Einer der Events des steirischen herbst 2015 ist die Uraufführung von „7 Pleasures“, das mit einer ganzen Reihe von internationalen Veranstaltern koproduziert wird. Konzept und Choreographie des Werkes stammen von der Dänin Mette Ingvartsen. Im Voraustext heißt es, im Stück sei „hautnah mitzuerleben, wie sich Konzepte von Nacktheit und Sexualität durch die Zeit verändert haben.“ Diesem Themenkomplex gerade in Graz nachzugehen, erweist sich als überaus aufschlussreich, scheint doch gerade die steirische Hauptstadt diesbezüglich eine lange Tradition zu haben.
Der Produktion des steierischen herbst seien im Folgenden sechs aus der Grazer Bühnentanzgeschichte ausgewählte Beispiele zu dem Thema „Nacktheit und Sexualität“ gegenübergestellt, wobei diese – erwartungsgemäß – grundlegend anders sind als die Stücke der heutigen Freien Szene. Aus dem jeweiligen ästhetischen Umfeld – der „hohen“ Kunst oder des Varietés – erwachsen, unterscheiden sich Konzept, Anlage und Darbietung erheblich. Dem als direkt angesehenen heutigen Zugang an die Thematik, der, als Resultat von Selbstreflexion verstanden, ebenso direkt körperlich auf eine Bühne gebracht wird, stehen historische Beispiele gegenüber, deren Herangehensweise an das Thema durchwegs indirekt und verschlungen ist. Da die Tabuthemen niemals explizit behandelt wurden, liegt das Hauptaugenmerk der historischen Werke auf der Art und Weise der Präsentation, genauer auf dem höchst differenziert geführten körperlichen Dialog mit einem (männlichen) Publikum, ein Aspekt, der in der zeitgenössischen Szene eine untergeordnete Rolle spielt.
I.
Zu den Auftritten gehören, abgegeben von Veranstaltern und Künstlern, passend zu Zeit und Ort, entsprechende Statements. Auch diese, die oft auch in Rezensionen verarbeitet werden, unterscheiden sich grundlegend. In Graz gerade aktuell sind die Sätze von Ingvartsen. In „7 Pleasures“ gehe es ihr um die „Auseinandersetzung mit dem Körper – dem eigenen, aber auch dem fremden“, wobei „immer auch der politische Aspekt des Körpers im Fokus, seine Wahrnehmung und seine Funktion als Statement an sich“ stehe. Geht man etwas mehr als 100 Jahre zurück, zum 1908 im Grazer Orpheum stattgefundenen Gastspiel der nachmalig legendären Pionierin des amerikanischen Modern Dance Ruth St. Denis, klingt das entschieden anders. Schon deshalb, weil der Verfasser des vorauseilenden „Statements“ niemand anders als Hugo von Hofmannsthal war. Er hatte in seiner 1906 in der „Zeit“ erschienenen Betrachtung „Die unvergleichliche Tänzerin“ nicht nur die Metapher Tanz für sich selbst erweitert, sondern auch den mit den Auftritten der St. Denis einhergehenden Paradigmenwechsel im Bühnentanz festgehalten und dafür mit „weggetilgtem Lächeln“ auch ein äußeres Charakteristikum gefunden. Zwar spürt er in den orientalischen Tänzen der St. Denis „Wollust“, die aber neu, „keusch“, gemeint sei und ihr daher „die sinnliche Neugier der meisten Männer entfremdet“ habe. Er spricht vom „grandiosen Ernst“ der Tänzerin und von „geistigen“ Ebenen, auf die sie ihren Tanz gehoben hätte.
II.
Wie sehr aber selbst Hofmannstal die Thematik Sexualität noch zu ummanteln hatte (er tat dies wohl auch mit einer gewissen Lust), bezeugt das Libretto zu „Josephs Legende“, das Harry Graf Kessler mit ihm konzipiert hatte. Denn erst nach dem Heben der verschiedensten Schichten (der Bibel, der Gastmahlthematik, des „Carton“ des Veronese) wird die Hauptthematik des Stückes offenbar: Die „Beschmutzung“ des in geistige Höhen strebenden reinen Jünglings durch die Sexualität einer (älteren) Frau. Es versteht sich von selbst, dass „Josephs Legende“ als „Werk eines großen Komponisten“ – Richard Strauss – auch in Graz gegeben wurde. Die Max-Semmler-Produktion, die im Opernhaus (1926 und 1929) zu sehen war, entsprach insofern den Erwartungen, als erst die Interpretation die eigentliche Intention realisierte. Ami Schwaninger als Potiphars Weib regte denn auch seriöse Rezensenten wie Werner Suhr zu einem deftigen Vokabular an. Er bezeichnet sie als „Tierweib“, beschreibt ihre „nackten glatten Schenkel, ihre bittenden wildbewegten Arme“, ihren „sich aufbäumenden Leib“, den „Schrei des entfesselten Weibes.“
III.
Im Gegensatz zu diesem Versteckspiel um eine Thematik kam das Varieté unumwunden zur Sache, das männliche Publikum wusste sofort, woran es war und wusste dies – etwa im Fall der Five Sisters Barrison – zu schätzen. In Robert-Stolz-Biografien nimmt die Schilderung eines Gastspiels dieser Girltruppe Mitte der 1890er Jahre in Graz breiten Raum ein – es soll die Liebe zum Theater des schwärmerischen Jünglings entfacht haben. Die seit 1893 von den dänisch-amerikanischen Tänzerinnen vorgeführten Varieténummern wurden ein Welterfolg, der augenblicklich Parodien nach sich zog – in Graz im Theater am Stadtpark 1896 in der Operette „Das Modell“. Die Wirkung der Schwestern entstand aus der Diskrepanz zwischen der Kostümierung und dem Dargebotenen: In Babygewänder gehüllt und naiv-kindliche Stimmen imitierend, trällerten sie eindeutig zweideutige Lieder und trieben dabei als Kindfrauen ein „schamhaft schamloses Spiel“. Der Höhepunkt der Darbietung war das Hochheben ihrer Kleidchen, wobei jeweils im Schoß ein kuscheliges Katzenköpfchen zum Vorschein kam. Dazu forderten sie keck einen „Wauwau“. Lona, die älteste der Schwestern, lockte 1897 als Solo-Performerin das Publikum mit einem provokanten Striptease mit Geschlechterrollentausch auf ihrem Lipizzaner „Maestoso“ ins Theater am Stadtpark, acht Jahre später sorgte sie im Orpheum mit der pikanten Boudoir-Szene „Mademoiselle Bon-Bon“ wiederum für volle Häuser. Eigene Geschichten sind die 1896 in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte Studie von Hofmannsthal über die vielfältige Interpretierbarkeit der Barrisons oder der weitere Lebensweg der jüngsten der Schwestern. Nach deren Trennung nämlich, ließ Gertrude das Anrüchige hinter sich, kam nach Wien und wurde hier nicht nur zu einer Pionierin, später Lehrerin, des Modernen Tanzes, sondern auch zur „besten und anmutigsten Vorleserin“ von Texten von Peter Altenberg.
IV.
Zwischen der von den Barrisons vertretenen Ästhetik des Varietés und dem neuen Weg der St. Denis ist wohl die Französin Adorée Villany anzusiedeln, die sich selbst als Nackttänzerin bezeichnete, aber dieses Nacktsein, wie Hofmannsthal, als „keusch“ und damit als Kennzeichen eines Reformtanzes verstanden wissen wollte. Sie war klug – 1912 erschien ihr Buch „Tanz-Reform und Pseudo-Moral“ – und wusste die Mechanismen dieser „Pseudo-Moral“ geschickt für sich zu nutzen. „Geadelt“ durch eine polizeiliche Festnahme während einer Vorstellung in München, waren ihr Aufmerksamkeit, Erfolg und weitere Engagements sicher. Durch „Probe-Vorstellungen“ vor Vertretern von Sitte und Anstand, aber auch Auftritte in geschlossenen Zirkeln, wie etwa in Wien, wo keine Damen im Publikum zugelassen waren, zusätzlich mit Geheimnissen umhüllt, erregte auch Villanys Gastspiel in Graz großes Aufsehen. Nach einem nächtlichen Vortanzen nämlich hatten die Grazer Zensoren gegen sie ganz und gar nichts einzuwenden, sie hoben das vorsorglich verhängte Auftrittsverbot auf und ließen sie am Silvestertag 1911 im Opernhaus bereits am Nachmittag in der „Fledermaus“, des Weiteren im „Bunten Abend“ auftreten. Die Villany führte, wie sie schreibt, im Gepäck für jeden Tanz dreierlei, in der Wirkung verschieden abgestufte Kostüme mit sich, welche sie dann, je nach Stadt, sorgfältig auswählte. Da der Rezensent des „Grazer Tagblatt“ sie eher als „Barfußtänzerin“ denn als „Nackttänzerin“ sah, liegt die Vermutung nahe, dass sich die Villany in Graz für die Wohlfühlvariante ihrer Kostüme entschieden hatte.
V.
Scheinmoral war wohl auch die treibende Kraft, die 1949 über die Balletturaufführung des Grazer Opernhauses „Jungendverbot“ verhängte, wodurch der an sich als kühn anzusehende Schritt des Hauses, mit „Die sieben Todsünden“ eine Premiere sowohl dem zeitgenössischen Tanz wie der zeitgenössischem Musik zu widmen, aus heutiger Sicht gemindert wird. Libretto und Choreographie dieser Tanzlegende nach der Art mittelalterlicher Moralitäten stammten von dem im Tanzexpressionismus verwurzelten Andrei Jerschik, die Musik schrieb Rudolf Weishappel.
VI.
Völlig konträr dazu das im April 1794 erfolgte Grazer Gastspiel des allerorts gefeierten Tänzerpaares Maria und Salvatore Viganò im Ständischen Schauspielhaus. Die Stimmung, mit der das Grazer Publikum das Tänzerpaar und ihre freie Tanzweise aufnahm, war positiv, freudig und lustvoll. Dazu verleitete die neue Tanztechnik, die neuen Kostüme, sowie die abgeworfenen Konventionen des 18. Jahrhunderts. Wobei aus den Kritiken herauszulesen ist, dass das Paar in seiner bewusst sinnlichen Tanzweise auch mit den festgefahrenen Geschlechterrollen zu spielen begann. Wohl nur zum Schein kritisierte man so manches: etwa die zu weibliche Frisur sowie das „unzüchtige Kostüm“ des Tänzers, und wünschte sich „daß sein Unterkleid minder knapp an seinem Leib und mehr zu den Regeln der Ehrbarkeit gepaßt hätte.“ Die Tänzerin aber, das wusste man längst, ahmte „Nacktheit in ihrer Kleidung täuschend ähnlich nach“, sie war „wollüstig, aber nicht frech“.
Offenbar ähnlich freudvoll und mehr als 200 Jahre später Mette Ingvartsens Stück. Darin stünden „verschiedene Aspekte des Vergnügens, des Hedonismus und der Sinnlichkeit“ im Zentrum und sie fragt: „Wie kann die lustvolle Kraft des Vergnügens genutzt werden, um Klischeebilder rund um Nacktheit und Sexualität aufzubrechen?“