Situationsbedingt musste der Premierentermin 24. November 2020 für Martin Schläpfers „4“ zu Gustav Mahlers vierter Sinfonie an der Wiener Staatsoper verschoben werden, auf ein ehebaldiges Nachholen wird gehofft! – Apropos Mahler, der allgemein als der beste Wiener Operndirektor gilt: Die Tatsache der Zuständigkeit des Hauses für Ballett sowie die Letztverantwortlichkeit des Direktors auch für diese Gattung lassen an diesem Befund zweifeln. Die Feststellung allerdings, Mahler habe in Ballettbelangen versagt, trifft nicht zu. Denn schlimmer noch: Mahler ließ das Genre, wenn er es nicht benötigte, einfach links liegen.
Die Ignoranz dem Wiener Ballettschaffen um 1900 gegenüber sei – so ein ähnlicher, ebenfalls bis heute tradierter Konsens – nur zu verständlich, sei doch das Genre, wie man heute rückblickend glaubt, an sich eine sterbende Spezies gewesen, eine Überzeugung, die aus mehreren Gründen Staunen macht. Dies vor allem aufgrund der Tatsache, dass mangels verwertbarer Notationen eine seriöse – von der Choreografie ausgehende – Beurteilung gar nicht möglich ist. Denn: Außer der kontinuierlich gespielten „Puppenfee“ ist keines der Wiener Werke aus dem 19. Jahrhundert tradiert, was keineswegs einer etwaigen minderen Qualität geschuldet ist als vielmehr einer Akzentuierung des Ballettrepertoires auf Neuheiten. So muss also gefragt werden: Woran wird das so überaus ungünstige Urteil festgemacht? Und: Was sind die Urteilskriterien dafür? (Nicht nur) im Falle Mahlers kommt bezüglich des immerfort weitergegebenen negativen Urteils ein in der Geschichtsschreibung interessantes Phänomen hinzu: Je prominenter der Urteilende, desto nachhaltiger das Tradieren des Urteils. Hat sich die durch eine anerkannte Persönlichkeit der Geschichte geäußerte Meinung erst einmal festgesetzt, wird sie in den seltensten Fällen revidiert.
Abgesehen von dem einfachen Sachverhalt, dass es im Falle Mahlers und seines gestörten Verhältnisses zum Ballett ganz einfach um den Zusammenprall zwischen der Kunst um 1900 mit dem vergangenen Jahrhundert geht, bedarf es kaum tradierter Werke, um ein objektiv festzustellendes Fehlverhalten Mahlers festzumachen. Zahlen und Fakten belegen dies sehr schnell. Da das Thema „Mahler und das Ballett“ im Zuge der 150. Wiederkehr der Eröffnung des Hauses am Ring eingehender aufgegriffen wurde, soll es hier nicht weiter ausgeführt werden. Hier soll also nicht von der nach der Ära Wilhelm Jahns als Hofoperndirektor unter Mahler in erschreckendem Maße sinkenden Zahl der Ballettabende erzählt werden und nicht davon, dass man das Ballett (fast) nur noch dann einsetzte, wenn man es für Ballettszenen in Opern benötigte. Hier soll auch nicht von den bewussten Entscheidungen Mahlers gegen einige Ballettprojekte an der Hofoper berichtet werden. Dazu gehören immerhin Pjotr Iljitsch Tschaikowskis „Dornröschen“, Johann Strauß᾽ „Aschenbrödel“ sowie ein Werk von Alexander Zemlinsky mit einem Libretto von Hugo von Hofmannsthal. Sie alle hätten eine neue Ästhetik in der Oper etablieren können. Ebenso soll hier nicht von den Spannungen zwischen Mahler und dem Ballettmeister des Hauses, dem überaus erfolgreichen Josef Hassreiter, die Rede sein, den der Operndirektor wohl als direkten Kontrahenten in Sachen Ballett ansah. Diese ablehnende Haltung betraf sicherlich weniger sein Werk als vielmehr Hassreiters Selbstverständnis. Unverhohlen und explizit vertrat dieser nämlich, den man fachlich als exzellenten Handwerker sehen kann, eine Lebensauffassung, zu der ein (zu dieser Zeit freilich übliches) abwertendes Frauenbild gehörte. Dieses war Mahler offenbar zutiefst zuwider. Hassreiters – aus heutiger Sicht – ohne Zweifel als frivol und anzüglich zu bezeichnendes Verhalten vertrat dieser umso selbstbewusster, als er sich dabei in „allerhöchster“ Gesellschaft wusste.
Im Folgenden soll also von all dem nicht die Rede sein, vielmehr soll in Bezug auf Mahler auf ein ganz besonderes Phänomen der Ballettgeschichte hingewiesen und in der Folge gefragt werden: Wieso wurde die Musik Mahlers – eines Komponisten also, der der Kunstgattung Ballett ablehnend gegenüberstand – die musikalische Grundlage so vieler Ballette des 20. und 21. Jahrhunderts? Jüngstes Beispiel dafür ist die „4“ genannte, für das Wiener Staatsballett erarbeitete Interpretation Martin Schläpfers von Mahlers vierter Sinfonie. Eine Antwort kann lauten: Die Choreografen reagieren körperlich auf Mahlers Musik, die wiederum Ausdruck einer gefühlten, unverwechselbaren und außergewöhnlichen Körperlichkeit ist. Allein was die vierte Sinfonie betrifft, verliehen ihr bereits mehrere Choreografen Bühnengestalt: Oscar Araiz 1976 beim Royal Winnipeg Ballet, John Neumeier zuerst 1977 beim Royal Ballet, dann bei seinem Hamburg Ballett und dem Stuttgarter Ballett, Jörg Mannes 2005 am Landestheater Linz.
Die Zeit reagiert auf Mahlers Körperlichkeit vollkommen hilflos
Es bedarf einer eigenen Studie, herauszufinden, wann eine Zeit bereit ist, sich seriös mit dem Körper auseinanderzusetzen und was denn nun ausschlaggebend dafür ist, dass, nach Jahren der Blickverweigerung, Körperlichkeit (erneut) in den Blickpunkt von Auseinandersetzungen rückt. Dabei ist wiederum von Interesse, von welcher Disziplin aus der Anstoß dazu kommt. Auf dem Weg zu den heutigen intensiven Körperbetrachtungen und diesbezüglichen Forschungsprojekten – eines davon „DirigentenBilder. Musikalische Gesten – verkörperte Musik“ im Rahmen des Forschungsprojekts „Hörbare Gebärden – Der Körper in der Musik“ der Universität Basel – findet sich immerhin Theodor W. Adornos 1960 erschienene Schrift „Mahler. Eine musikalische Physiognomik“. Allgemein gesehen spielt Mahlers Körperlichkeit in den heutigen Betrachtungen nicht nur eine erste Rolle, man widmet sich auch verschiedenen Facetten dieser Körperlichkeit. Teil eines „Skizzen“-Titels von Silvan Moosmüller ist „Gustav Mahler und der schöpferische Tanz des Dirigenten“. Und Nicola Gess schreibt in ihrem Aufsatz „Zur Geste bei Mahler. Unterbrechungen mit Benjamin“ von einem Ausspruch des Dirigenten und Komponisten Hans Zender, der den Bericht eines Musikers wiedergibt. Er habe in einer Aufführung der dritten Sinfonie unter dem Dirigat Mahlers gespielt. Eine Stelle der Sinfonie habe Mahler, so die Beobachtung des Musikers, „wohl zuerst dirigiert und dann komponiert“.
Diese Bemerkung ragt wohl aus all den Aussagen von Zeitgenossen heraus, denn versucht man der Rezeption der Körperlichkeit Mahlers nachzugehen, stößt man mehrheitlich auf heute höchst Befremdendes. Überblickt man nämlich die Kommentare und Beobachtungen zu Mahler – und dies gilt sowohl der Musik wie der privaten Person –, so fällt sofort auf: die dynamische Körperlichkeit Mahlers einerseits, die in Bezug auf seine Person alsogleich angesprochen wird, sowie andererseits die völlige Hilflosigkeit der damaligen Gesellschaft, damit umzugehen. Und man kann an diesem Umstand sofort erkennen – dies trotz der in dieser Zeit schon in Gang befindlichen Reformbewegungen –, wie schwer es damals fiel, körperliche Bewegung an sich positiv zu bewerten. Man wusste keine andere Reaktion zu setzen als mit ironisierenden und karikierenden Texten und Bildern. Diese versuchten, das, was man als skurril, grotesk, sogar dämonisch empfand, noch zu übersteigern.
In den Räumen, in denen Mahler agierte, besonders seit dem 1897 erfolgten Antritt als Direktor der Wiener Hofoper, pflegte man andere Umgangsformen. Gemäß Herkunft und Stand hatte man körperlich gefasst, ruhig und gelassen zu sein. Gebärden und Gesichtszüge hatte man im Zaum zu halten. Private und offizielle Wege waren (beiden Geschlechtern) vorgezeichnet, Rollenbilder, selbst jene von Künstlern, hatten in bestimmten Bahnen zu verlaufen. Jede Besonderheit, jede Regung, jede nicht übliche körperliche Äußerung wurde bemerkt, festgehalten und als „abnormal“ eingestuft. Maskenhaftes war gewünscht, einer Forderung, der Mahler zuweilen auch nachkam.
Mahler wird je nach Einstellung des Betrachters in verschiedener Weise gesehen. Zum einen als ewig gehetzt, zum anderen „voller Energie“, dann wieder „nervös“ und „in größter Eile“, oder aber voll „Vitalität“, „lebensnah, munter, kraftvoll und energisch“. Was die einen als „wirres Durcheinander“ wahrnahmen, empfanden andere als „gefühlte Musik“; Grimassen, die das Gesicht unkenntlich machten, wurden als Ausdruck „innerer Notwendigkeiten“ gedeutet. Und was von so manchen als „schrille Gebärde“ eingestuft wurde, bewerteten einige wenige als Gabe, keiner „unbeseelten Geste“ fähig zu sein. Viele nahmen Mahler auch nur stampfend und rennend wahr. Diese Beobachtungen galten sowohl dem Privatmann wie dem Dirigenten Mahler. So erinnert sich ein deutscher Orchestermusiker an die Arbeit mit Mahler: „In der ersten Probe mußte sich das Orchester natürlich erst an Mahlers Direktionsweise gewöhnen. In der ersten halben Stunde wurde alles so nervös, daß niemand einen freien Ton herauszublasen oder einen ruhigen Bogenstrich zu tun imstande war.“
Das besonders hohe Maß an Bewegung, das Mahlers Dirigat zu eigen war, missfiel besonders den omnipräsenten Wiener Antisemiten, was wiederum auch im grundsätzlichen Misstrauen bezüglich jeder Körperlichkeit zu suchen ist. In Zusammenhang mit dieser besonderen Art Mahlers zu dirigieren, entwickelte man – je nach der Intensität des vertretenen Antisemitismus – eine ganze Bandbreite von Interpretationen. Diese reichte vom „Wiener Alltags-Antisemitismus“, einer zwar abwertend, im Grunde aber durchaus liebevoll gemeinten „Light-Fassung“, bis zu Aussagen, die an Aggressivität und Bösartigkeit nicht zu überbieten sind. In der Analyse von Mahlers Dirigierweise kommt 1898 ein „deutsches“ Blatt zu dem Schluss, die linke Hand wisse nicht, was die rechte tue: „Die Linke Mahlers in konvulsivischen Zuckungen markiert oft den böhmischen Zirkel, sie scharrt nach Schätzen, sie tremoliert, sie hascht, sie sucht, sie erwürgt, sie kämpft mit den Wogen, sie erdrosselt Säuglinge, sie walkt, sie schlägt die Volte – kurz, sie befindet sich oft im Delirium tremens, aber sie dirigiert nicht.“
Im Zuge dieser Einschätzungen, die Mahlers sehr direkt wirkende Körperlichkeit dazu benutzen, sich abfällig über ihn zu äußern, entstand sukzessive in Wien – auch – ein Mahler-Image, dass die Erscheinung des Komponisten als „unansehnlich, schwächlich, häßlich“, schließlich als „zappelndes Nervenbündel“ beschreibt. Genau diesem Image stellt sich Alfred Roller, Mahlers Ausstattungschef und engster Mitarbeiter, in einem ausführlichen Kommentar entschieden entgegen. Roller tut dies zunächst mit den Augen eines Malers und Lehrers (er war vor seiner Zeit in der Hofoper einer der bekanntesten Lehrer an der Wiener Kunstgewerbeschule). Roller tut dies aber auch als einer der Gründerväter der Wiener Moderne, der weiß, dass ein wesentliches Kennzeichen dieser Richtung die Bewegung ist. Und Roller tut es im Bewusstsein des Aufkeimens einer Wiener Tanzmoderne. Mit modernen Tänzerkörpern im Blick – er war es, der Grete Wiesenthal Mahler empfahl – kennt er bereits das Potenzial dieser neuen Richtung des Tanzes. Und Roller beschreibt den Körper Mahlers auch in dem Bewusstsein, dass dieser als Katalysator zwischen seinem kompositorischen Wollen und seiner Musik wirkt, sodass diese zum Ausdrucksträger seiner Körperlichkeit wird.
Roller beschreibt also Mahlers Körper. Diese erst nach dem Tod Mahlers entstandene „Abhandlung“ bezieht ihre Besonderheit aus einer Körperanalyse, deren liebevolle und bewundernde Präzision in der Tanzliteratur wohl nur mit Lincoln Kirsteins Betrachtungen von Wazlaw-Nijinski-Fotografien verglichen werden kann.
Von äußerlich Sichtbarem
Rollers Standpunkt war der eines akademischen Malers, der nicht nur den Körper an sich, sondern auch jenes Bewegungsvermögen in seinen Blick mit einbezog, das Mahler dank seiner Disposition auszuführen imstande war. Zunächst erklärt er:
„Ich habe infolge meines Berufes eine große Zahl nackter Menschenkörper aller Art beobachtet und erkläre, daß der vierzigjährige Mahler einen tadellos schönen, kräftig-schlanken Manneskörper besaß, der allerdings kaum ganz siebeneinhalb Kopflängen gemessen haben mochte.“ (Mahler war 1,63 Meter groß.) Es seien gemeinsame Sommerfrischen gewesen, so erzählt Roller, wo er Gelegenheit hatte, diesen Körper so genau zu beobachten.
„Ich konnte, als ich ihn zum erstenmal nackt sah, eine Bemerkung der Überraschung über diese Muskelpracht nicht zurückhalten. Mahler lachte gutmütig, da er merkte, daß auch ich durch das allgemeine Geschwätz über seine dürftige Körperlichkeit beeinflußt worden war.“ Und Roller führt dann aus: „Dieser Körper war von großem Ebenmaß und ausgesprochenen männlichen Proportionen. Die Schultern waren breiter, als der bekleidete Körper vermuten ließ, und vollkommen symmetrisch gebaut. Das Becken war sehr schmal. Die Beine, keineswegs besonders kurz, hatten absolut schön und regelmäßig gestellte Achsen, harte, klar entwickelte Muskel und schwache Behaarung. Übertriebene Adernausprägung fehlte gänzlich. Die Füße waren klein mit hochgebautem Rist und kurzen, regelmäßigen, vollkommen fehlerfreien Zehen. Die Brust hatte kräftige Wölbung, geringe Behaarung und sehr klar gezeichnete Muskelansätze. Der Bauch war, bei starker Betonung des geraden Bauchmuskels, ohne jeden sichtbaren Fettansatz, wie übrigens der ganz Körper, und zeigt die Inskriptionen so deutlich wie bei einem Mustermodell.“ (Zu der Erwähnung „Mustermodell“ sei angemerkt, dass auch Tänzer als Modell in Aktklassen zu Verfügung standen.)
Und Roller setzt dann fort: „Am schönsten entwickelt, geradezu sehenswert wegen der Klarheit ihrer Formen, war die Rückenmuskulatur. Ich konnte diesen prachtvoll modellierten, braungebrannten Rücken nie ansehen, ohne an ein fites Rennpferd erinnert zu werden. Seine Hand war eine rechte Arbeiterhand, kurz und breit, und die Finger ohne Verjüngung wie abgehackt endigend. (…) Schlank waren die Arme, wenigstens im Verhältnis zu ihrer großen Kraft. Denn Mahler war im Gegensatz zu der verbreiteten Vorstellung sehr muskelstark. Viele sahen ihn gelegentlich aus dem Orchester über die Rampe auf die Bühne hinaufvoltigieren.“ Die Kraft dieses Körpers zeige sich, so Roller, gerade im Dirigieren, denn „das lange Stehen auf der schmalen, oft geländerlosen Plattform des Konzertdirigenten, hoch über den Köpfen der Parterrebesucher, [war] sicher auch eine körperliche Kraftleistung.“
Innere Bewegung tritt körperlich zutage
Als Roller diese Körperanalyse schrieb, war Mahler bereits ein Jahrzehnt tot. Für Roller waren dies Jahre gewesen, in denen sich seine Beobachtungen in sich festigen konnten. Einen Festigungsprozess solcher Art hatten offenbar auch andere durchlebt, denn nun, 1921, erschienen allerorts in höchstem Maße preisende Einschätzungen. Zu diesen gehört auch eine Betrachtung Elsa Bienenfelds – eine führende Feuilletonistin der Zeit –, die sie schlicht „Mahler, der Dirigent“ nennt. Die sofort ins Auge stechenden Charakteristika, die sie wahrnimmt, heißen Bewegung, Gefühl und Dynamik.
Schon in seinen jungen, seinen Prager Jahren (1885/86) sei Mahler als Dirigent wie ein Feuerstrom einhergebraust, damals eine „hoffmanneske Gestalt von dämonischem Aussehen“. Klein gewachsen, schien er, so Bienenfeld, zu „riesenhafter Größe zu wachsen, die Arme beschwörend in die Luft gestreckt, mit Wut nach aufwärts gerichtet“. Dabei habe er sich „die Musik aus dem Leib“ gerissen. „Arme, Beine, Kopf, der ganze Körper war in Bewegung und Aufruhr, jeder Finger zuckte, er bog sich“, so formulierte Bienenfeld, „den Klängen entgegen und zog sie aus den Instrumenten fast mit körperlicher Gewalt heraus.“ Schon in diesen frühen Jahren bemerkte man etwas an seinem Körper, das Bienenfeld einen „leichten nervösen Tic“ nennt. Dieser, den Roller als einen Geburtsfehler ansieht und bewegungsmäßig genau erklärt, habe Mahler dazu gezwungen „mit dem linken Fuß krampfartig aufzustampfen“. Dabei sei zu beobachten gewesen, dass dieses Stampfen – eine wunderbar festgehaltene Wahrnehmung – eine körperliche Erschütterung auslöste, die dann „den ganzen Körper durchlief“. Auch beim Dirigieren sei das Zucken nicht ausgeblieben, es habe Mahlers gespenstige Beweglichkeit nur verschärft. Mahler habe, so Bienenfeld, seine Zeichen mit rasender Schärfe in die Luft gerissen. „So eckig, so grotesk das plötzliche Ausfallen des ganzen Armes, die jähe Wendung des Kopfes schienen, sie waren von einer mimischen Deutlichkeit ohnegleichen.“ Einzelne Phrasen habe er wiederum wie ein Plastiker modelliert. Und in einem Zwischenresümee hält Bienenfeld fest, Mahlers körperliche Ausdruckskraft habe eine ganze eigene Qualität gehabt, denn: „Wer Musik nicht hören hätte können, hätte ihren Inhalt erraten, wenn man ihm nur zusah.“
In den letzten Jahren habe aber Mahler, so Bienenfeld, die Bewegung auf ein Minimum reduziert, er habe kaum mehr den Taktstock eingesetzt und nur mit der Suggestionskraft der Augen das Geschehen gelenkt. Dann aber, bei der 1910 erfolgten Uraufführung der achten Sinfonie in München, habe er mit „enthusiastische[r] hinreißender Lebendigkeit“ die Musik „gefühlt und durchempfunden“, er habe sich „wie rasend dem inneren und dem äußeren Sturm seiner Musik entgegen“ gestellt, „als ob er sich selbst in Stücke riß“. Wenn Bienenfeld schließlich festhält, Mahler habe „mit dem Körper mitmusiziert“, so ist man – auch mit dem Wissen um die Präsenz der Tanzmoderne dieser Jahre – versucht zu sagen: Mahler hat nicht nur mit dem Körper „mitmusiziert“, sondern diese Musik dirigierend körperlich interpretiert. Was nichts anderes bedeutet – und diese Fantasievorstellung drängt sich auf –, als dass der Komponist selbst der Erste war, der als „Bewegungskünstler“ oder gar „Tänzer“ die eigene Musik ausgedeutet hat. In gewisser Weise gehört er somit auch jener Spezies von Künstlern der Tanzmoderne an, die man als „Schöpferinterpreten“ bezeichnet, in deren Person sich das Schöpfende und das Interpretierende vereinigt. Blickt man, von dieser Feststellung ausgehend, in das Tanzgeschehen des 20. und 21. Jahrhunderts, so nimmt die große Anzahl von Choreografen nicht wunder, die dem Vorbild Mahlers folgten und seine Musik in ihrer Weise auslegten.
In diesem Zusammenhang soll die Einschätzung einer Schöpferinterpretin, der Protagonistin der Wiener Tanzmoderne Grete Wiesenthal, über den Hofopern-Ballettmeister Hassreiter wiedergegeben werden. Von Roller entdeckt, von Mahler selbst noch als Hauptrollenträgerin in der Hofoper eingesetzt, war Wiesenthal schon in diesen frühen Jahren Hassreiters Antipodin. Sie urteilt in späteren Jahren, in denen sie bereits zu einer Wiener Ikone aufgestiegen war, über „ihren“ ehemaligen Meister. Die mittlerweile in aller Welt Tanzende schätzt ihn – von den „Russen“ (den Ballets Russes) einmal abgesehen – als Ballettmeister ein, wie es keinen besseren in anderen großen Theatern gab.
Von kommunizierenden Räumen
Zunächst verging eine gewisse Zeit, ein Respektabstand vielleicht, der Choreografen davon abhielt, sich dem Werk Mahlers zu nähern. Umso größer war das allgemeine Erstaunen, als im England der Dreißigerjahre ein junger Mann, der sich später als wahrer „Seelenvermesser“ entpuppte, den Wunsch äußerte, die „Kindertotenlieder“ als musikalische Grundlage für ein Ballett heranzuziehen. Dieses 1937 von Antony Tudor als „Dark Elegies“ uraufgeführte Werk, markiert den Beginn der körperlichen Auseinandersetzung nicht nur mit Mahlers Musik, sondern auch mit seinem Wesen. Die Tanzbühne wandte sich – vermehrt erst ab den Sechzigerjahren – Mahler mit dem Wissen zu, dass der Komponist, wie dies Richard Specht formulierte, mehr über das Gefühl als über den Verstand geschätzt werden wollte. Man wandte sich aber vor allem dieser Musik zu, weil man ihre außergewöhnliche Körperlichkeit sofort spürte. Diese ging bei Mahler so weit, dass er 1909 in einem Brief an Bruno Walter schrieb: „… bin so in Bewegung; ich würde mich manchmal gar nicht wundern, wenn ich plötzlich einen neuen Körper an mir bemerken würde.“
Heute ist es diese immer neu sich formende Gestalt des Komponisten, die gleichsam zum Mittler zwischen zwei kommunizierenden Räumen wird: dem musikalischen und dem choreografischen. Um diesen choreografischen Raum aber sichtbar werden zu lassen, übernimmt nun der Choreograf den Autorenstab. Der Komponist zieht sich mit seinem musikalischen Apparat in den Orchestergraben zurück und übergibt dabei dem Choreografen, der seine „Instrumente“ – die Körperschaft der Tänzerinnen und Tänzer – auf die Bühne stellt, die Autorenschaft.
PS
Von besonderen Familienverhältnissen: Mrs. Mahler tanzt Mahler
Pauline Mahler (1912 New York – 2001 ebenda), die Ehefrau von Fritz Mahler (1901 Wien – 1973 Winston-Salem, North Carolina), ist unter ihrem ursprünglichen Namen – Pauline Koner – berühmt als eine Ikone des amerikanischen Modern Dance. 1962 ermutigte sie ihr Ehemann, den letzten Satz aus Gustav Mahlers „Das Lied von der Erde“ für sich als Solo zu choreografieren. Analog zur Satzbezeichnung „Der Abschied“ nannte sie es „The Farewell“. Fritz Mahler war ein renommierter Dirigent. Sein Großvater und der Vater von Gustav Mahler waren Brüder, somit war Fritz ein Neffe zweiten Grades von Gustav.
Fritz Mahler hatte bei Guido Adler, Alban Berg, Arnold Schönberg und Anton Webern studiert, war Dirigent in Berlin und Kopenhagen, ehe er 1936 eine Berufung in die USA erhielt. 1939 heiratete er Pauline Koner. Die Tänzerin hatte eine Ballettausbildung bei Michail Fokin, eine Schulung in Rhythmischer Gymnastik bei Paul Boepple (Sohn) und Unterricht in Modern Dance bei Michio Ito erhalten, der wie Boepple ein Exponent der Lehre von Émile Jaques-Dalcroze war. Als Tänzerin trat Pauline Koner mit Soloprogrammen hervor, nahm aber auch eine zentrale Stellung in der José Limón Dance Company ein. Zu einer ihrer berühmtesten Rollenkreationen wurde die Emilia-Figur in Limóns „The Moor᾽s Pavane“ (1949).
Koners „The Farewell“, als Tribut an Doris Humphrey entstanden, wurde von Anatole Chujoy als „major contribution to the modern dance repertoire“ gesehen. John Martin fand: „it is perhaps to deep to be called tender, but too elevated to be merely mournful. The closing ewig … ewig … publishes not only finality, but also timelessness.“ Die Uraufführung des Solos fand in Hartford statt, Dirigent der Aufführung war Fritz Mahler.