus dem Unterbewussten der Handelnden in die reale Welt – ist der I. Akt des späteren Balletts gleichsam vorformuliert.
Aber noch etwas anderes kommt aus Wien. Bei einem weiteren Wienaufenthalt 1839 choreographierte Filippo Taglioni für eine Vorstellung von „La Sylphide“ zu einer in Wien komponierten Musik einen zusätzlichen Pas de trois im I. Akt. Darin taucht die Sylphide nur für James sichtbar immer wieder auf und stört derart die Idylle zwischen den Brautleuten James und Effie.
Nachzutragen wäre das weitere Verhalten der eingangs erwähnten Ballettkritiker aus dem Jahr 1805. Angesichts des Dargebotenen streckten sie schließlich die Waffen und verstummten!