Die facettenreiche Vielfalt der Juwelen, die Alfred Roller 1907 in seinem Ballett „Rübezahl“ in der Wiener Hofoper auftanzen ließ, stellt jene von George Balanchines Ballett „Jewels“ aus dem Jahr 1967 glatt in den Schatten. Denn zu den Smaragden, Rubinen und Diamanten aus dem Kaukasus – oder vielleicht doch von der New Yorker Fifth Avenue? – kommen Adulare, Topase, Amethyste, Opale, Saphire, Türkise, Granate und Berylle aus dem Riesengebirge – oder vielleicht doch vom ehemaligen k. u. k. Hof- und Kammerjuwelier Köchert am Wiener Neuen Markt?
Es ist vor allem die zwischen den Uraufführungen der beiden Preziosenballette liegende lange Zeitspanne von 60 Jahren, die vermuten ließe, dass die beiden Werke – sieht man einmal von der verbindenden Hinwendung zu den Edelsteinen ab – nichts miteinander zu tun hätten. Ein eingehender Blick fördert jedoch weit mehr Gemeinsamkeiten zutage als gedacht. Da ist vor allem die Welt der Oper, die der ausschlaggebende „Fond“ für beide Künstler ist. Dazu gehören nicht nur die jeweiligen großen, traditionsreichen Häuser allein – das St. Petersburger Mariinski-Theater für Balanchine, die Wiener Hofoper für Roller –, sondern vielmehr die Institution selbst. Denn die Staatsmacht Russland und die von Österreich-Ungarn geben – so wie jeder künstlerischen Äußerung – auch dem Ballett als Repräsentationsträger Form, Struktur und Hierarchie vor. Die Werke beider Künstler bezeugen dies: Größe der Anlage wie Anzahl der Beteiligten, dazu die Form der jeweiligen Werke entsprechen – wenigstens auf den ersten Blick – dem für die Häuser in dieser Zeit Üblichen.
Ein zweiter Blick aber bringt die völlig unterschiedlichen Werkkonzeptionen zutage. Diese sind schon im Ansatz ersichtlich, denn Balanchine blickt 1967 – dem Jahr der Uraufführung von „Jewels“ – als höchst erfahrener Meister auf jene Jahre zurück, in denen für den 1904 in St. Petersburg Geborenen zuerst als Zögling der Ballettschule, dann als Mitglied des Ballettensembles die Basis seines Ballettverständnisses gelegt wurde. Der 1864 geborene Maler und Grafiker Roller jedoch, der vor seiner ersten Bühnenlösung für die Hofoper nicht das Geringste mit Ballett zu tun hatte, agiert 1907 als höchst fantasievoller Anreger für einen bestehenden schöpferischen Apparat. Als solcher geht er zur Überraschung vieler mit unbekümmertem Wagemut an das Ballettprojekt „Rübezahl“ mit der Absicht heran, Neues auf die Bühne zu stellen. Roller tut dies zwar weitgehend als (noch) Bühnenferner, jedoch als einer, der, wie die meisten Wiener Künstler der Jahrhundertwende, von „Bewegung“ erfasst ist. Als Lehrer der zu dieser Zeit omnipräsenten Kunstgewerbeschule, die ein Gefüge der Künste und des Handwerks auf ihre Fahnen geschrieben hat, weiß der Maler und Grafiker auch, diese Bewegung an seine Schülerschaft weiterzugeben. An Rollers Tun für die Hofoper kann nun der Prozess des Aneinanderrückens der Bühnenkünste verfolgt werden.
Aber noch ein anderer wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Werken ist festzuhalten: Während Balanchine seine Choreografie bei den musikalischen Räumen jener Komponisten ansetzt, die er für sein Ballett gewählt hat – es sind dies Gabriel Fauré, Igor Strawinski und Peter Iljitsch Tschaikowski –, geht Roller, seiner Profession gemäß, einen ganz anderen Weg. Was sich schon in seinen bis dahin in Zusammenarbeit mit Gustav Mahler entstandenen Opernproduktionen als ebenso neu wie erfolgreich erwiesen hat, steht auch jetzt im Zentrum des Interesses: der leere, mit neuen Beleuchtungsstrategien erhellte Bühnenraum und die bewegte Aktion darin.
Reformen aller Arten
Es ist kaum überraschend, dass die von Mahler überaus geförderte Aktivität Rollers – er war seit 1903 Vorstand des Ausstattungswesens der Hofoper – allgemein auf einige Verwunderung stieß, wobei diese im Hause selbst, besonders innerhalb der verschiedenen Körperschaften – Ballettensemble, Chor –, größer war als außerhalb. Begann sich „draußen“, etwa in Ausstellungshäusern wie der Secession, bereits die Tanzmoderne zu formieren – Isadora Duncan war just 1902, als Roller dort Präsident war, in diesem Haus der Kunst aufgetreten –, herrschte „drinnen“ eine andere Atmosphäre. Der Widerstand gegen Roller hatte sich schon vom Beginn seines Wirkens an formiert, er artete schließlich in offene Konfrontation aus. Ein Auslöser dafür war ein Versuch gewesen, den Chor zu größerer Bewegung zu animieren und damit den Weg zu einer Bewegungsregie einzuschlagen. Da größere Chorpassagen traditionsgemäß in einer in Halbkreisformation typisierten Aufstellung absolviert wurden, kam es, als Roller bei der „Fidelio“-Produktion von 1904 versuchte, Chormitglieder aufgegliedert zu führen, zu Protesten. (Man protestierte auch gegen das Gewicht seiner Reformkostüme. Als Roller sie abwiegen ließ, stellte sich heraus, dass sie einige Kilos leichter waren als die alten.) Was das Ballett betraf, war der Bühnenreformer bereits Kummer gewohnt, denn er hatte schon 1905 ein Werk dieser Gattung nicht nur ausgestattet, sondern wesentlich auch durch seine nicht ohne Widerspruch gebliebenen Gestaltungsprinzipien geprägt.
Ansätze solcher Art, das heißt, den Tanz von einer der an der Bühnenproduktion beteiligten Künste her zu reformieren, genauer: die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblichen Ballettstereotypen, wie man sie auch heute noch vom Werk Petipas her kennt, hinter sich zu lassen, war in diesen Jahren allerorts üblich. Von den Künstlergruppen, die sich verstärkt dafür einsetzten, ist wohl die russische „Welt der Kunst“ – in Wien durch wiederholte Ausstellungen bestens bekannt – die wichtigste. Ihre Bemühungen um den Bühnentanz mündeten bekanntlich in der Etablierung der Ballets Russes. Schon vor dem Debüt dieses Ballettensembles in Paris 1909 war Léon Bakst – in Wien spätestens seit seinem Plakat für die Ausstellung „Moderne russische Kunst“ in der Secession 1908 bestens bekannt – bemüht, die Bewegung seiner Dekorations- und Kostümentwurfe in den Bühnenraum hinaus zu weiten.
Ebendasselbe versuchte Roller (auch er Mitglied einer Künstlergruppe) noch vor „Rübezahl“ in den am 16. April 1905 uraufgeführten „Tanzbildern“ „Chopins Tänze“. In dem zweiteiligen Werk – das erste Bild ist in Warschau angesiedelt, das zweite in Paris 1840 – gibt es weitere verblüffende Parallelen zu St. Petersburg, denn das Ballett zu Chopin’scher Musik kann als Vorläufer eines der Meisterwerke von Michail Fokin gesehen werden. Tauchte in „Chopins Tänze“ der Komponist selbst als Bühnenfigur nur in Rollers Kostümentwürfen auf, so war dieser 1907 in „Chopiniana“ des russischen Choreografen tatsächlich als Partie in einem von Alexander Glasunow instrumentierten Nocturne präsent; die übrigen ebenfalls instrumentierten Klavierstücke waren bei Fokin wie schon im vorausgegangenen Ballett in Wien je nach deren Charakter farblich abschattiert. Als Pendant zu der im 2. Bild von „Chopins Tänze“ als Repräsentantin des Romantischen Balletts auftretenden Carlotta Grisi (dargestellt von der den „Minutenwalzer“ tanzenden Primaballerina Irene Sironi) findet sich in Fokins Ballett als Reminiszenz an Marie Taglioni die von Anna Pawlowa im von Bakst entworfenen langen Tutu und auf Spitze getanzte cis-Moll-Valse mit Michail Obuchow als Partner. Aus diesem Tanz der Erstfassung entwickelte Fokin 1908 in neuer Musikzusammenstellung das „Ballett nach Musik Chopins“, das seit 1909 im Osten den Titel „Chopiniana“, im Westen „Les Sylphides“ trägt.
Gleichzeitig mit den Wiener bildenden und „anwendenden“ Künstlern kamen Stimmen der (Wiener) Literatur, die dem Ballett durch eine neue Form des Librettos andere Impulse zu geben trachteten. Schon kurz nach der Jahrhundertwende hatte Hugo von Hofmannsthal, der das Aufblühen der Tanzmoderne genau beobachtete und auch kommentierte, das dreiteilige Ballett „Der Triumph der Zeit“ verfasst. Das Projekt, zu dem Alexander von Zemlinsky die Musik geschrieben hat, war jedoch, wie aus einem Brief Hofmannsthals an den Komponisten von 1901 hervorgeht, an der Ablehnung Mahlers gescheitert. Da wandte sich der Dichter, um den großen Einfluss Rollers auf Mahler wissend, mit der Bitte um Vermittlung an ihn. Es war dies die erste Kontaktaufnahme Hofmannsthals mit dem in der Folge so kongenialen Partner. Hofmannsthal schreibt am 14. März 1904 an Roller:
Nun ist das kleine Ballet, das wir da gemacht haben, so wenig revoltierend, so einleuchtend und ausführbar, dass ich wohl denke, es wird an den auswärtigen Bühnen – Berlin Dresden Wiesbaden – wo wir es eingereicht haben, anstandslos genommen und gespielt werden. Hier steht uns der große Übelstand im Weg, dass Director Mahler sich für die ganze Sache »Ballet« ausgesprochen nicht interessiert, das [!] ihm der ganze Begriff eher zuwider ist und dass die routiniers des Hauses (Hassreiter und dergl.) natürlich lieber immer ihre eigenen scheußlichen Ballete in denen Vergissmeinnicht und Rittersporn, oder die Allegorie des Briefkastels, oder Japaner und Russen vorkommen empfehlen werden, als etwas Hübsches.
Daher wird dieses Ballet an der Oper gespielt werden, wenn Sie es Mahler empfehlen, und es wird nicht gespielt werden, wenn Sie nicht dafür eintreten. Und ich muss sagen, dass ich diesen Sachverhalt weitaus den sympathischesten [finde]. Ich finde alles was Sie in der Oper machen, wunderschön, so schön dass mir jedes einzelne dieser Bühnenbilder in der Erinnerung eine große dauernde Freude ist.
Wenn Sie meine »Dichtung« als die Unterlage, als den groben canevas annehmen wollen, daraus etwas Schönes zu machen, eine Harmonie von Hintergrund und bewegten farbigen Gestalten – diese Harmonie ist durch die grotesken und vulgären Erfindungen der üblichen Ballette immer ganz ausgeschlossen – wenn es Ihnen ein bischen Freude macht, dort wo ich andeutete, wirklich zu schaffen, das lange fluthende Gewand und die schönen Lichtapparate von denen die Serpentintänzerinnen einen so hässlichen Gebrauch auf der hölzernen tingl-tangl-bühne machen, in ein Ganzes mit schönem Hintergrund, schönen wechselnden Himmelsfarben zu verweben, dann wird dieses kleine im Grund gar nicht epochenmachende Ballet doch eine Art Epoche machen als der erste wirkliche Zusammenklang der drei Künste […].
Roller, der offenbar schon als Mittler zwischen den Künsten angesehen wurde, vermochte es nicht, Mahler von dem Projekt Hofmannsthal/Zemlinsky zu überzeugen. Aus dem Mittelteil von „Der Triumph der Zeit“ war 1904 die endgültige, „Ein Tanzpoem“ benannte Fassung entstanden. In dieser Form wurde es schließlich 1992 in Zürich unter dem Ballettdirektor Bernd R. Bienert in einer Choreografie von Bertrand d’At uraufgeführt.
Rollers erster Versuch, den Tanz von Stereotypen zu lösen
Bedenkt man Rollers nun folgende Aktivitäten das Ballett betreffend, so ist davon auszugehen, dass das Genre sehr wohl Thema zwischen ihm und Mahler war. Sich ein Bild über Hintergründe und Entstehung sowie das Ausmaß von Rollers Einfluss auf Anlage und Gestaltung von „Chopins Tänze“ machen zu können, ist kaum mehr möglich. Die Instrumentation Chopins unternahm auf Wunsch Mahlers Hugo Riesenfeld. Der Violinist Riesenfeld, seit 1901 Mitglied des Orchesters der Wiener Hofoper, davor gemeinsam mit Arnold Schönberg eines Streichquartetts, war schon 1907 in die USA emigriert, wo er sich als hoch angesehener Filmkomponist (u. a. für Filme von Cecil B. DeMille, Friedrich Wilhelm Murnau und Ernst Lubitsch) etablieren konnte und 1937 für einen Oscar nominiert wurde.
Die in den Zeitungen erschienenen Betrachtungen von „Chopins Tänze“ (das Ballett wurde im Anschluss an „Cavalleria rusticana“ und „Der Bajazzo“ gegeben) waren von den, wie man es sah, ungeheuerlichen Grenzüberschreitungen überlagert, die man sich mit dem Ballett erlaubt hatte. Schon die Duncan – so die allgemeine Meinung – habe sich an Chopin „vergriffen“, noch empörender empfand man nun die Instrumentation von Klavierstücken. Dies verhelfe, so eine Zeitung, dem Werk zu einem „Bombendurchfall“, eine Behauptung die erwiesenermaßen nicht den Fakten entsprach. Die Rezensionen sind aber auch insofern aufschlussreich, als sie – hier als negativ empfunden – genau festhielten, was in der Realisierung des Werks den choreografischen Traditionen widersprach. Gerade daraus ist wiederum zu schließen, was als Neuheiten anzusehen ist. Auf völliges Unverständnis stieß der weitgehend handlungslose Tanz. „Es wird einfach volle fünf Viertelstunden unaufhörlich getanzt ohne die geringste Motivierung“, tadelte das „Neue Wiener Tagblatt“. Am meisten aber wurde bedauert, dass den „flott und schneidig“ tanzenden „feschen und graziösen Tänzerinnen“ keine Gelegenheit geboten wurde, ihre Virtuosität zu zeigen. Die Choreografie des langjährigen Ballettmeisters des Hauses, Josef Hassreiter, nannten die einen glänzend, die anderen uninspiriert, rückblickend bezeichnete Grete Wiesenthal sie als schablonenhaft, womit sie vermutlich recht hatte.
Im Übrigen ergriff die Wiesenthal, zu dieser Zeit noch Mitglied des Hofopernballetts und als solches an der Produktion „Chopins Tänze“ selbst beteiligt, Partei pro Roller. Während Kolleginnen, die Roller bei Kostümproben als „Wauwau“ erlebten hatten und ihn mehr fürchteten als Direktor Mahler und den „Fürschten“ (gemeint war der Zweite Obersthofmeister Alfred Fürst Montenuovo), war die Wiesenthal von Rollers bisherigem Tun im Haus tief beeindruckt. Ebenso beeindruckt war sie, an deren Seite seit 1904 ihr späterer Mann stand, der Roller-Schüler Erwin Lang, vom neuen Spielstil und den „Bewegungen“ der Sängerinnen Anna von Mildenburg und Marie Gutheil-Schoder. Hinzugefügt sei, dass „Chopins Tänze“ die Ära Mahler nicht überlebte, das Ballett wurde bis Ende 1907 19 Mal gespielt. Aus seinem Kontext herausgelöst, war das 2. Bild 1906 auch als Einlage in „Die Fledermaus“ zu sehen.
Vom großen Berggeist, dem Herrn des Riesengebirges
So wie im Fall von „Chopins Tänze“ liegt auch die Entstehung des einaktigen Balletts „Rübezahl“ im Dunklen. Nur ein Rundfunkinterview mit Alma Mahler-Werfel von 1962 gibt einige Details preis. Eines Tages, so erzählt die Witwe Mahlers anekdotenhaft, habe Roller verlauten lassen, er wolle „ein Ballett verfassen und es auch selber choreographieren“. Mahler habe zu Hause begeistert davon erzählt; nach seiner Zusage, so wird weiter berichtet, habe sich der sonst so aristokratische Roller aus Euphorie wie verwandelt gezeigt, ja er hätte sich selbst als Tänzer gesehen, er habe auch „all die Allüren dieser Künstlergattung“ angenommen. „‚Alfred der Großeʻ, ein ‚danseur nobleʻ unter ersten Tänzern und Tänzerinnen“, berichtet Mahler-Werfel und führt weiter aus: „In seinem Büro wimmelte es dauernd von Ballettmitgliedern. Man konnte kaum zu ihm vordringen. Das künftige Ballett interessierte ihn übermächtig.“ Dass, so wie in „Chopins Tänze“, in denen Roller mit Hassreiter zusammenarbeitete, letztendlich auch in „Rübezahl“ jemand für die eigentliche Choreografie und Roller nur für die großen Bewegungsabläufe im Raum verantwortlich war, geht Mahler-Werfel in ihrer Erzählung aber nicht ein.
Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass sich unter Mahlers frühen kompositorischen Plänen eine Rübezahl-Oper befand. An dem letztlich nicht realisierten Projekt hatte er zwischen 1879 und 1882 gearbeitet. Es ist davon auszugehen, dass Roller durch Mahlers Erzählungen seiner alten Pläne zu seinem Ballett angeregt wurde. Als wolle Mahler im letzten Jahr seiner Hofopernintendanz 1907 alle seine – dem Empfinden des Ballettensembles wie seines Ballettmeisters Hassreiter nach – dem Ballett entgegengebrachten Missbilligungen wiedergutmachen, setzte er sich – trotz der hohen Kosten – nachdrücklich für „Rübezahl“ ein. Carl Godlewski, der im Haus als Anwalt des neuen Tanzes galt, wurde mit der Choreografie betraut, die Musikzusammenstellung besorgte Ballettdirigent Julius Lehnert. Ein im Mittelpunkt des etwa einstündigen Werks stehendes Juwelen-Ballabile brachte Teile aus „Naila“ („La Source“) von Léo Delibes und Ludwig Minkus sowie bisher an der Hofoper nicht verwendete Nummern aus den Delibes-Balletten „Coppélia“ und „Sylvia“, dazu den Walzer „Petitionen“ von Josef Strauß. (Ob der damals in Wien lebende Minkus seine 1866 für die Pariser Opéra komponierte Musik bei einer Vorstellung auch hörte, ist nicht überliefert.)
Bevor jedoch „Rübezahl“ am 1. Juni 1907 (gemeinsam mit „Der Bajazzo“) auf die Bühne kam, hatte das Ballett noch eine andere Arbeit Rollers auszuführen. In seiner schon legendär gewordenen Inszenierung der „Iphigenie in Aulis“ (März 1907) hatte Roller selbst die Bewegungsfolgen der Priesterinnen gestellt. Diese beschränkten sich – im Stile der Tanzmoderne auf die überlieferte Antike als eine ihrer Quellen blickend – auf gemessenes Schreiten. Grete und Elsa Wiesenthal führten den Tanz an. Die Schwestern hatten Roller schon 1906 im Atelier des Malers Rudolf Huber vorgetanzt, daraufhin wurde im Februar 1907 Grete von Roller Mahler als Besetzung für die Titelrolle der „Stummen von Portici“ empfohlen. Der durch die gegen Hierarchie und tänzerfachliche Zuständigkeit verstoßende Rollenzuteilung und die Hinwegsetzung über Hassreiters Kompetenzen entstandene Skandal trug zur Demission von Mahler bei. Sein diesbezügliches Ansuchen reichte Mahler wenige Tage vor der „Rübezahl“-Premiere der Generalintendanz ein, offiziell endete seine Amtszeit am 31. Dezember 1907. Einem von Hassreiter aufgrund dieses Vorfalls eingereichten Demissionsansuchen wurde nicht stattgegeben. Schon Ende Mai hatten die Schwestern Wiesenthal die Hofoper verlassen, um eine selbstbestimmte Karriere zu verfolgen. Auf ausdrücklichen Wunsch Mahlers waren sie am 5. Mai noch einmal in der „Iphigenie“ aufgetreten.
Tänzerinnen werden zu Juwelen
Ein Blick auf die Ballett-Berichterstattung in seriösen Wiener Zeitungen offenbart vor allem die allgemeine Sicht auf das Genre Ballett als nicht ernst zu nehmende Kunstgattung. Warum man dennoch daran festhielt, ist ungewiss. Ein Grund dafür war sicherlich, dass der Betrachter sich an sich bewegenden und Fertigkeiten präsentierenden Frauenkörpern in einem gesellschaftlich „möglichen“ Ambiente erfreuen konnte. Dementsprechend war der Ton der (männlichen) Rezensenten. Er schwankte zwischen nachsichtigem Wohlwollen und gutmütiger Duldung. Fachliche Anmerkungen zu machen war verpönt, man verzichtete sogar, sich stereotyper Redewendungen bedienend, auf die hohe Qualität der Formulierungen, mit der man sonst zu glänzen trachtete. So etwa eine von J. K. gezeichnete Betrachtung in der „Neuen Freien Presse“, wobei sich hinter den Initialen wohl Julius Korngold verbirgt. Nach immer wieder eingestreuten Aperçus, etwa „Rübezahl“ sei als Rollers ausschwelgende „Malerphantasie“ voller „Farbenakkorde“ zu sehen, werden die Tänzerinnen immerhin zu „Juwelen“ erhoben. Der Sarkasmus, der vergleichsweise milde ausfällt, sagt kaum etwas über das gezeigte Werk aus. (Bei dieser Zurückhaltung kommt einem der Sohn von Julius, Erich Wolfgang, in den Sinn, der ja bereits in diesen Jahren als Wunderkind in Erscheinung getreten ist. Wer weiß, mochte der Vater überlegt haben, vielleicht könnte das begabte Kind bald mit einem kleinen Werk – einem Ballett? – in der Hofoper in Erscheinung treten? Tatsächlich wurde dann drei Jahre später an diesem Haus das vom elfjährigen Erich Wolfgang als Klavierwerk komponierte, von seinem Lehrer Zemlinsky orchestrierte „Der Schneemann“ in der Choreografie von Godlewski uraufgeführt.)
Bei anderen „Rübezahl“-Rezensionen kommen schnell Hintergedanken beziehungsweise ein ästhetischer und gesellschaftspolitischer Hintergrund zutage. Mahler-Gegner geben sich insofern sofort zu erkennen, als sie von ausgehungerten (Ballett-)Enthusiasten sprechen. Ausgangspunkt der Kritik ist immer das Libretto, die Choreografie bleibt fast völlig unbeachtet. Mehr noch als das Auftreten der neu engagierten, streng klassisch tanzenden Primaballerina Cäcilie Cerri als Diamant erregte der noch für die Schwestern Wiesenthal gestellte Tanz der Opale Aufsehen, der „nur schönen Linienfluß der Glieder“ zeigte. Kritiken zufolge tat das nunmehrige Fehlen der Wiesenthals der Wirkung des nun von Kolleginnen (Hermine Wasserbauer und Lene Jamrich) ausgeführten Tanzes aber keinen Abbruch. Positiv zu vermerken ist, dass man – in der „Zeit“ – die Verwandtschaft der Choreografie der Opale mit dem Tanz von Ruth St. Denis wahrnahm (die amerikanische Wegbereiterin der Moderne hatte im Jänner 1907 im Ronacher ihr Wien-Debüt gegeben).
Tanz an sich wurde immer wieder als aussagelos angesehen. Max Kalbeck etwa seufzt im „Neuen Wiener Tagblatt“, dass „endlos“ und sogar „belehrend“ getanzt wird! Und stellt dann resignierend fest: „Soviel ist in der Wiener Hofoper lange nicht getanzt worden.“ Die Figur des Rübezahl werde zum bloßen Maître de plaisir degradiert, der nichts anderes zu tun hat als das Ballettkorps eine Reihe von Tänzen ausführen zu lassen. Rollers Bemühungen um spezielle Effekte mit Schleier und Farbwirkungen (etwa ein von „Rubinlicht überfluteter großartiger Pas d᾽action“) wurden gewürdigt. Überraschend ist, dass man Minkus fast ausschließlich lobend erwähnt. Trotz der wiederholt betonten günstigen Aufnahme seitens des Publikums überlebte „Rübezahl“ die erste Schaffensperiode Rollers im Haus am Ring nur um ein Jahr. Nach 16 Aufführungen verschwand es 1910 vom Spielplan.
Roller und Balanchine – gemeinsam unter dem Dach der Wiener Oper?
Nachdem Mahler 1907 die Hofoper verlassen hatte, folgte ihm Roller 1909; in ebendiesem Jahr übernahm er die Direktion der Kunstgewerbeschule. Für seinen bereits eingeschlagenen Weg, die immer erfolgreicher werdende Tanzmoderne in die Gestaltung von Opern zu integrieren, bedeutete dies einen herben Rückschlag. Zwar stand Mahlers Nachfolger Felix Weingartner – wie einige Produktionen, etwa Korngolds „Schneemann“, dies zeigen – einer Ballettreform durchaus wohlwollend gegenüber, doch bildete sie keineswegs das Zentrum seines Interesses. Der Weggang Rollers aus der Oper ist umso bedauerlicher, als er erst 1911 in Hellerau bei Dresden mit jener Rhythmusbewegung von Émile Jaques-Dalcroze vertraut wurde, die, in Zusammenarbeit mit Adolphe Appia, zur Basis einer zeitgenössischen Opernregie wurde. Begeistert berichtet er seiner Frau Mileva über eine Vorführung der Methode des aus Wien gebürtigen Schweizer Musikpädagogen, die Musik und Bewegung ineinandergreifen lässt. Das „Schöne“, das er gesehen habe, zeige die „Zukunftsmöglichkeiten, die sich da grenzenlos eröffnen“. Dass die Methode Jaques-Dalcroze nicht nur sehr bald auf Schulebene in Wien Fuß fasste, sondern dass die Jaques-Dalcroze-Schülerin Suzanne Perrottet 1913 das „Tannhäuser“-Bacchanal in der Hofoper choreografierte, zeigt, dass Roller die Möglichkeiten der Methode für die Musiktheaterbühne sofort erkannte.
War bislang nur von Rollers und Balanchines Aufeinandertreffen auf Stoffebene die Rede, auf der man – jeweils von einer anderen Kunst herkommend – Juwelen mit Tänzerinnen und Tänzern in Zusammenhang brachte, so soll noch von der realen Ebene berichtet werden. Die Annahme, Roller und Balanchine seien sich in der Wiener Oper begegnet, ist keineswegs abwegig. Als die Ballets Russes nämlich 1927 in Wien gastierten, war Balanchine als deren Ballettmeister, Choreograf und Tänzer präsent. Für den seit 1919 wieder als Ausstattungschef der Oper tätigen Roller mochten insbesondere Pablo Picassos Dekoration und Kostüme zu „Der Dreispitz“, worin Balanchine den Corregidor verkörperte, und die konstruktivistische Ausstattung von Naum Gabo und Antoine Pevsner zu Balanchines „La Chatte“ von Interesse gewesen sein.
Nach der Auflösung der Ballets Russes ging Balanchine in die USA. Mit Europa ließ er auch bald Struktur und Form, aber auch das Libretto, das noch um die Jahrhundertwende zwingend zum Bühnentanz gehörte, hinter sich. 1935 präsentierte er mit „Serenade“ ein Werk, das sich ganz und gar auf den Tanz konzentrierte. Er verfolgte damit konsequent jenen Weg, den Roller Jahrzehnte vorher in „Rübezahl“ (und wohl auch in „Chopins Tänze“) mit der Erhebung des reinen Tanzes zum stücktragenden Element eröffnet hatte. Mit weiteren Balletten, darunter auch „Jewels“, war Balanchine, Erzählungen hinter sich lassend, zum eigentlichen Sujet eines Balletts vorgedrungen: zum geformten Tanz selbst. Die Ausführenden, die Tänzerinnen und Tänzer, machte auch er zu „Juwelen“ seiner Kunst – oder, wie Balanchine selbst es sah, seines „Handwerks“.
Für die Erlaubnis, den Hofmannsthal-Brief zu zitieren, ergeht Dank an Dr. Christiane Mühlegger-Henhapel, Theatermuseum Wien. Brief (ÖTM – AM 47295 Ro) – drei Doppelblätter. Eine kommentierte Edition des Hofmannsthal/Roller/Strauss-Briefwechsels ist in Vorbereitung und wird voraussichtlich 2020 erscheinen.