Manuel Legris’ Absicht, seinen Vertrag als Direktor des Wiener Staatsballetts über 2020 hinaus nicht zu verlängern, wirft einmal mehr die Frage auf, wer denn in Wien über die Besetzung der Ballettdirektion zu entscheiden hat. Dieser Frage soll an Hand des 1930 erfolgten Engagements Bronislawa Nijinskas als Ballettmeisterin der Wiener Staatsoper nachgegangen werden. Ob die Tatsache, dass sie das Haus schon nach wenigen Wochen wieder verließ, mit den Entscheidungsträgern für den Posten oder mit den Arbeitsbedingungen zu tun hatte, ist heute nicht mehr festzustellen.
Der „Fang“, den die Verantwortlichen mit dem Engagement der Nijinska gemacht hatten, war tatsächlich ein ganz besonderer. Nijinska, damals fast Vierzig, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine überragende Karriere hinter sich. 1891 in Minsk geboren, hatte sie wie ihr Bruder Wazlaw an der St. Petersburger Ballettschule studiert. Als brillante Tänzerin – sie war am Mariinski-Theater (1908–11) und bei den Ballets Russes (1909–14) engagiert – hatte sie unter anderem Rollen in Michail Fokins „Le Carnaval“ (1910) und „Petruschka“ (1911) sowie in Nijinskis „L’Après-midi d’un faune“ (1912) kreiert, Werke, in denen sie auch bei den Wiener Gastspielen der Ballets Russes 1912 und 1913 zu sehen gewesen war. 1914 war sie nach Russland zurückgekehrt, wo sie in Petrograd und Kiew tätig war. 1921 verließ sie die Sowjetunion und war auf Einladung Sergei Diaghilews bis Ende 1924 wieder Mitglied der Ballets Russes, zu denen sie 1926 noch einmal zurückkehrte. Einige Kreationen aus dieser Zeit – insbesondere Igor Strawinskis „Les Noces“ und Francis Poulencs „Les Biches“, das 1927 an der Wiener Staatsoper durch ein Gastspiel der Ballets Russes zur Aufführung kam – sind bis heute wegweisende Basis geblieben.
Die Tanzexzellenz grüßte im Vorübergehen
Nijinska war für Wien bestens gerüstet. Sie hatte ein eigenes Ensemble unterhalten und für so renommierte Kompanien wie das Ballett der Pariser Oper (1925, 1927), das Ballett des Teatro Colón in Buenos Aires (1926–27) und Les Ballets de Ida Rubinstein (1928–29) gearbeitet. Für letzteres Ensemble, mit dem sie 1929 auch in der Wiener Staatsoper gastiert hatte, waren die Kreationen der Maurice-Ravel-Ballette „La Valse“ und „Bolero“ sowie von Strawinskis „Le Baiser de la fée“ entstanden. Geadelt durch die Aura der Ballets Russes, europaweit gefeiert als Vertreterin der Klassik-Avantgarde, dazu getragen von dem Selbstbewusstsein, in der männerdominierten klassischen Choreografenwelt die erste wirklich erfolgreiche Frau zu sein, verfocht sie in Wien, wo es offenbar schon in den ersten Verhandlungsphasen zu Missverständnissen gekommen war, ihre Interessen. Zu dieser Stadt mochte sie durch ihren Bruder besonderen Bezug gehabt haben. Den noch vor dem Ersten Weltkrieg von Hugo von Hofmannsthal als „außerordentlichster Mensch, den die Bühne je besaß“ Gefeierten, hatte sie hier 1921 vor sich hindämmernd vorgefunden.
Die Entscheidung für Nijinska als Ballettmeisterin des Staatsopernensembles stellt in der Geschichte des Hauses insofern eine Ausnahme dar, als hier Clemens Krauss, seit 1929 Direktor des Hauses, sich als Kenner der Ballettszene ganz bewusst für die Russin entschieden hatte, deren Werke ihm schon aus Buenos Aires bekannt gewesen sein mochten. Krauss hatte durch seine Mutter Clementine, ursprünglich Mimikerin des Hofopernballetts, später sowohl Sängerin als auch Regisseurin, eine Nähe zum Tanz, dazu auch durch seine Tante Helene, Solotänzerin und Mimikerin der Hofoper, die eine Tanzschule im Musikvereinsgebäude unterhielt. Bemerkenswert am Engagement der Nijinska war, dass nicht nur die zuständige Behörde, die wiederum Teil eines Ministeriums war, dem Wunsch von Krauss nachkam, sondern auch, dass die Wahl einer „Fremden“ von keiner hausinternen Körperschaft verhindert wurde. Sieht man einmal von den zuweilen mächtigen „players“ Publikum und Presse ab, wären damit jene genannt, die sich für oder gegen einen „Ballettvorstand“ der Wiener Staatsoper entschieden. Dass diese Involvierten auch verschiedener Meinung sein konnten, zuweilen in Frontbildungen gegeneinander arbeiteten, war ebenso Tatsache, wie das Faktum, dass Entscheidungsträger sich nicht verpflichtet fühlten, Kompetenz zu Ballettbelangen zu entwickeln. Die Art und Weise des Umgangs mit diesbezüglichem Nichtwissen ist ein Wiener Phänomen. Während man seine Unkenntnis in Sachen Oper tunlichst zu verstecken sucht, bekennen sich Entscheidungsträger, in der Gewissheit nicht allein zu sein, selbstgefällig lachend zu ihrem Nichtwissen in Tanzbelangen.
Das Ballettensemble, bei Bedarf herangezogen
Die Konzept- und Planlosigkeit, mit der von Seiten der Verantwortlichen der Zwanzigerjahre mit der Körperschaft Ballett der Staatsoper umgegangen wurde, verblüfft immer wieder. Dabei muss immerhin eingeräumt werden, dass man nach dem Ende des Ersten Weltkriegs vor der schier unlösbaren Aufgabe gestanden war, die nunmehr als riesig empfundene Institution Oper in eine andere Zeit überzuführen. Aus nicht erklärten Gründen widerstand man – einmal mehr in der Geschichte der Institution – der Versuchung, das Ballettensemble gänzlich aufzulösen. Auf den ersten Blick schien alles gegen die „Kunstgattung“ zu sprechen. Weder die anderen Künste noch die Presse oder die politisch Verantwortlichen sahen klassischen Tanz als Kunst an. Angriffspunkte waren: Das „Seichte“ der verwendeten Musik, die „Harmlosigkeit“ der herangezogenen Themen, dazu eine als oberflächlich angesehene Zurschaustellung von Weiblichkeit. Die geformte Bewegung, die Choreografie, war nicht von Interesse. Dazu kam der enorme finanzielle Aufwand für eine Gruppe von rund 140 Personen. Demgegenüber stand, so mochten Verantwortliche überlegt haben, dass der Ballettabend im Opernbetrieb an sich meist billiger als ein Opernabend ist. Gegen eine Auflösung sprach aber vor allem, dass ein erheblicher Teil des Opernrepertoires Tanzszenen beinhaltete, die nicht so einfach zu eliminieren waren.
So war man nach 1918 aus Repertoiregründen gleichsam gezwungen, das Ballettensemble im Verband der Institution zu belassen, setzte es aber einem kaum nachvollziehbaren Hin-und-her-Gezerre aus. Das Interesse, das der von 1919 bis 1924 amtierende Operndirektor Richard Strauss am Ballett an sich hegte, half immer nur dann, wann er gerade für das Genre komponierte. Da das zu Beginn der Zwanzigerjahre des Öfteren der Fall war und man nach einigen – offenbar durch Zurufe Nichtkompetenter entstandenen – Engagements 1923 endlich Heinrich Kröller als Ballettmeister ernannt hatte, konnte sich das Ensemble – vorübergehend – glücklich schätzen. Nach dem Weggang von Strauss hatte man gegen den nunmehr alleinigen Operndirektor Franz Schalk zu kämpfen. Er konnte sich nicht mit der zu dieser Zeit aktuellen Ballettmusik (etwa: Strawinski oder Béla Bartók) anfreunden und verhinderte somit neue Wege, die zu gehen, das Ballett durchaus im Stande gewesen wäre. Wie viele der für große Opernhäuser Verantwortlichen, gestand Schalk, sein künstlerisches Potential vollkommen ignorierend, dem Ballett im besten Fall unverbindliche, erotisch gewürzte Nettigkeiten zu. Nach dem durch widrige Arbeitsbedingungen hervorgerufenen Abgang Kröllers 1928 setzte durch Unwissenheit und Desinteresse der Verantwortlichen erneut Chaos ein. Das Engagement von Sascha Leontjew mag Beispiel dafür sein. Der Moderne Tänzer gehörte einem stilistisch völlig anderem „Lager“ an und wurde dementsprechend – eine Protestversammlung des Balletts noch vor Leontjews Amtsantritt hatte bei den Entscheidungsträgern nichts bewirkt – von den Mitgliedern des Ensembles geringschätzig behandelt.
Andere Zeiten, andere Vorgehensweisen?
Nach dem Weggang Nijinskas brach im Ballett des Hauses abermals Chaos aus. Die von Krauss angedachte Reform des Ballettensembles beschränkte sich (1932) auf dessen Reduzierung auf etwa 50 Mitglieder. Die Situation spitzte sich insofern zu, als man 1934 Krauss gänzlich „verlor“. Wer die Entscheidungsträger für die Wahl Margarete Wallmanns waren, ist nicht klar. War es noch Krauss selbst, Beamte der Generalintendanz beziehungsweise der Bundestheater und/oder Verantwortliche für die Salzburger Festspiele, die für dieses Engagement verantwortlich waren? 1934 zur Wiener Ballettmeisterin gekürt, fiel Wallmann 1938 der politischen Situation zum Opfer. Dass sie davor – eigentlich eine Vertreterin des Freien Tanzes – dem Widerstandsgeist der Wiener Tänzerschaft Paroli bot, mochte für die Streitbare Herausforderung gewesen sein. Vielleicht verstand schließlich auch das letzte Ensemblemitglied, dass ihre Produktionen in perfekter Weise der Ästhetik der Wiener Dreißigerjahre entsprachen.
Fragt man nun, wie früher Ballettleiter gefunden wurden, zeichnen sich im Laufe der Jahrhunderte vollkommen verschiedene Vorgehensmuster ab. Diese richteten sich nach der Verankerung des Balletts innerhalb der Institution Oper, die wiederum ein Spiegel des Bühnentanzes in einer sich verändernden Gesellschaft war. Während bis weit in das 18. Jahrhundert hinein die Souveräne selbst ihre Wahl trafen – sie waren selbst ausgebildete Tänzer und kannten die internationale Szene –, änderte sich die Situation zu jenem Zeitpunkt grundlegend, als das Ensemble sozusagen auf den freien Markt entlassen wurde.
Ballett am freien Markt
Die Unsicherheit, die der Hof um 1800 in Bezug auf den Unterhalt eines – der Wiener Institution Oper angehörigen – größeren Ballettensembles hatte, artikulierte 1817 ein dafür zuständiger Beamter, Johann Philipp Graf Stadion, Kaiser Franz I. gegenüber. Nach einigem Für und Wider, empfahl er, das Ensemble doch am Leben zu lassen, man könne sich doch – er schrieb dies expressiv verbis – der Damen wegen an dem Genre erfreuen. Während sich diese Haltung der (Männer-)Gesellschaft gegenüber der „Kunstgattung“ bis in das 20. Jahrhundert hinein nicht änderte – Schaulust konnte danach leicht anderweitig befriedigt werden –, nahm die Entwicklung des Ballettensembles selbst einen mehr als überraschenden Verlauf. Mit der keineswegs neuen Entscheidung, das Kärntnertortheater, wo das Hofopernballett beheimatet war, zu verpachten, zog der Hof seine Beamten weitgehend zurück und warf das Ballett gleichsam auf den freien Markt. (Schon im 18. Jahrhundert waren die Tänzer Joseph Carl Selliers und Franz Anton Hilverding sehr erfolgreich Pächter der Hof-Theater gewesen, im frühen 19. Jahrhundert erfüllte diese Funktion der Star-Tänzer Louis Duport.)
Da die Ballettszene im Laufe der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts immer mehr aufblühte, kam es in Wien zu einer geradezu fieberhaften Tätigkeit. Durch eine zeitweise gemeinsame Direktion von Theatern entstand das ungemein erfolgreiche Dreiergespann Kärntnertortheater – Mailänder Scala – Teatro San Carlo Neapel. Der ständige Austausch zwischen diesen Häusern, dem durch französischen Gäste wie Durchreisende nach St. Petersburg weitere Spannung erwuchs, ließ eine Ballettszene entstehen, die ständig Neues hervorbrachte. Die Errungenschaften einzelner Choreografen verbreiteten sich blitzartig. Die Frage nach einem zuständigen oder verantwortlichen Ballettmeister löste sich gleichsam von selbst, insofern nämlich, als – an einem Repertoiretheater nicht interessiert – die anwesenden Choreografen selbst ihre Ballette herausbrachten und auch betreuten. Es waren wohl die politischen Ereignisse, dazu die immer stärker werdende Idee einer „Nation“, die dieser Entwicklung ein Ende setzten. Die für diese Idee Verantwortlichen formierten sich und bestimmten von nun ab das Geschehen. Ein Choreograf der Jahrhundertmitte – Paul Taglioni – erleichterte den Übergang von der fluktuierenden Bewegung der Ballettszene der ersten Jahrhunderthälfte zur nationenbildenden Statik in der zweiten.
Das Ensemble im Dienste einer nationalen Institution
Eines der „offiziellen“ Bilder des preußischen Malers Franz Krüger zeigt Bürger und Honoratioren der Stadt Berlin, die 1840 auf der zentralen Prachtstraße Unter den Linden dem neuen König Friedrich Wilhelm IV. huldigen. Auf dem Gemälde finden sich nicht nur Vertreter des Militärs und der Gesellschaft, sondern auch Künstler. Unter ihnen ist, als weitere Überraschung, der 1808 in Wien geborene Paul Taglioni (Sohn von Filippo und Bruder von Marie Taglioni) zu finden, der seit den Dreißigerjahren das Berliner Ballett wesentlich mitbestimmte. Auch durch den hohen Grad der Unterstützung, die Paul von Seiten des Hof-Kapellmeisters Giacomo Meyerbeer erhielt, war ihm ein in der Geschichte des Balletts neuer gesellschaftlicher Aufstieg gelungen. Der nunmehr „seriöse“ Paul überzeugte – nach einigen Gastspielen in Wien – auch Kaiser Franz Joseph, sodass ihm die ehrenvolle Aufgabe übertragen wurde, das Ballettensemble in das neue Haus am Ring und damit in eine neue – nationale – Ära zu führen. Bei dem 1869 vorgelegten „Reformpapier“ traten die neuen Entscheidungsträger klar in Aktion. Die Direktion der Oper (Direktor war Franz von Dingelstedt) ist der „General Intendanz“ verantwortlich, die wiederum der „Obersten Hoftheaterdirektion“ untersteht. Für den „Reformplan der Personalzustände des Balletts“ sind Paul Taglioni, sein Wiener Statthalter Carl Telle und andere verantwortlich. Das Papier benennt klar die Aufgaben des Ballettmeisters, des „Ballettregisseurs“, des Ensembles sowie der Schule, die nunmehr als nationale Einrichtung an das Haus angeschlossen ist.
Diese Gegebenheiten der Zuständigkeit blieben bis zum Ende der Monarchie. Im Fokus stand nun der Aufbau eines nationalen Ensembles, ein bereits in der Schule vermittelter nationaler Stil. Dieser sollte dann in einer großgestalteten Anlage präsentiert werden, wobei man inhaltlich gesehen Kaiserhaus und Monarchie zu feiern hatte. Als ein gelungenes Beispiel dafür sei Josef Hassreiters „Rund um Wien“ (1894) erwähnt. Die Hauptaufgabe des Ballettregisseurs lag darüber hinaus in der Erstellung der Tanzszenen in Opern. Es versteht sich von selbst, dass diese auf Intensivierung und Beständigkeit ausgerichtete Politik keine oder wenig Veränderung wünschte. Die Telle-Nachfolge in den späten Achtzigerjahren ergab sich dann von selbst, vor allem: aus dem eigenen Haus. Nach dem Erfolg, den Hassreiter mit der „Puppenfee“ (1888) erzielen konnte, lag es auf der Hand, ihn als Ballettmeister zu wählen. Hassreiter führte dann den einmal eingeschlagenen Weg bis 1918 fort.
„Ich hab’ die Lust verloren …“
Das hohe Maß, mit dem die Direktion der Wiener Oper in den Zwanziger- und Dreißigerjahren mit der ihr übergeordneten Behörde zu kommunizieren hatte, erklärt sich aus der verheerenden ökonomischen Situation. Im Zuge dessen wurden manche von Seiten des Staates für die Oper zuständigen Herren – etwa Franz Schneiderhahn – für Persönlichkeiten wie Richard Strauss zu Unpersonen. Wiederholt, so etwa in der Nijinska-Krise, meldeten sich Experten mit Ratschlägen zu Wort. So der besonders am Modernen Tanz interessierte Adolf Loos, dessen Vorschlag eines Nijinska-Ersatzes aber, rückblickend gesehen, kaum zielführend gewesen wäre. So beendete Nijinska, nachdem sie die Tänze in Jaromír Weinbergers Oper „Schwanda, der Dudelsackpfeifer“ gestellt hatte, ihren kurzen Wienaufenthalt mit einem aus München – 37 Tage nach ihrem Amtsantritt – gesandten Telegramm an die Tänzer und Tänzerinnen des Ballettensembles: „Ich bin sehr traurig, daß ich nicht mit Ihnen arbeiten kann, um Ihnen zu helfen, ihren choreographischen Weg freizumachen und ihr Talent, das einzigartig ist in Ihrer Kunst, der Welt zu zeigen.“ Wiens Presse – in Sachen klassischer Tanz an sich uninteressiert – gab süffisante Kommentare ab, darunter auch der kolportierte Ausspruch, Nijinska habe keine Lust mehr, in Wien zu arbeiten.
Dass Krauss nur wenig später ein Telegramm ganz ähnlichen Inhalts an die Wiener Oper richten würde – er war von der zuständigen Behörde gekündigt worden –, konnte er 1930 noch nicht ahnen. Was sein Eintreten für das Ballettensemble betrifft, waren er selbst sowie sein engster Mitarbeiter, der der Rhythmusbewegung nahestehende Regisseur Lothar Wallerstein, Glücksfälle. Beiden war es nicht nur ein Anliegen, dem Tanz einen würdigen Platz an der Seite der Oper zu finden, sie wären – bessere Bedingungen vorausgesetzt – auch durch eigene Initiativen im Stande gewesen, diesem größeren Raum zu geben.
Ab 1938 gab es andere Entscheidungsträger. Die für alle Theater des „Reiches“ zuständige Reichstheaterkammer in Berlin „verschickte“, vorausgesetzt die Person war „arisch“, in die entferntesten Orte. Immerhin billigte man den Direktoren der Opernhäuser zu, selbst einen „Ballettleiter“ zu wählen. Dies traf voll und ganz für Wien zu. Heinrich Karl Strohm, von 1940 bis 1941 Direktor der Wiener Staatsoper, kam mit Helga Swedlund als Ballettmeisterin nach Wien, Ernst August Schneider, von 1941 bis 1943 Direktor des Hauses, später langjähriges Direktionsmitglied, brachte Erika Hanka. Besonders das Engagement Hankas (seit 1942) sollte sich als Glücksgriff erweisen.
Operndirektoren finden für das Ballett eine „lohnende“ Aufgabe: es „darf“ sich der Musikmoderne zuwenden
Die Beharrlichkeit, mit der Hanka ihren Weg als Ballettmeisterin der Wiener Oper bis zu ihrem Tod 1958 ging, ist beachtenswert. Weder Direktiven aus Berlin (bis 1945) noch Zurufe der Besatzungsmächte (nach 1945) oder das Desinteresse von Operndirektoren, von denen man abhängig blieb, änderten den ästhetischen Anspruch ihres Weges. Paradoxerweise war es gerade der Bildungsauftrag, den man der Institution Oper nach dem Ende des Kriegs überantwortet hatte, der Oper und Ballett etwas näherbrachte. Da die Oper kein Interesse daran hatte, die Musikmoderne zu pflegen, delegierte man die Aufgabe an das Ballett. Ihm überließ man es gerne, sich modernen Komponisten zu widmen. Dass die anlässlich der Wiedereröffnung des Hauses am Ring herausgekommene Uraufführung des Balletts von Boris Blacher „Der Mohr von Venedig“ in der Choreografie von Hanka als die erfolgreichste Produktion des Eröffnungsfestes angesehen wurde, überraschte dann doch.
Hatte man für die Institution Oper in den folgenden 60 Jahren eine Persönlichkeit zu finden, die dem Ballettensemble vorstehen sollte, bestimmte dies nicht das Ministerium – das für die Bestellung eines Direktors des Hauses verantwortlich ist –, sondern der Direktor des Hauses. Die solcherart entstandene Ungleichheit ließ eine Hierarchie beziehungsweise ein Abhängigkeitsverhältnis entstehen, das letztlich – wie die Geschichte dies lehrt – dem Ballett nur das zugesteht, „was übrigbleibt“. In der Reihe der Wiener Operndirektoren bewies allein Egon Seefehlner Fantasie und Mut. Erstmals in der Geschichte des Hauses nämlich, wählte er 1976 mit Gerhard Brunner eine Persönlichkeit zum Leiter des Ballettensembles, die nicht aus der Praxis kam. Er brach damit mit einer Gepflogenheit, die – aus unerfindlichen Gründen – wie festgeschrieben schien. Während gewesene Sänger, Dirigenten oder gar Komponisten als Operndirektoren in der Minderzahl sind, glaubt man, am Praktiker als Ballettleiter festhalten zu müssen. Ein Blick auf die internationale Ballettszene der vergangenen Jahrzehnte zeigt aber klar, dass – es sei denn das Ensemble kann sich glücklich schätzen, einen fähigen Chefchoreografen als Leiter zu haben – die Konstruktion Tänzer/Ballettmeister/Choreograf als Ballettdirektor für die künstlerische Entwicklung eines Ensembles selten weiterführend ist. Dieses Faktum erklärt sich auch aus der Tatsache, dass die Körperkunst Ballett, meist als geschlossener nationaler „Familienverband“ agierend, von einer Generation zur nächsten tradiert wird. Dieses schulisch-ästhetische Eingebettetsein in eine „Familie“ – der russischen, französischen oder anglo-amerikanischen – konstituiert zwar Gemeinschaft, unterbindet aber oft den Wunsch, Anderes erfahren zu wollen. Gerade diese Fähigkeit aber, Historisches und Neues TänzerInnen und Publikum zu bieten, um dies in Relation zum Eigenen und Anderen zu stellen, sollte ein guter Ballettdirektor besitzen. Die „Wiener Ballettdramaturgie“ Brunners, die er für das Ensemble der Staatsoper entwickelt hatte, erwies sich da als ideal. Nicht zuletzt war er es, der dafür sorgte, dass Nijinskas Meisterwerk „Les Noces“ doch an der Wiener Staatsoper zu erleben war.
PS
Die Ballettvorstände des K. K. Hof-Operntheaters beziehungsweise der Wiener Staatsoper seit Eröffnung des Hauses am Ring waren: 1869–1890 CARL TELLE, 1891–1919 JOSEF HASSREITER, 1919 CARL GODLEWSKI, 1920–1921 GEORGI KJAKSCHT, 1920/1921 NICOLA GUERRA, 1921–1923 CARL RAIMUND sen., 1923–1928 HEINRICH KRÖLLER, 1928–1930 SASCHA LEONTJEW, 1930 BRONISLAWA NIJINSKA, 1931–1933 TONI BIRKMEYER, 1934–1938 MARGARETE WALLMANN, 1940–1942 HELGA SWEDLUND, 1942–1958 ERIKA HANKA, 1958–1962 DIMITRIJE PARLIĆ, 1963–1966 AUREL VON MILLOSS, 1966–1971 WAZLAW ORLIKOWSKY, 1971–1974 AUREL VON MILLOSS, 1974–1976 RICHARD NOWOTNY, 1976–1990 GERHARD BRUNNER, 1990–1991 GERLINDE DILL, 1991–1993 ELENA TSCHERNISCHOVA, 1993–1995 ANNE WOOLLIAMS, 1995–2005 RENATO ZANELLA. 2005–2010 war GYULA HARANGOZÓ Direktor des Balletts der Wiener Staatsoper und Volksoper, seit 2010 ist MANUEL LEGRIS Direktor des Wiener Staatsballetts.