All jene Kinder vor Augen, die in unserer Zeit in Europa in Behelfsunterkünften vor sich hin vegetieren, ist man einem Land wie Schweden für geleistete Hilfe umso dankbarer. Es nahm in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, als hierzulande unerträgliche Not herrschte, Kinder aus Österreich auf und gab ihnen für einige Zeit ein Zuhause, gab Wärme und Zuwendung. Aus dieser Nähe entstanden auch künstlerische Bande. Genauer besehen bestand jedoch ein dialogisierendes Geben und Nehmen – auch auf dem Gebiete des Tanzes – schon seit geraumer Zeit.
Die nach dem Ersten Weltkrieg zerfallene gesellschaftliche Werteordnung erzwang ein Umdenken, von dem auch Frauen profitierten. Aus der Umklammerung des „Vaterhauses“ befreit, wurde ihnen nunmehr ein Studium oder das Aufgreifen einer künstlerischen Tätigkeit möglich. Das vermehrte Auftreten von Tänzerinnen kann mit dieser Entwicklung in Zusammenhang gebracht werden, aber auch das Boomen des Berufs der Fotografin, für den wiederum Tänzerinnen bevorzugte Themen waren. Fotografinnen sahen es aber auch als ihre Aufgabe an, den Jammer des täglichen Lebens und hier vor allem das Dasein der Stadtkinder zu dokumentieren. Man sieht Babys in Zeitungspapier gewickelt, armselige kleine verkrüppelte Gestalten, die kaum fähig sind, auf ihren gekrümmten Beinen zu stehen. Man sieht in Lumpen Verpackte, die in Regenlachen spielen oder in Blechverschlägen Unterschlupf suchen, um sich dort frierend zusammenzurollen.
Noch während des Krieges gab es Initiativen, solche Kinder aus dem städtischen Umfeld zu holen, die Organisation des ersten „Kindertransports“ gelang. Nach dem Ende des Krieges, als sich die Lage in Wien womöglich noch verschlimmerte, intensivierten sich die Initiativen zu „Kinderverschickungen“. Eine ganze Reihe von Ländern erklärte sich bereit, Kinder aufzunehmen. Dazu gehörten etwa die Niederlande, die Schweiz, Dänemark oder Norwegen, aber auch Schweden. Mehr als 300 000 Kinder im Alter um die Zehn, von verschiedenen staatlichen, aber auch privaten Stellen ausgewählt, traten, nur von Aufsichtspersonen begleitet, die weite Reise an. Eine umgehängte Tafel gab Auskunft über die Identität des Kindes sowie die Familie, die sich bereit erklärt hatte, dieses Kind für einige Monate aufzunehmen. Am Ankunftsort hatte das Kind dann zu warten, bis man es abholte. Es mag Aufenthalte gegeben haben, die nicht sonderlich glücklich verliefen, in der Hauptsache jedoch entstanden Beziehungen, die noch auf die Kinder der einstigen Gastkinder und die Nachkommen der Pflegeeltern übergingen.
Eine „geschmeidige Schwedin, die aus Wien zu kommen scheint“
Im März 1920 berichtet das „Neue Wiener Journal“ über einen Tanzabend der bekannten schwedischen Tänzerin Ronny Johansson (1891–1979), den sie kürzlich in Stockholm zugunsten der armen Wiener Kinder gab. Die Künstlerin habe, so berichtet das Blatt weiter, das Reinerträgnis, den Betrag von 50 000 Kronen, einer Dame der Wiener Gesellschaft zur Verteilung übermittelt. Im Herbst folgt im „Neuen Wiener Tagblatt“ eine ähnliche Meldung: „Die trotz ihrer Jugend bereits auf dem ganzen Kontinent und in England bekannte und berühmte schwedische Tänzerin Ronny Johansson hat sich bereit erklärt, einen Abend zugunsten des Pensions- und Unterstützungsfonds der Angestellten der Wiener Urania zu geben und an diesem die eigenartigsten ihrer humoristischen und Charaktertänze vorzuführen.“ (Um eine möglichst große Zuschauerzahl zu erreichen, wurde der Benefizabend im Großen Saal des Konzerthauses abgehalten.)
Ronny Johansson hatte das Volksbildungshaus Urania als Spendenempfänger nicht von ungefähr gewählt, war diese Einrichtung doch ein beliebter Auftrittsort insbesondere für Moderne Tänzerinnen, zu denen sich die Schwedin selbst zählte. Als eine der führenden frühen Vertreterinnen dieser stilistischen Richtung war Johansson von ihrem Wiener Debüt 1917 im Konzerthaus an bis zu ihrem Wirken als Jurymitglied beim Internationalen Tanzwettbewerb 1934 oftmaliger Gast in der Wiener Tanzszene. Ursprünglich in Stockholm in Delsartismus geschult, hatte sie ihre weitere Ausbildung in Dresden bei Heinrich Kröller erfahren, dem nachmaligen Ballettmeister des Wiener Staatsopernballetts. Ihre mehr als ein Dutzend Tanzabende im Konzerthaus (von 1917 bis 1931) und in der Urania (1920) stießen auf großes Interesse. Im Ronacher trat sie 1917 auf, im Chat Noir war sie 1920 gemeinsam mit Elsa, Berta und Marta Wiesenthal im Programm. Einen „Die Kunst des Tanzes“ betitelten und von L. W. Rochowanski conferierten Abend 1923 im Konzerthaus bestritt sie zusammen mit Sent M’ahesa und Ellinor Tordis. Für Alphons Török („Der Merker“, 15. Juni 1918) brachte Johansson schon bei ihren ersten Auftritten „die Grundstimmung eines jeden Stückes auf das exakteste und hält sie trotz subtilster, oft mutwilliger Details bis zum Ende fest, dabei den feinsten musikalischen Stimmungen nachgebend, so daß jeder Akzent, ja jede Modulation sozusagen plastisch erscheint. Die gemessene Heiterkeit des deutschen Tanzes von Beethoven kam genau so treffend zum Ausdruck, wie der Mutwille in der Gadeschen Humoreske oder die überschäumende Lebenslust im Straußschen Dorfschwalbenwalzer und in der Gavotte joyeuse von Mozart. Bei all dem ausgezeichnete Raumdisposition und köstliche Abgänge bei den Schlüssen.“
Nur während der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre, die sie vorwiegend in Amerika verbrachte, war die von Max Ermers im „Wiener Tag“ zugleich als „urecht“ wie als „nordische Wiesenthal“ Empfundene in Wien nicht präsent. (In den USA wirkte sie neben Auftritten in eigenen Tanzabenden, einer Lehrtätigkeit an der Denishawn School und Vorträgen an Universitäten 1929 am Manhattan Opera House in einer „szenisch-plastischen“ Aufführung von Richard Strauss᾽ „Ein Heldenleben“ mit. Unter der „Tanzregie“ von Irene Lewisohn traten darin neben Johansson Martha Graham, Doris Humphrey und Charles Weidman auf, es spielte das Cleveland Orchestra unter Nikolai Sokoloff.)
Paul Stefan rühmte Johansson bei ihrem Wiederauftreten 1931 in der „Stunde“ als eine, „die für ihre Kunst von Wien viel empfangen, dieser Stadt aber seinerzeit durch wohltätiges Wirken auch manchen Dienst erwiesen hat“. Ihren letzten Wiener Tanzauftritt hatte sie im Jänner 1932 im Rahmen der Alland-Redoute im Konzerthaus. Dabei brillierte sie, die schon 1923 von der „Berliner Zeitung“ als „geschmeidige Schwedin, die aus Wien zu kommen scheint“, apostrophiert wurde, im Verein mit Maria Mindszenty und Sascha Leontjew, der Tanzgruppe Bodenwieser, den Stepptänzern Al e Val Reno sowie den Femina-Girls einmal mehr „durch ihr überschäumendes Temperament“.
Ein Wiener „Danseur noble“ als „Förste Balletmästare“ in Stockholm
Der tänzerische Dialog zwischen Österreich und Schweden beschränkt sich jedoch keineswegs auf den Modernen Tanz und auch nicht auf das 20. Jahrhundert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, eine Zeit also, von der hartnäckig behauptet wird, es habe kaum männliche Tänzer gegeben, kam sogar ein Danseur noble aus Wien an die Königliche Oper in Stockholm! Und dort reüssierte der 1825 in Wien geborene Theodor Ignaz Marckhl – der sich auch knapp Théodore nannte – nicht nur als Tänzer, sondern auch als Choreograf sowie darüber hinaus als langjähriger Ballettmeister des Hauses.
Marckhls Karriere war offenbar eng mit der des französischen Tänzers Alexandre (eigentlich Alexandre Fuchs, 1817–1882) verbunden, der 1845/46 als Ballettmeister in Stockholm fungierte, davor aber seit 1839 als Erster Tänzer in Wien engagiert war und danach wieder in Wien und schließlich an der Pariser Opéra tanzte, wo er unter anderem 1856 den Birbanto in „Le Corsaire“ kreierte. Alexandre ging letztlich aber weniger als erfolgreicher Tänzer und Lehrer in die Tanzgeschichte ein, vielmehr als Uraufführungschoreograf der Tanzszenen in Verdis „Aida“ (Opernhaus Kairo, 1871) – und durch Einheirat in den Taglioni-Clan (seine Ehefrau, die Tänzerin Louisa Taglioni, war die Cousine von Marie und Paul Taglioni).
Marckhl, der in Wien bei Alexandre studierte hatte, wurde 1845 von diesem als Tänzer nach Stockholm geholt, wo er von 1850 bis 1870 als Premier danseur verpflichtet war. In diesem Jahr wurde Marckhl der Posten des Ballettmeisters übertragen, den er bis 1886 innehatte. Seine tänzerischen Fähigkeiten waren bei Hof derart günstig aufgefallen, dass er gleichsam offiziell zur Perfektionierung zu August Bournonville nach Kopenhagen geschickt wurde. Es versteht sich von selbst, dass er später Hauptrollen in den vom dänischen Meister selbst in Stockholm einstudierten Balletten tanzte. Dazu gehörten: „Der Toreador“, „Fest in Albano“, „Konservatorium“, „Die Brautfahrt in Hardanger“, „Kirmes in Brügge“. Für die meisten seiner eigenen Ballette zog Marckhl das schwedische Komponistenduo Ivar Hallström und Conrad Nordqvist heran. Zu seinen wichtigsten Kreationen zählen die Ballettidylle „En dröm“ („Ein Traum“, 1871), die dreißig Jahre im Repertoire verblieb, und die zweiaktigen Ballette „Ett äventyr i Skottland“ („Ein Abenteuer in Schottland“, 1875) und „Melusina“ (1882). Das langjährige Wirken Marckhls in Schweden, der 1907 in Stockholm starb, wurde in Wien kaum wahrgenommen.
(Um herauszufinden, ob der Wiener Schwede Marckhl mit dem 1576 vor Maximilian II. als „Springer“ in Erscheinung getretenen Michael Marckhl zu tun hat, bedürfte es wohl einer eingehenden genealogischen Recherche. Überliefert ist, dass besagter Springer „vor Irer Maj. ein Spill mit Lufftspringen, und dem Martischina Tanz mit dem Stössl“ vorgeführt habe, wofür ihm „aus gnaden 10 fl“ zugestanden wurden. Gesichert hingegen ist, dass der österreichische Komponist Erich Marckhl (1902–1980) in einem Verwandtschaftsverhältnis zu Theodor stand. Erik Werba berichtet in der Biografie des Tonkünstlers und Pädagogen, dass dessen Großonkel an der Königlichen Oper in Stockholm gewirkt habe. Notabene: In Erich Marckhls Œuvre findet sich das Tanzspiel „Die Jagd“, uraufgeführt 1968 in einer Choreografie von Fred Marteny im Schauspielhaus Graz.)
Eine schwedische Körperbasis für die Wiener Bewegungsmoderne
Auf der Suche nach den Einflussbereichen der so erfolgreichen Wiener Tanzmoderne ist schon so manches gefunden worden. Ganz wesentlich waren die künstlerischen Vertreter der Literatur, der Malerei, der Plastik, aber auch der Musik, in deren Werken Bewegung spür- und sichtbar war. Ihre Fantasie setzte in buchstäblichem Sinne Körper in Gang. Dazu kamen, ebenfalls auf künstlerischer Seite, die Pionierinnen der amerikanischen Tanzmoderne – Isadora Duncan, Ruth St. Denis, Maud Allan –, die zu wichtigen Vorbildern wurden. Wichtig wurde aber auch der Kreis um die Wiener Kunstgewerbler, die größtes Interesse an künstlerischer Bewegung und daher auch an neuen Formen des Theaters hatten. Dann waren da die Emanzipationsbestrebungen, die sich nicht damit begnügten, für das neue Jahrhundert einen „neuen Menschen“ kreieren zu wollen, sondern dieser Mensch sollte ganz distinkt entweder als Mann oder auch – und dies erstmals – als Frau wahrgenommen werden. Dieses Hinsehen auf beide Geschlechter zog wiederum die Reformpädagogik mit sich, die in Wien bald Fuß fassen konnte. Mit einem neuen Blick auf die Frau rückten die sich auf den weiblichen Körper und seine Gesundheit spezialisierten Gymnastikmethoden mehr und mehr in den Fokus. Manche dieser Methoden bauten auf dem Delsartismus, also auf jenem System des körperlichen Ausdrucks auf, der Reaktion auf innere Bewegung ist. Daran schloss sich wiederum die Körperfunktionsgymnastik, besonders jene für Frauen, wie sie Bess M. Mensendieck entwickelt hatte. Andere Gymnastikbewegungen – etwa jene von Émile Jaques-Dalcroze – ließen sich vom musikalischen Rhythmus führen. All diese in Wien vertretenen Richtungen beeinflussten das Werden des Modernen Tanzes in dieser Stadt.
Es gab jedoch noch andere Gymnastikbewegungen, jene nämlich, die in der Nähe des Turnens angesiedelt waren beziehungsweise sich aus den großen Turnbewegungen des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten und nunmehr, um 1900, schon fast hundert Jahre alt waren. Dazu gehört die Schwedische Gymnastik. Eine Vertreterin dieser Richtung bereicherte seit Beginn des neuen Jahrhunderts die Wiener Reformlandschaft. Es ist die Schwedin Est(h)er Strömberg. Sie ist seit 1902 Lehrerin an dem von Eugenie Schwarzwald geleiteten Mädchen-Lyzeum am Kohlmarkt 6.
Durch Eugenie Schwarzwald und die Frauenrechtlerin Marie Lang, in deren Kreis Strömberg schon 1901 gelangt war, wurde die mit bewunderungswürdigem Spürsinn ausgestattete Schwedin in zentrale Zirkel der Wiener Gesellschaft aufgenommen. Schwarzwald ist auch heute noch mit ihren diversen (Land-)Schulprojekten, in denen sie reformerische Utopien verwirklichte, ihrem künstlerischen Interesse und ihrer besonderen Fürsorge für arme Kinder bis weit über die Grenzen des Landes bekannt. Marie Lang wiederum, mit halb Wien entweder verwandtschaftlich oder künstlerisch vernetzt, verstand es, neben ihrem Engagement für Frauen, Künstler aller Richtungen um sich zu scharen. Da ihre Kinder Erwin und Lilith Lang an der Kunstgewerbeschule studierten, waren auch Kollegen der Kinder, aufstrebende Talente dieser Richtung, bei ihr vertreten. Für beide Frauen war die Schwedische Gymnastik von größter Bedeutung, sah man doch in dieser Methode die Möglichkeit, insbesondere Kindern und Frauen eine körperliche – aber auch geistige – Basis für ein neues freieres Leben zu geben.
Rasch gelang es der 1873 in Mönsterås in Südschweden geborenen Strömberg, sich in Wien zu etablieren, sodass sich ihr wiederholt Anlässe boten, Wesen und Ziele der Schwedischen Gymnastik zu erläutern. Strömberg sprach dabei als Absolventin des Südschwedischen Gymnastikinstituts in Lund und des Königlichen Zentralinstituts für Gymnastik in Stockholm, die nun schon einige Erfahrung im Unterricht in „pädagogischer Gymnastik“ aufweisen konnte. Sie hatte also ein zweijähriges Studium des auf Hochschulebene angesiedelten Instituts hinter sich und konnte sich nun als Lehrerin jenes Gedankenguts ausweisen, das der Schwede Pe(h)r Henrik Ling (1776–1839) entwickelt hatte und das im Laufe des 19. Jahrhunderts als „Schwedische Gymnastik“ weltberühmt geworden war.
Ling, zunächst Theologe und Schriftsteller, hatte auf seinen ausgedehnten Reisen deutsche Turnerbewegungen, insbesondere jene des Pädagogen Johann Christoph Friedrich GutsMuths, kennengelernt. In der Folge entwickelte er eine eigene Gymnastik, die sich insofern von der deutschen unterschied, als sie nicht leistungs-, sondern gesundheitsorientiert war. Sie war nicht politisch zu verstehen, sie strebte weder die Bildung von „Charakterstärke“ noch die einer bestimmte Gesinnung an. Was dagegen in Lings Lehre im Vordergrund stand, war körperliche, in der Folge auch geistige Ausgewogenheit des Menschen, die idealiter im Einklang mit der Ausgewogenheit der heimatlichen Landschaft und der dazugehörigen Volkskultur stehen sollte. Ling baute seine Lehre auf den Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Körpers auf. Die Lebenskraft des Menschen ergibt sich, so Ling, aus drei Grundformen: einer dynamischen, dargestellt durch das Nervensystem, einer chemischen, dargestellt durch den Blutkreislauf, und der mechanischen, dargestellt durch das Muskelsystem. Ist eine dieser Grundformen gestört, ergeben sich daraus auch Störungen der beiden anderen Grundformen. Die Gymnastik war in eine pädagogische, eine militärische, eine medizinische und eine ästhetische geteilt. (Siehe dazu: Julia Helene Schöler, „Über die Anfänge der Schwedischen Heilgymnastik in Deutschland“, Dissertation, Münster 2005.)
Man turnte in Formationen beziehungsweise „Riegen“ und trug einheitliche Kleidung, die – auch dem weiblichen – Körper die nötige Bewegungsfreiheit gab. Unter reicher Zuhilfenahme mannigfacher Gerätschaften wurde angestrebt, nicht einzelne Körperpartien, sondern den Körper als Ganzes durchzubilden, wodurch diesem ermöglicht wurde, sich ganzheitlich und gleichförmig bewegen zu können. 1813 gründete Ling das Königliche Zentralinstitut und arbeitete fortan an der Verbreitung seiner Gymnastik, die, nach seinem Tod weitergeführt, nicht nur in Schweden auf größten Widerhall stieß. Für Tanzinteressierte erwies sich gerade der ästhetische Zweig der Gymnastik als besonders anziehend. Nicht nur, dass die Studierenden immer Gelegenheit bekamen, (schwedische) Tänze auszuführen, bot die „reine“ Körperarbeit Gelegenheit, eigenen (modernen) Tanzversuchen Kraft zu geben. Diesbezüglich war die Schwedische Gymnastik die erste Körperbildung in Wien, die angehenden modernen Tänzerinnen für ihren weiteren Weg angeboten wurde. Erst 1911 eröffnete die Schule für Delsartismus, erst 1912 jene, die die Rhythmische Gymnastik von Jaques-Dalcroze vermittelte.
Strömberg verstand es zu überzeugen, und Schwarzwald wusste zuzugreifen, die Wiener Netze wurden immer dichter. 1903 wird Strömberg Mitglied des Neuen Frauenklubs, im Herbst 1903 eröffnet sie ihre Erste Wiener Schule: „Schwedische Gymnastikschule für Damen und Kinder“, ein „Privatinstitut für schwedische pädagogische Gymnastik“ (Trattnerhof, 1., Graben 29a), eine Schülerin ist Lilith Lang. 1904 heiratet Strömberg den Wiener Schriftsteller Stefan Großmann. Sie hat den „Ziehsohn“ der Marie Lang im Hause Lang kennengelernt. 1904 leitet sie erstmals „Nordische Jugendspiele“ (pantomimische Volkstänze und Spiele) für Mädchen und Knaben im Cottage-Lyzeum (19., Kreindlgasse 1b). Diese Jugendspiele wurden zu einer festen Einrichtung. Um 1905 wird Strömberg von Broncia Koller-Pinell porträtiert, um 1907 folgen zwei Porträts von Erwin Lang. 1908 bietet sie erstmals innerhalb der „Vereinigung arbeitender Frauen“ Abendkurse an.
Bei der Enquete „Körperliche Erziehung der Schuljugend“ spricht Strömberg 1909 als einzige Frau, im Akademischen Frauenverein hält sie einen Vortrag über Körperkultur. Bei einer neuerlichen Enquete 1910 tritt sie für die Einführung des schwedischen Turnsystems in Schulen ein sowie dafür, dass das Turnen an allen Mädchenschulen für obligatorisch erklärt werde. Im Februar 1910 gibt es in Zusammenhang mit Strömberg Schlagzeilen, denn sie unterrichtet die Kinder der Erzherzogin Marie Valerie: „Eine Sozialdemokratin bei Hofe!“ Es gibt überregionale Meldungen und Proteste (etwa im Wiener „Deutschen Volksblatt“, in der „Salzburger Chronik für Stadt und Land“, im „Deutschen Nordmährerblatt“, der „Mährisch-Schlesischen Presse“, im „Wienerwald-Boten“, auch im „Grazer Tagblatt“). „Die Inhaberin einer schwedischen Turnanstalt, Frau Esther Strömberg-Großmann, die Frau des Redakteurs der ‚Arbeiter-Zeitung‘, wurde als Turnlehrerin zu den Kindern der Erzherzogin Marie Valerie berufen. Ausländerin, Vertreterin der schwedischen Gymnastik, internationale Sozialdemokratin und Republikanerin im Dienste eines deutschen Fürstenhauses, wie reimt sich das zusammen?“, fragt man in Graz.
Die neue Lebensweise, zu der sich Strömberg als Mitgestalterin zählte, begnügte sich bekanntlich nicht damit, körperliche Harmonie zu erarbeiten, sie wollte diese auch in einem entsprechend ausgewogenen Umraum sich entfalten lassen. So war es für Strömberg nur konsequent, 1910/11 ihr Gymnastikstudio in Räume zu übersiedeln, die eigens dafür entworfen worden waren. Und es war auch konsequent, für diese Arbeit einen aufstrebenden jungen Architekten zu engagieren. Die Wahl fiel auf Josef Frank, für ihn gehörte die Ausgestaltung der Musterschule für Schwedische Gymnastik mit Ateliersaal und Dachgarten, Fleischmarkt 1 (Residenzpalast), zu seinen ersten Aufträgen. (Frank verließ bereits 1933 Wien in Richtung Schweden.) Zu den Lehrern der Gymnastikschule gehören nun neben Strömberg selbst Nils Harald Palm, der Herren und Knaben unterrichtet, Dagmar Strömberg (Palmqvist) und Emmy Bruun. 1911 entwirft Erwin Lang, damals schon Ehemann von Grete Wiesenthal, zwei Plakate für die „Erste Schwedische Privatturnschule“.
Das Kaiserhaus hat weiterhin Interesse an Schwedischer Gymnastik. Im September 1910 wohnt der Kaiser selbst anlässlich der Eröffnung des neuen Schulgebäudes des Frauenerwerbvereins am Wiedner Gürtel einer Vorführung bei. Im Mai 1911 besucht Unterrichtsminister Karl Graf Stürgkh die Schule im Residenzpalast. Und im Mai 1913 ist die Schule der Schauplatz eines Festes anlässlich der Zentenarfeier des Stockholmer Gymnastischen Zentralinstituts. Die Schule expandiert, im Oktober 1913 wird eine Filiale in Hietzing eröffnet. Der Erfolg wird durch eine familiäre Gegebenheit jäh gestoppt. Strömbergs Ehemann fühlt sich in seinen diversen Unternehmungen, die er als Arbeit für die Sozialdemokratische Partei sieht, hintergangen. Zu seinen wichtigsten Tätigkeiten zählte dabei die Gründung und künstlerische Leitung der Freien Volksbühne (an der Produktion von Gerhart Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ 1906 im Theater in der Josefstadt waren Erwin Lang als Bühnenbildner und Grete Wiesenthal als Darstellerin beteiligt).
Großmann verlässt 1913 Wien in Richtung Berlin, im Jahr darauf folgt Strömberg mit ihren beiden Töchtern ihrem Mann nach. 1920 eröffnet sie eine Gymnastikschule am Berliner Kurfürstendamm, Großmann gibt die Wochenschrift „Das Tage-Buch“ heraus. 1933 wird das Paar nach Österreich ausgewiesen, 1935 stirbt Großmann in Wien, Strömberg emigriert in die USA, sie stirbt 1944 in Santa Fe, New Mexico.
Strömbergs Aufenthalt in Wien hinterließ bleibende Spuren: Im Grab einer prominenten Wiener Unternehmerfamilie am Grinzinger Friedhof ruht Astrid Palm (geb. Runqvist), die schwedische Ehefrau von Strömbergs Associé Nils Harald Palm, der die Gymnastikschule noch bis Ende der Zwanzigerjahre unter seinem Namen weiterführte, ehe er nach Schweden zurückkehrte. Astrid Palm war ursprünglich Duncan-Lehrerin in Stockholm, ihre und Nils Harald Palms Tochter Gunilla heiratete in besagte Wiener Familie ein. Astrid Palm selbst scheint noch bis Mitte der Dreißigerjahre als Leiterin der Schule auf, im Unterrichtsangebot ist nun auch Rhythmische Gymnastik vertreten. Die schwedische Pädagogin blieb bis zu ihrem Lebensende in Wien, wo sie hochbetagt 1973 verstarb. Ihr Andenken wird in der Wiener Tanzszene insbesondere durch Ingrid Giel, Ehrenpräsidentin der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek, wachgehalten, die während ihrer Ausbildungszeit Kontakt zu ihr pflegte.
Vom Verlust jüdischer Tanzkultur
Der Verlust jüdischer Tanzkultur, den Wien erlitten hat, kann nicht genug beklagt werden. Wie aus anderen kulturellen Räumen bekannt, ist diese Kultur – sei es ganz bewusst wie im Falle Gertrud Bodenwieser in Australien oder mehr unter der Oberfläche brodelnd wie in Israel – eine noch immer treibende Kraft. Dazu kommt, dass der Themenkreis Vertreibung jüdischer Tanzschaffender noch immer nicht wirklich aufgearbeitet ist. Immer wieder tauchen Namen von Persönlichkeiten auf, die die heimische Tanzszene so lange bereicherten, bis die Nationalsozialisten ihrem künstlerischen Tun ein Ende setzten.
Mit der 1926 in Wien geborenen und 1999 in Schweden gestorbenen Lia Schubert verhielt es sich etwas anders. Ihr pädagogisches Wirken, das beiden stilistischen Richtungen – dem klassischen wie dem modernen Tanz – verpflichtet war, nimmt eine zentrale Stellung in der schwedischen Tanzgeschichte ein: Sie gründete Ballettakademien in Stockholm und Göteborg. Als Kind war Schubert in ihrer Geburtsstadt tänzerisch noch nicht in Erscheinung getreten. Ihre Mutter, die Hofoperntänzerin Adolfine Fein, erkannte jedoch sehr bald die Begabung ihrer Tochter (ein Harald-Kreutzberg-Abend hatte bei ihr eine Tanzsucht ausgelöst). Angesichts des zunehmenden Antisemitismus in Wien wanderte die Familie 1931 nach Zagreb aus, wo Lia Unterricht bei Margarita Froman, einer russischen Ballerina mit Bolschoi-Ballett- und Ballets-Russes-Vergangenheit, und Mercedes Goritz-Pavelić erhält. Schon durch diese Ausbildung ist Schubert also in zwei stilistischen Richtungen des Tanzes verankert, denn Goritz-Pavelić war durch ihr Studium bei Karin Schneider in Graz mit der Tanzmoderne eines Rudolf von Laban und einer Mary Wigman vertraut. Um eine weitere Ausbildung der Tochter zu gewährleisten, übersiedelt die Familie Schubert 1938 nach Paris, wo Lia am Conservatoire national de Musique bei Jeanne Schwarz sowie in den legendären Tanzstudios von Olga Preobrajenska und Lubov Egorova ihr Studium fortsetzt.
Die deutsche Besatzung in Paris verursachte die Wende. Ihre Eltern und ihr Bruder werden Opfer des Holocaust, sie selbst kann dank einer Aktion der Résistance gerettet werden. Mit falschen Papieren glückt es ihr, Engagements in Marseille und Lille zu erhalten. Nach dem Zweiten Weltkrieg erteilt sie traumatisierten und verwaisten Kindern Tanzunterricht, bildet sich bei Victor Gsovsky weiter und nimmt verschiedene Engagements an. Mit einer 1950 erfolgten Verpflichtung als Solotänzerin und Trainingsleiterin an das Stadttheater Malmö beginnt das schwedische Leben der Lia Schubert. 1953 geht sie nach Stockholm, tanzt am Oscarsteatern und gründet ihre erste eigene Ballettschule. 1956 erlangt sie die Schwedische Staatsbürgerschaft. 1957 gelingt ihr die Gründung der Ballettakademie in Stockholm, wo neben dem Unterricht im klassisch-akademischen Tanz der amerikanische Modern Dance im Fokus steht. Mit Walter Nicks als Lehrer findet Jazz Dance Einzug in den Lehrplan. Am Beginn der Sechzigerjahre studieren Niklas und Mats Ek bei der von Schubert an die Akademie geholten amerikanischen Modern-Dance-Größe Donya Feuer. Niklas Ek, der ältere der beiden Brüder, entwickelte sich zu einer charismatischen Tänzerpersönlichkeit, Mats Ek zu einem der schöpferischsten Choreografen unserer Zeit.
Eine, wie sich später herausstellen sollte, jahrelange Auszeit führt Schubert 1968 nach Israel, wo sie für die Batsheva Dance Company, Bat-Dor Dance Company, das Inbal Dance Theatre und an der Musik- und Tanzakademie in Jerusalem unterrichtet und 1969 das Dance Center in Haifa gründet. Wie schon in Schweden leitet sie auch in Israel eigene Tanzkompanien, für die sie auch choreografiert. Und sie trifft auf die in einer neuen Heimat blühende Wiener Tanzvergangenheit – sie tritt in der Künstlerkolonie En Hod mit Gertrud Kraus, einer ehemaligen Protagonistin der Wiener Tanzmoderne, in engen Kontakt. Erst nach mehr als zehn Jahren kehrt sie nach Schweden zurück, wo sie einige Jahre an der Königlichen Ballettschule lehrt und sich 1983 der Ballettakademie in Göteborg zuwendet, die sie schon 1967 vor ihrer Übersiedlung nach Israel mitgegründet hat. Krankheitshalber legt sie 1997 die Leitung dieses Instituts nieder.
Der länderübergreifende Dialog wird zur Normalität
Künstlerische wie familiäre Bande mit Schweden knüpfte Grete Wiesenthal (1885–1970). Erstmals war dies 1913 der Fall anlässlich der Dreharbeiten zur Verfilmung von Hugo von Hofmannsthals Pantomime „Das fremde Mädchen“ durch die Filmgesellschaft Svenska Biografteatern. Regie führte der Schwede Mauritz Stiller, an der Seite von Wiesenthal, die die Titelrolle verkörperte, agierte der schwedische Schauspielstar Gösta Ekman. Die Wiener Premiere des Films erfolgte im Jänner 1914 im Flottenvereins-Kino. Ihren ersten Tanzauftritt in Stockholm hatte das „elfische Wesen“ (Stefan Großmann) im April 1922 bei einem Dankesabend Österreichs für die durch das Kinderhilfswerk „Rädda Barnen“ erhaltene „Schwedenhilfe“. Eugenie Schwarzwald hielt den einleitenden Vortrag und übermittelte den Dank des österreichischen Bundespräsidenten Michael Hainisch. Das Erträgnis des Abends floss zur Hälfte österreichischen Kindern, zur anderen Hälfte Kindern schwedischer Arbeitsloser zu.
Gottlob nur von kurzer Dauer war das „Abtreten“ Grete Wiesenthals an Schweden aufgrund einer nach der Trennung von Erwin Lang 1923 erfolgten Heirat mit Dr. Nils Silfverskiöld, dem Goldmedaillen-Gewinner im Mannschaftsbewerb Schwedische Gymnastik 1912 in Stockholm. (Wiesenthal hatte den Olympioniken in Berlin im Hause Strömberg-Großmann kennengelernt.) War also das zur olympischen Disziplin gewordene „Schwedische System“ – wie man bereits sehen konnte – von Schweden auch nach Wien gelangt, wo es sich größter Beliebtheit erfreute, so entfachte ein umgekehrter Weg – der von Grete Wiesenthal nach Schweden – große Wehmut. Hofmannsthal fühlte sich veranlasst, zu schreiben: „Wien ist durch das Weggehen der Wiesenthal fühlbar ärmer geworden (…) die Gegenwart der Wiesenthal war für Wien mehr und einzigartiger, als die Gegenwart welches Künstlers oder welcher Schauspielerin immer.“ Die Wiener Tanzikone, die 1924 ihren skandinavischen Ehestand für eine ausgedehnte Schweden-Tournee mit Toni Birkmeyer als Tanzpartner und ihrer Gruppe nutzte, kehrte schon nach wenigen Jahren wieder zurück nach Wien. Jahrzehnte später wurde Wiesenthals Sohn aus erster Ehe, Martin Lang, zum österreichischen Handelsdelegierten in Schweden ernannt. Er gründete eine Familie in Schweden, die Tochter wurde in Stockholm geboren.
Wiesenthals Landsmann Walther Junk (1902–1976) war Mitglied der von dem schwedischen Ballettmäzen Rolf de Maré geleiteten Avantgarde-Kompanie „Les Ballets Suédois“, eine von 1920 bis 1925 existierende reisende Truppe, deren künstlerischer Anspruch ähnlich hoch angesehen wird wie der von Sergei Djagilews „Ballets Russes“. Angebahnt wurde das prestigeträchtige Engagement des Wiener Tänzers durch das Auftreten der schwedischen Kompanie im März 1922 im Wiener Johann-Strauß-Theater. Rochowanski zollte in einer Betrachtung dieses Gastspiels dem „starken Mut, neue Wege zu suchen und zu gehen“, besondere Anerkennung, konnte sich aber nicht die Bemerkung verkneifen: „Die Wiener haben allerdings davon wenig Kenntnis genommen. Sie müssen mit ihrer starken Beschäftigung durch Operette und Heurigen eben entschuldigt werden“ („Der tanzende Schwerpunkt“, 1923).
Besondere Bedeutung für den Austausch zwischen Österreich und Skandinavien auf dem Gebiet der Körperbildung kommen 1929 rhythmisch-gymnastische Aufführungen der Schule Hellerau-Laxenburg im gymnastikaffinen Schweden zu. Wurde doch die in Laxenburg weiterentwickelte Methode der Rhythmischen Gymnastik des gebürtigen Wieners Émile Jaques-Dalcroze mit diesem Gastspiel in einem Land vorgestellt, das mit der 1907 erfolgten Gründung des Stockholmer „Instituts für Rhythmische Gymnastik und Plastik“ durch die schwedische Jaques-Dalcroze-Schülerin Anna Behle auch im Rhythmikwesen eine Vorreiterrolle eingenommen hat. (Behle, die über Erfahrungen in Delsartismus und Duncanismus verfügte, hatte bereits 1906 am Genfer Konservatorium Unterricht durch Jaques-Dalcroze erhalten. Die Etablierung ihres Stockholmer Instituts ist also drei Jahre vor der Eröffnung der Jaques-Dalcroze-Schule in Hellerau erfolgt!)
Im Oktober 1938 brachte Rosalia Chladek (1905–1995), die bis zu diesem Zeitpunkt die Tanzausbildung der Schule Hellerau-Laxenburg innehatte, im Stockholmer Konzerthaus mit „Michael“, „Raphael“ und „Luzifer“ ihre berühmt gewordene „Erzengel-Suite“ zur Uraufführung. Sie wurde bei diesem Gastspiel „wie eine langersehnte Bekannte“ („Svenska Dagbladet“) empfangen, obwohl seit ihrem letzten Auftreten in der schwedischen Hauptstadt, im März 1938 in der Königlichen Musikakademie, nur sieben Monate verstrichen waren. Die Stockholmer Presse erkannte, „dass sie eine Künstlerin in einer Klasse für sich ist“, „edel wie ein junger Präraffaelit“, „dem Marmor verwandt“. Für Arthur Kleiner, Chladeks ständigen musikalischen Begleiter und Komponisten, war die Frühjahrstournee die letzte gemeinsam mit der Tänzerin unternommene. Nach seiner Rückkehr nach Wien musste er sein Heil in der Flucht suchen, er entkam in die USA.
Wenig später wurde Schweden zum Zufluchtsland vieler vom Nationalsozialismus Verfolgter. Und als Dankesbezeigung Österreichs für die abermalige Hilfe Schwedens für notleidende Kinder – diesmal nach dem Zweiten Weltkrieg – unternahm das Wiener Staatsopernballett 1951 unter der Leitung von Erika Hanka seine legendäre „Schwedentournee“ durch zwanzig Städte, bei der Choreografien von Hanka und Willy Fränzl zur Aufführung kamen. Geradezu „berauschend“ scheint das Nummernprogramm für den sich als Weinliebhaber zu erkennen gebenden Kritiker des „Sydsvenska Dagbladet“ gewesen zu sein: „Das, was auf der Bühne geboten wurde, waren Marken hervorragender Jahrgänge mit exquisiter Blume und gerade der Temperatur, welche den Genuss noch intensiver gestaltet. Man hatte den Eindruck, dass die Gruppe mit ganzem Herzen dabei war, den Stil von Größen wie Fanny Elßler und Grete Wiesenthal zu wahren.“
Wiesenthal selbst führte im Jahr darauf ihre Tanzgruppe Grete Wiesenthal, die bis zur Mitte der Fünfzigerjahre ausgedehnte Gastspielreisen unternahm (unter anderem nach Süd- und Nordamerika, Paris, London), noch einmal nach Schweden, diesmal, von Stockholm ausgehend, durch insgesamt acht Städte. Vierzig Jahre waren nunmehr seit dem ersten Erscheinen der Wiesenthal in Schweden vergangen, und man konnte gespannt sein, wie die Kreationen der einstigen Pionierin der Wiener Tanzmoderne jetzt aufgenommen werden würden. Völlig zu Recht sollte sich auch bei diesem Gastspiel die zeitlose Gültigkeit der Kunst der Grete Wiesenthal offenbaren! Diesbezüglich waren 1952 bereits in dem von der Stadt Wien in Auftrag gegebenen Essayfilm „Symphonie Wien“ von Albert Quendler die Weichen gestellt worden. In diesem „filmischen Meisterwerk“ (Fritz Walden) hatte man den Tanz von Chladek und Wiesenthal als Symbolkunst für das nach dem Krieg wiederauferstandene Wien gewählt.
Mehr als dreißig Jahre vergingen, ehe es zu einem „Gegenbesuch“ einer schwedischen Tanzkompanie in Wien kam. Dann allerdings – bei Gerhard Brunners Internationalem Ballett-Fest TANZ ᾽84 – geschah dies mit künstlerischer Wucht. Cullbergbaletten, die schwedische Vorzeigekompanie, präsentierte im Theater an der Wien ein epochales Werk: die Adaption von „Giselle“ aus der Sicht von Mats Ek, dem Sohn der legendären Gründerin von Cullbergbaletten, Birgit Cullberg, von der eine auf Kammertanzformat verdichtete Version von „Romeo und Julia“ gezeigt wurde. Und nachdem es 2013 und 2017 mit Stücken des niederländischen Schweden Jefta van Dinther („Protagonist“, „Plateau Effect“) erneut zu Auftritten von Cullbergbaletten in Wien gekommen war, beide Male im Tanzquartier, brachte die Kompanie 2019 sogar eine Uraufführung – „On the Cusp“ des Österreichers Ian Kaler – in dieser Spielstätte heraus! Van Dinthers vom Tanzquartier Wien für Februar 2021 angekündigte Cullbergbaletten-Produktion „Mountains“ musste umständehalber auf 2022 verschoben werden.
Eingedenk all dessen: tack så mycket, Sverige!