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Kirsta 2 iconDie Lebensspanne des Malers, Bühnenausstatters und Ballettimpresarios Georg Kirsta erstreckte sich – zumeist gezwungenermaßen – über drei unterschiedliche kulturelle Räume. Dank seiner künstlerischen Vielseitigkeit und seines Charismas gelang es ihm, in jenen Orten, die er als Lebensabschnittsmittelpunkte gewählt hatte – Kiew, Wien, London –, in führenden Positionen Teil der jeweiligen Stadtkultur zu werden. In den frühen Zwanzigerjahren brachte er Kiewer Tanztheateravantgarde nach Wien, in den Fünfzigern wurde der Wahlwiener in London zum letzten Leiter des Original Ballet Russe.

„Ein bleichsüchtiger Knabe mit verfeinerten Zügen, todestraurigen Augen und leidendem Ausdruck. Wenn er lächelt, steigen dem Zuschauer Tränen hoch. Man fragt sich, welche Tragödien haben sich vor und mit diesem Knaben abgespielt, haben ihn aller Lebensfreude beraubt? Antwort: er ist ein russischer Aristokrat.“Kirsta 3

Wenn Karin Michaëlis, Verfasserin eines Romans über die Schwarzwaldschule, 1928 im „Neuen Wiener Journal“ ihren Essay über den damals 28-jährigen Kirsta solchermaßen einleitet, stimmt sie mit anderen Zeitzeugen überein, die die ganz besondere Ausstrahlung des nach Wien „zugereisten“ Malers und Theatermannes beschreiben. Kirstas Geburtsstadt – er wurde am 10. Februar 1900 geboren – war das ukrainische Charkiw, das zu dieser Zeit freilich als Charkow dem russischen Zarentum angehörte. Wie für Millionen seiner geflüchteten Landsleute prägte diese Herkunft auch sein weiteres Dasein. Kaum hatte er sich, von einem Studium in St. Petersburg bei Dmitri Kardowski an der Kunstakademie gekommen, in Kiew etabliert, wurde die Ukraine, der nur vorübergehend Selbstbestimmung beschieden war, 1922 eine Sowjetrepublik. Unter jenen, die flohen und damit einem noch härteren Schicksal entgingen, war auch Kirsta. Damit reihte er sich in den Zug jener „Weißen“ Russen ein, die ihre „Roten Brüder“ fürchteten. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, wo die meisten der Geflohenen blieben, bevor sie nach Paris oder London weiterzogen, entschied sich Kirsta, nach Wien zu gehen. Im Gegensatz zu vielen anderen Emigranten gelang es ihm hier sofort, künstlerisch Fuß zu fassen. 

Michaëlis setzt ihre Betrachtung über den „wie zwanzig“ aussehenden Kirsta fort. Schon mit vierzehn Jahren habe er zum ersten Mal ausgestellt. Nein, man könne seine Malweise stilistisch nicht charakterisieren: wer immer bislang einen diesbezüglichen Versuch gemacht habe, sei gescheitert, in Wien ebenso wie in Berlin. Gleichwohl unternimmt Michaëlis einen Versuch und konzentriert sich dabei auf die von Kirsta verwendeten künstlerischen Mittel. Sie spricht von einer „dermaßen handgreiflichen Modellierungstechnik“, dass ein gemalter Stoff fast ein selbstständiges Leben führe. „Der Beschauer glaubt, zum erstenmal im Leben den Begriff Stoff zu verstehen.“

Kirsta 4Einen weiteren Versuch, Charakteristika des Malers zu finden, unternimmt Franz Blei. In „Aphorismen vor den Bildern Georg Kirstas“ (Fassung für „Die Bühne“, Heft 220, 1929) schreibt der renommierte Schriftsteller und Journalist, Kirsta zeige an sich „Scheu vor Ausstellungen“, gerade dies sei aber „ein Symptom seiner nüchternen, handwerklichen und eben deswegen altmeisterlichen Arbeitsweise“. Stilistisch sei er wohl vom Impressionismus ausgegangen, und zwar jenem, dessen Absicht es nicht ist, durch Assoziation Konkretes auftauchen zu lassen, sondern Räumliches darstellt und tatsächlich „vom dreidimensionalen, dargestellten Objekt getragen“ wird. Kirsta 5

Kirsta habe, so Blei, zu einem „konstruktiven Naturalismus“ gefunden, in seinen Bildern läge das Augenmerk auf der Darstellung einer „Ganzheit“, auf der „Modellierung der belichteten und beschatteten Form aus der Farbe“, des Weiteren auf dem „Aufbau des Räumlichen“. Auch stellt er eine starke „karikaturistische Note fest“. Und Alexander Schilling schreibt in der „Modernen Welt“ (Mai 1928), Kirstas „Zeichnungen und Gemälde standen im Zeichen des Kubismus, aber eines Kubismus, der schon über sich selbst hinausgewachsen ist und in der neuen Malerei des Künstlers nur mehr leise anklingt“. 

Kirsta 6In Wien stieg Kirsta rasch zu einem gefragten Gesellschaftsmaler auf – zu den von ihm Porträtierten zählen Persönlichkeiten wie Hermann Broch, George Antheil, Artemy Rabeneck, Ellen Tels, Mila Cirul, Sybilla Bley oder etwas später Vera Salvotti und das Ehepaar Michiko Tanaka und Julius Meinl. Schon 1928 war der Künstler neben der von der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Wien in der Neuen Galerie ausgerichteten Ausstellung „Georg Kirsta“ auch gemeinsam mit Alexandra Exter, Mstislaw Dobuschinski, Michail Larionow, Michail Andrejenko und anderen in der Ausstellung „Russisches Theater“ bei Hugo Heller vertreten.

Die folgenden Ausführungen lassen jedoch Kirstas bildnerisches Werk beiseite, im Fokus sollen vielmehr seine Tätigkeiten für das Sprech- und Musiktheater stehen und insbesondere sein mannigfaltiges Wirken als Librettist, Ausstatter und Kompanieleiter auf dem Gebiet der Tanzkunst. Kirstas besondere Begabung dafür war ja bereits in den verschiedenen Rezensionen und Betrachtungen angeklungen. Es sind dies: die dargestellte Körperlichkeit, das Augenmerk auf Ganzheit, das feine Gespür für das Stoffliche; all diese Merkmale sollten sich als Grundpfeiler für Kirstas spätere Arbeit für die Bühne erweisen.Kirsta 7

GEORGI K.: In Kiews „linker“ Avantgarde

Schon während der Kriegsjahre hatte sich in Kiew, wo Kirsta ja aufgewachsen war, eine überaus vielseitige kulturelle Szene etabliert. Dies lag auch an jenen Flüchtlingsströmen, die wichtige Städte wie St. Petersburg und Moskau mehr aus politischen denn aus künstlerischen Gründen zu verlassen hatten. Darunter fanden sich Avantgardekünstler, die man schon bald als „Linke“ bezeichnet hatte. Dieses „schmückende“ Beiwort wurde vor allem dann herangezogen, wenn ein Künstler jedweden Genres sich nicht der tradierten Ordnungen bediente. Beim Tanz galt diese – herabwürdigende Bezeichnung – den „freien“, also nicht klassischen Arbeiten. (Diese mit größter Vehemenz aufblühende, in den späten Zwanzigerjahren aus ideologischen Gründen verbotene Szene wird erst seit den letzten Jahrzehnten aufgearbeitet. Zuerst von Elisabeth Suritz, zuletzt von Irina Sorotkina, „Swobodny tanez w Rossii“, Moskau 2021. In diesem Zusammenhang sei festgehalten, wie verblüffend schnell sich mitteleuropäische Standards der Freien Szene nicht nur in großen russischen und ukrainischen Städten, sondern auch in der „Provinz“, etwa in Lemberg, etabliert hatten. Siehe dazu: Ołena Mykolaivna Schabalina, „Ukraińskie drogi rozwoju tańca nowoczesnego w latach 20. i 30. XX wieku“, in: Internetzeitschrift „Kultura Enter“.)

Kirsta 8Die Angesehensten der nach dem Süden Flüchtenden fanden entweder in den etablierten ukrainischen Kulturstätten Betätigung oder aber gründeten – und dies trotz der verheerenden wirtschaftlichen Lage – Studios, die sie als Laboratorien verstanden. In diesen Studios versuchte man Kunst an sich „neu“ zu sehen. Mindestens zwei dieser Studios wurden zum Nukleus von später höchst erfolgreichen Erneuerungsbewegungen: Dem einen stand der ukrainische Regisseur Les Kurbas vor, dem zweiten die damals erst als Tänzerin bekannte Bronislawa Nijinska. Sie war nach der verunglückten Londoner Saison ihres Bruders Wazlaw Nijinski 1914 nach St. Petersburg zurückgekehrt. Da der Ausbruch des Krieges ihre Ausreise verhinderte und eine Mitgliedschaft in ihrem Heimatensemble – dem Ballett des Mariinski-Theaters – ihr verwehrt war, war sie gezwungen, anderweitige Engagements anzunehmen. Dieser Umstand brachte sie nach Kiew, wo der Name Nijinski nicht unbekannt war. Ihr Vater Tomasz Nijinski nämlich, dem Warschauer Ballettensemble angehörend, aber selbst auch reisender polnischer Solist, hatte nicht nur des Öfteren am Kiewer Opernhaus gearbeitet, ihm war es auch ein Anliegen gewesen, ukrainische Volkstänze nicht nur zu sammeln, sondern sie auch in das klassische Repertoire zu interpolieren. Kirsta 9

Mit Vehemenz und größter Zielstrebigkeit arbeitete Nijinska nun in ihrem Studio, das sie „Schule der Bewegung“ nannte, wobei sie, mit dem Anspruch und den Arbeiten ihres Bruders im Sinn, „neue“ Tänzer für seine Vorhaben heranzubilden suchte. Ein besonderes Anliegen war ihr, die Studierenden nicht nur körperlich, sondern auch geistig zu bilden, zu den Unterrichtsgegenständen gehörten neben den Tanzfächern auch Kunstgeschichte, Malerei, Theaterkunst und Musiktheorie. Schnell vernetzte sich Nijinska mit Kurbas, der seit 1920 Leiter des neuen staatlichen ukrainischen Theaterinstituts war, Nijinska übernahm dort die choreografische Abteilung. Noch im selben Jahr brachte sie ihre ersten eigenen Arbeiten heraus, einige davon wurden vom Opernhaus übernommen. Darunter war auch ein von Nijinska selbst getanztes „linkes“ Solo, in dem sie – wahrscheinlich – ein Kostüm von Exter trug. Exter, mittlerweile zu den renommiertesten Kostümbildnerinnen der Zeit gehörend, war 1914 zusammen mit Alissa Koonen und Alexander Tairow an der Gründung des Moskauer Kammertheaters beteiligt gewesen. Von Exters für dieses Ensemble entstandenen aufsehenerregenden Arbeiten ist nicht nur die für Tairows „Salome“-Produktion Theaterlegende geworden. 

Kirsta 10Unter den nachwachsenden, diese umstürzlerische Szene beobachtenden Künstlern war Georgi Kirsta. Mit sicherem Gespür für Begabung zog Nijinska ihn als Kostümbildner für eine ihrer Arbeiten heran. Eine völlig unterschiedlich motivierte Häufung von Ereignissen brachte noch 1921, also noch vor dem politischen Umbruch, wesentliche Veränderungen im kulturellen Angebot Kiews. Mit dem Abgang Exters und Nijinskas verließen zwei dominierende Künstlerinnen die Stadt. Exter mochte sich bereits auf die 1922 in Berlin angekündigte repräsentative „Russische Kunstausstellung“ vorbereitet haben, bei der immerhin ein Sechstel der Ausstellenden Frauen waren. Nijinska wiederum hatte die Nachricht von der Krankheit ihres Bruders erreicht. Nach jahrelangem Aufenthalt in Budapest war ihm die Ausreise aus der Stadt schließlich gelungen. Der gefeierte Tänzer konnte aber an seine legendären Vorkriegserfolge nicht mehr anschließen, seine psychische Labilität hatte vorübergehend eine Einweisung in eine Anstalt in Wien notwendig gemacht. 

GEORG K.: Der Vielbegabte etabliert sich in WienKirsta 11

Spätestens im Juni 1921 kam Kirsta nach Wien. Es liegt nahe, dass er dabei Nijinska gefolgt war, die sich in dieser Zeit in Wien befand. In ihr hatte Kirsta nämlich, was das tanztheatralische Handwerk sowie das Repertoire betraf, seine Lehrmeisterin gefunden. Leidenschaftlich an Neuerungen interessiert, erarbeitete sie mit gleichsam gereinigten Mitteln beziehungsweise Komponenten der alten Ordnung neue Bewegungsformen. Darüber hinaus hatte sie mit ihren für Kiew entstandenen Einstudierungen des klassischen wie des Ballets-Russes-Repertoires Kirstas Auge für die wichtigsten künstlerischen Mitstreiter von Serge Diaghilevs Ballets Russes geschärft. Diese erworbene Kenntnis wurde schließlich durch das Wiener Gastspiel des Ensembles 1927 verdichtet, bei dem Kirsta sieben der maßgebenden Ausstatter der Ballets Russes (Nicholas Roerich, Pablo Picasso, André Derain, Marie Laurencin, José María Sert, Naum Gabo und Antoine Pevsner) studieren konnte. Solcherart trat ein paradox erscheinender Umstand ein: Kirsta entwickelte sich in der Folge zu einem Ausstattungskünstler, der aus der Schule der Ballets Russes hervorgegangen zu sein schien! Seine Kostümskizzen vereinen das am Barock orientierte luftig-bewegte noble Demi-caractère eines Alexandre Benois, den Jugendstil eines Léon Bakst sowie die Räumlichkeit der Figuren Picassos, die, einem ersten – immer humorvollen – Impuls folgend, wie skizzenhaft schienen, sich aber letztlich sowohl auf dem Papier wie auf der Bühne als dauerhaft gültig erweisen. 

Kirsta 12Trotz seiner Jugendlichkeit war Kirsta also, was das Ballett betraf, schon mit beruflichen Erfahrungen jedweder stilistischer Richtung nach Wien gekommen. Gerade dies kam ihm beim Kontakt mit der hiesigen russischen Community zugute, denn zu den bedeutenden Wiener Vertreterinnen der Tanzmoderne hatte sich seit 1920 eine ganze Reihe russischer Kolleginnen gesellt. Diese wurde von der Duncanistin Ellen Tels angeführt, die zu den frühen Exponentinnen des russischen Freien Tanzes gehört, der sich „Plastischer Tanz“ nannte. Überdies hatte sie als ehemalige Lehrerin am Moskauer Künstlertheater auf Wunsch Konstantin Stanislawskis dem Ensemble Bewegungsunterricht gegeben, war also auch mit Theaterarbeit an sich vertraut. Kirsta 13

Nachdem Kirsta sich häuslich niedergelassen hatte – nach Wien wurde er begleitet von der in Jekaterinoslaw (Dnipro) geborenen Nadeschda Andrusky (ursprünglich Heismond, 1896–1982), die er 1929 heiratete –, kam im Oktober 1924 als Nachtvorstellung im Modernen Theater (heute Metro Kinokulturhaus) seine erste Wiener Bühnenausstattung mit dem Ellen-Tels-Ensemble heraus, „Commedia dell᾽arte des XX. Jahrhunderts“. Eine Wiederholung des Programms, das auch Tels᾽ „Orientalische Tragikomödie“ – besser bekannt als „Persisches Ballett“ zu Musik von Egon Wellesz – beinhaltete, fand im November im Konzerthaus statt. Dass Kirstas Wirken für Tels über das Entwerfen von Dekorationen und Kostüme hinausreichte, belegt seine Nennung als „Künstlerischer Beirat“ am Programmzettel.

Kirsta 14Von besonderer Bedeutung wurde auch Kirstas Zusammenarbeit mit der aus Riga stammenden charismatischen Tänzerin Mila Cirul, die 1919 mit Tels nach Wien gekommen war, sich aber 1923 aus deren Ensemble löste. Wiederholt schuf Kirsta für sie Kostüme, so etwa 1925 für Abende im Konzerthaus und im Theater in der Josefstadt, 1928 für ein Programm, das Cirul zusammen mit Hedy Pfundmayr im Konzerthaus tanzte und 1929 auch in Berlin präsentierte. Entwürfe für Otto Werberg sowie Erwin und Poldy Pokorny zählten in den Dreißigerjahren zu Kirstas Arbeiten für die Wiener Tanzszene. Zweifellos hätte das 1930 erfolgte Engagement Nijinskas als Ballettmeisterin an die Wiener Staatsoper Kirsta ein weiteres Arbeitsfeld eröffnet – doch Nijinskas abrupt erfolgter Rücktritt nach einer Amtszeit von nur 37 Tagen machte diese Perspektive zunichte.Kirsta 15

Neben dem nunmehr gesicherten Arbeitsplatz Wien, wo Kirsta auch eine schriftstellerische Tätigkeit begann (u. a. der Essay „Caravaggio und die Kunst der Gegenwart“ oder die Erzählung „Meißener Porzellan“), fasste er mehr und mehr in der aufblühenden modernen deutschen Theatertanzszene Fuß. Yvonne Georgi, eine ebenso vielseitige wie dynamische Vertreterin dieses so überaus erfolgreichen Genres, hat Kirsta nach Deutschland geholt. Zusammen mit ihrem damaligen „Regieassistenten“ Alfred Schlee – einer der nachmaligen Verlagsvorstände der Universal Edition – hatte Georgi begonnen, ein beispielhaftes Repertoire aufzubauen. 

Kirsta 16Zu den Kernstücken dieses Repertoires gehörten – in der Ausstattung von Kirsta – Igor Strawinskis Ballette „Pulcinella“ (1925 in Gera, 1926 in Hannover, wo die Produktion in Kirstas Ausstattung noch 1963 auf dem Spielplan stand, und 1929 in Braunschweig) und „Petruschka“ (1926 in Hannover als erste Produktion dieses Balletts in Deutschland, 1928 in Braunschweig). Zu bemerken ist, wie bei diesen Arbeiten Kirstas Dekorationen bzw. Hintergrundprospekte stilistisch gehalten sind: Völlig sachlich, ohne jegliche Schnörkel, bieten sie dem Tanz größtmöglichen Raum. Ein weiteres prestigeträchtiges Engagement führte Kirsta an die Städtische Oper nach Berlin, wo er 1929 für die Ausstattung von Lizzie Maudriks Fassung von Léo Delibes᾽ „Coppélia“ verantwortlich war (die Produktion wurde auch 1930 beim Tänzerkongress in München im dortigen Nationaltheater gezeigt).Kirsta 17

1931 arbeitete Kirsta für die Berliner Staatsoper, wo Georgi wie schon 1930 in Hannover Darius Milhauds „Le Train bleu“ herausbrachte und gemeinsam mit Harald Kreutzberg das schon im Jahr zuvor in Düsseldorf aufgeführte Duo „Pavane“ zur Musik von Maurice Ravel. Und auch für die dritte der legendären USA-Tourneen des Tanzpaares Kreutzberg–Georgi (1930/31) schuf Kirsta Kostüme. Neben der kostüm- und bühnenbildnerischen Tätigkeit entwarf Kirsta schon damals auch Ballettlibretti, etwa „Amazonenschlacht“ zu Musik von Antheil oder „Belagerung von Brest“ nach Nikolai Gogols „Taras Bulba“ zu Musik von Marc Lavry. 

Kirsta 18Mit der nächsten Verpflichtung stieg Kirsta nicht nur in die höchste Liga seiner Theatertätigkeit auf, sie eröffnete ihm gleichzeitig ein völlig neues Wirkungsfeld. Mit dem Angebot von Kurt Jooss 1935, sein „Johann Strauss, To-night!“ auszustatten, hatte sich zwar wieder ein Vertreter des deutschen Freien Tanzes an Kirsta gewandt, die Anfrage kam jedoch bereits aus England, wohin der politisch verfolgte Jooss mitsamt seinen Ballets Jooss geflüchtet war. An Jooss᾽ Ballett konnte Kirsta sein untrügliches Gespür für Zeit und Genre, darüber hinaus seinen, in diesem Fall, spöttisch liebevollen Witz ausspielen. Unter den Kirstas Kostüme tragenden Mitwirkenden: Erika Hanka, nachmalige Leiterin des Wiener Staatsopernballetts.Kirsta 19

Zwei Jahre später erreichte Kirsta – wiederum aus England – ein weiteres ehrenvolles Angebot: Für die Londoner Saison des Markova–Dolin Ballet anlässlich der Krönung von König George VI. sollte er ein Werk von Nijinska ausstatten, die mittlerweile auch in England Fuß gefasst hatte. In Kiew bereits vor mehr als eineinhalb Jahrzehnten erprobt, kam es nun zu einer Neuauflage des Teams Nijinska/Kirsta. Die Zusammenarbeit Kirstas mit der führenden Choreografin der damaligen Zeit an „The Beloved One“ („La Bien-Aimée“) nannte der Kompanieleiter Anton Dolin „a happy and brilliantly successful combination“. Die Hauptdarstellerin Alicia Markova des mitunter auch „Wien 1840“ genannten Werks (Musik: Franz Schubert und Franz Liszt, arrangiert von Milhaud) mochte Kirsta schon 1927 anlässlich ihres Auftretens mit den Ballets Russes in der Wiener Staatsoper kenngelernt haben. Allem Anschein nach galt der Wahlwiener Kirsta als Ausstatter der beiden „Wiener Ballette“ von Jooss und Nijinska in England als Experte für wienerische Sujets. Vor seinem endgültigen Umzug nach England stattete der nunmehr jedoch von seiner Wahlheimat Abschiednehmende im November 1937 noch eine Produktion des Theaters in der Josefstadt aus: Maxim Gorkis „Das Nachtasyl“ in der Regie von Ernst Lothar. Dies sollte seine letzte Arbeit für Wien bleiben. 

Kirsta 20Ein zusätzliches Element: künstlerischer Tanz – auch auf dem Eis!

Die nun folgende Zäsur in Kirstas Theaterarbeit mochte mehrere Gründe gehabt haben. Einer davon war sicherlich die verschiedenartige kulturelle Szene in London, in die es sich erst einzuarbeiten galt. Im Unterschied zum mitteleuropäischen Raum dominierte in England, was den Tanz betraf, das klassische Ballett. Unterschiedlich waren da nicht nur die eingesetzten tänzerischen Mittel, sondern das Werkkonzept an sich, das auf einer strengen hierarchischen Ordnung aufbaute. Darauf auch im Kostümbereich einzugehen, verstand sich von selbst. Mitglieder des Corps de ballet oder Solistenpartien waren kostümlich anders zu behandeln als das führende Paar beziehungsweise die Ballerina. Was die Orte des Geschehens der Ballette betraf, waren diese meist detaillierter bestimmt als in den bis dahin entstandenen Arbeiten. Ein weiterer Grund für die vorübergehende berufliche Abstinenz mochte auch persönlicher Natur gewesen sein. Kirsta hatte, nach der 1937 erfolgten Scheidung von seiner ersten Ehefrau, im Oktober 1938 in London die Wienerin Illy Holzmann geheiratet. Die Tochter Alix, heute eine bekannte Schriftstellerin, wurde 1945 geboren. Kirsta 21

Diese an sich private Angelegenheit ist insofern von allgemeinem Interesse, als Illy Holzmann – nicht zu verwechseln mit ihrer Schwester, der Schauspielerin Olly Holzmann – als ausgebildete Tänzerin (sie studierte bei Leo Dubois, Hilde Holger, Pfundmayr und an der Staatsakademie bei Grete Wiesenthal) ein ganz eigenes Genre kreierte: den Künstlerischen Tanz auf dem Eis! Dabei handelte es sich weder um Teilnahme an Wettbewerben noch um das Auftreten in Eisrevuen – beides erfreute sich in Wien höchster Beliebtheit –, sondern, wie es in einer Rezension hieß, um „aufs Eis übertragenen Bühnentanz“. (Anders als die heute geübte – völlig missglückte – Praxis, Eiskunstlauf in ein messbares „objektives“ Wertungssystem zu pressen, war der damals unternommene Sidestep ins Künstlerische deswegen so überaus erfolgreich, weil er aus den Gegebenheiten der Sportart, dem langgezogenen Gleiten und dem scheinbar mühelosen Schweben und Drehen, heraus entwickelt war.) 

Kirsta 22Die Schwestern Illy (Ilona, Wien 1914–Slough 1983) und Olly (Olga, Wien 1916–London 1995), die im Wiener Verein Kunsteisbahn Engelmann gewachsen waren, hatten seit 1932 Duotänze wie „Loin du bal“, „An der schönen blauen Donau“ und „Fledermaus-Walzer“ entwickelt und daneben auch „musikalisch-rhythmische“ Vorführung dargeboten. Die Presse reagierte sofort und zeigte damit das große Verständnis für das Eislaufen, das als wahre „Volkskunst“ angesehen wurde. Die Schwestern, „als Eisläuferinnen und Tänzerinnen gleich hervorragend“, seien es gewesen, die „als erste in Wien rein künstlerischen Tanz auf dem Eis gezeigt“ hätten. Eine intensive Gastspieltätigkeit – Zürich, Prag, Budapest, Brüssel – folgte. Schon 1932 hatte das Programm im Berliner Sportpalast „auf die stürmische Aufforderung des Publikums“ wiederholt werden müssen. Solotänze von Illy, die besonders bekannt wurden, waren: „Leichte Kavallerie“ (pointiert bezeichnet als „Spanische Reitschule aus der Dressur Wiesenthal“), „Faust-Walzer“, „Irrlicht“ und „An der schönen blauen Donau“; beliebteste Solonummer von Olly war die Parodie „Deutschmeistermarsch“. Kirsta 23

Immer wieder wurden die Schwestern als Schöpferinnen „des darstellenden Kostümlaufes auf dem Eise“ gefeiert. Besonders hervorgehoben bei einem Walzersolo Illys wurden das lange, fließende Kleid und dessen Effekt beim „tänzerischen Schweben und Drehen“. Als „elegant, schwierig, musikalisch“ beschrieb der Sportjournalist Alexander Meisel Illys Walzertanzen in einer Kür (sie hatte nebstbei auch beachtliche Erfolge bei sportlichen Konkurrenzen zu verzeichnen). Die Mehrfachbegabungen der Schwestern Holzmann zeigten sich bei Illy in ihren Engagements im Pfundmayr-Ballett, mit dem sie 1935 in Griechenland und Holland und 1937 in London gastierte. Noch im selben Jahr konnte sie aber auch als Starläuferin in Sir Oswald Stolls Eisshow „St. Moritz“, die im London Coliseum lief, in Erscheinung treten; Olly hingegen wechselte von der Tänzerin auf dem Eis und auf der Bühne (im Pfundmayr-Ballett) zur Schauspielerin, als die sie insbesondere mit Hauptrollen in Filmen reüssierte (vor allem in „Der weiße Traum“ an der Seite von Wolf Albach-Retty und dem Doppelolympiasieger Karl Schäfer). 

Mittlerweile hatte Kirstas erste Ehefrau Nadeschda, die auch als georgische Prinzessin Watschinadse bekannt war, in Paris ihr eigenes reisendes „Ballet Kirsta“ gegründet, dem zeitweise auch Roland Petit, Leslie Caron und Brigitte Bardot angehört haben sollen. Das Unternehmen bestand bis 1956, danach ging Nadeschda Kirsta nach Australien, wo sie in Melbourne eine Ballettschule leitete. Alexander Meisel (1904–1942), der erste Ehemann Illy Holzmanns, wurde nach dem „Anschluss“ nach Dachau deportiert, kam 1939 auf ausländische Interventionen frei und ging als Staatenloser in die Tschechoslowakei, wo er nach der Okkupation durch das Deutsche Reich erneut verhaftet und nach Sachsenhausen deportiert wurde. 1942 wurde er im dortigen Konzentrationslager ermordet.

Kirsta 24GEORGE K.: Apotheose mit raschem Vorhang

Kirstas kaum zwei Jahrzehnte währendes Wirken in England – er starb bereits 1955 – bezeugt, wie sehr sich, tanzspezifisch gesehen, dieser kulturelle Raum von jenem in Mitteleuropa unterschied. Waren es an den Bühnen Mitteleuropas die freien Tänzer, die die künstlerische Arbeit bestimmten, jedoch bald vom politischen Geschehen weitgehend ausgelöscht wurden, so war es in England die klassische russische Ästhetik, die man als Fundament sah, Eigenes zu entwickeln. Wobei allerdings – auch aus ökonomischen Gründen – die hier wirkenden (Exil-)Russen mehr und mehr in den Hintergrund traten. Missliche Umstände ließen größere private Unternehmungen nicht mehr zu. Kirsta selbst, seine Tätigkeit als Ausstatter in zunehmendem Maße aber auch als Produzent und Leiter von Ballettkompanien, ist Teil dieser Entwicklung.Kirsta 25

Die erste von Kirsta verantwortete Produktion, die die „Times“ als „a very vivid entertainment“ bezeichnete, ist noch dem russischen Genre zuzuordnen. Es handelte sich dabei um eine vom Ensemble „Russian Opera and Ballet“ 1941 im Savoy Theatre herausgebrachte, von Kirsta betreute Aufführung von Modest Mussorgskis „Der Jahrmarkt von Sorotschinzi“, in der die Exilrussin Catherine Devillier für die Choreografie verantwortlich war, mit Diana Gould aber bereits eine englische Ballerina hervortrat. (Dass dieses Werk in Kirstas engerer Heimat Ukraine spielt, soll nicht übersehen werden.) Bereits als englisches Unternehmen kann die 1942 im Strand Theatre wiederum von Kirsta herausgebrachte Produktion „Offenbach’s Tales of Hoffmann“ bezeichnet werden. In dem als „fantastical Opera-Ballet“ konzipierten Werk tanzten Mitglieder des Ballet Rambert in einer Choreografie von Frank Staff. Ebenfalls als ein eigener Werktyp gedacht war Kirstas nächste Unternehmung, die Krimikomödie „Bullet in the Ballet“, die 1946 nach dem Roman von Caryl Brahms und S. J. Simon im King’s Theatre Edinburgh herauskam. In dramaturgisch ausgeklügelter Weise wurden in das Geschehen Highlights aus russischen Balletten („Petruschka“, „Gaîté Parisienne“) interpoliert. Stars wie Léonide Massine (auch Choreografie) und Irina Baronova trugen wesentlich zum Erfolg des Stücks bei. Als russischer Impresario Stroganoff brillierte der in England vorwiegend als Ausländer aller Arten eingesetzte Ex-Wiener Charles Goldner.

Kirsta 26In den nächsten Jahren beginnt sich Kirstas Tätigkeitsbereich stark zu weiten. 1947/48 fungiert er als Artistic Director für das englische Metropolitan Ballet. Neben John Taras’ „Designs with Strings“ (Musik: Peter Iljitsch Tschaikowski), das den Weg ins internationale Repertoire fand, und Werken von Victor Gsovsky stach insbesondere Staffs „The Lovers’ Gallery“ (Musik: Lennox Berkeley) hervor, worin der Maler Kirsta gleichsam zum Spiritus Rector für den Librettisten und Ausstatter Kirsta wurde. Die Kompanie war auch Karriere-Sprungbrett für zukünftige Stars wie Svetlana Beriosova, Sonia Arova und Erik Bruhn. Schon 1948 entstehen erste Pläne für eine eigene Kompanie. Interessant daran ist, dass Kirsta – eine in England später kaum geübte Praxis – dafür nicht nur Ballettschaffende des anglo-amerikanischen Raumes beschäftigen möchte – etwa Taras oder Andrée Howard –, sondern auch Choreografen des Kontinents – etwa Boris Kniaseff, Poul Gnatt, sogar Julian Algo und Aurel von Milloss. Kirsta 27

Und für die englische Nachkriegs-Comeback-Tournee von Markova und Dolin und deren Concert Group schuf Kirsta 1949 Ausstattungen für Tschaikowskis „Schwanensee“ (2. Akt) und „Nussknacker“ (Ausschnitte) sowie „Les Sylphides“ (Musik: Frédéric Chopin). Jugenderinnerungen werden bei Kirsta zweifellos wach geworden sein, als er für Markova das Kostüm zu Nijinskas „Autumn Song“ (Musik: Tschaikowski) entwarf. Nijinska hat dieses Solo 1915 in Petrograd für sich selbst choreografiert und in eine Tunika gekleidet barfuß getanzt. Der enorme Erfolg dieser von Julian Braunsweg gemanagten Tournee des Ballettklassik in Reinkultur zelebrierenden britischen Starpaares, das die Kriegsjahre in den USA verbracht hatte, zog ein Jahr später die Gründung des Festival Ballet nach sich, das mit den drei oben genannten, wiederum von Kirsta ausgestatteten Balletten die Grundpfeiler seines Repertoires erhielt. (Dank seines Bühnenbildes zu „Les Sylphides“, das 1962 durch ein Gastspiel des Festival Ballet an der Wiener Staatsoper zu sehen war, zog Kirsta posthum in das Haus am Ring ein.)

Kirsta 28Anfang der Fünfzigerjahre kam für Kirsta eine noch weit ehrenvollere Aufgabe hinzu, denn was schon seit geraumer Zeit im Raum gestanden war, wurde durch den im Juli 1951 erfolgten Tod von Colonel Wassili de Basil in Paris akut: die Nachfolge der Leitung der Ballets Russes. Der Colonel hatte nach dem 1929 erfolgten Tod von Diaghilev 1932 die Ballets-Russes-Nachfolgekompanie „Ballets Russes de Monte-Carlo“ mitbegründet. Die zuletzt „Original Ballet Russe“ genannte Kompanie war – wohl nachkriegsbedingt – seit 1948 inaktiv. Pläne für eine Wiederbelebung hatte es bereits gegeben, de Basil selbst strebte, wie dies Briefe belegen, eine Zusammenarbeit mit Kirsta an, wobei es ihm ein Anliegen war, nicht nur das alte Repertoire zu pflegen, sondern das Ensemble auch mit Kreationen künstlerisch weiterzuführen. De Basil ermuntert Kirsta: „I have not the slightest doubt that with your knowledge of the ballet᾽s problems and your experience, your valuable collaboration will be at the base of our mutual achievements.“ Wenig später setzt er nach: „I feel confident now because I have a last found in you a trustworthy successor who will doubtless continue my work should I vanish, and who will guide the Ballet Russe in the future.“Kirsta 29

Im Sommer 1951 erfolgte nun tatsächlich durch Kirsta in London eine Neuformierung des Original Ballet Russe. Dabei wurde die eingespielte Auftrittsroutine des Ensembles, eine längere Saison in der Hauptstadt sowie ausgedehnte Tourneen in der Provinz, wieder aufgenommen. Als Ballettmeister der Kompanie fungierten Serge Grigoriev und Lubov Tchernicheva, beide aus Diaghilevs „Urkompanie“ 1909 in Paris. Dirigenten waren der 1938 als Elfjähriger aus Wien geflüchtete Joseph Horovitz und der junge Colin Davis. Unter den Tänzerinnen befanden sich so bekannte Namen wie Nina Stroganova, Inge Sand, Sonia Arova, Toni Lander und Paula Hinton. Dem Kultstatus der Kompanie entsprach die Zusammensetzung des Repertoires: „Polowetzer Tänze“, „Le Coq d’Or“ und „Paganini“ von Michail Fokin; „Les Présages“ von Massine; „Kadettenball“ von David Lichine; dazu die Klassiker „Auroras Hochzeit“ und „Schwanensee“ (2. Akt). 

Kirsta 30Libretto und Ausstattung für die letzte Uraufführung des Original Ballet Russe – „Femmes d’Alger“ nach dem Gemälde von Eugène Delacroix 1952 in der Londoner Royal Festival Hall – steuerte Kirsta selbst bei. Für die Choreografie war Vladimir Dokoudovsky verantwortlich, die Musik stammte von Horovitz. Ein wichtiger Fokus dieses Komponisten, der u. a. in Oxford bei Wellesz studiert hatte, lag auf der Theaterarbeit und hier wiederum besonders auf dem Ballett. (Von seinen zahlreichen Werken dieser Gattung war „Alice in Wonderland“ – 1953 für das Festival Ballet komponiert – 1970 im Theater an der Wien in einer Choreografie von Alois Mitterhuber zu sehen.) Das Ende des Original Ballet Russe kam schneller als erwartet. Am 26. Januar 1952 erfolgte die letzte Aufführung im Londoner Adelphi Theatre. Arnold L. Haskell prophezeite angesichts der aus finanziellen Gründen erzwungenen Auflösung der Kompanie und ihres gehaltvollen Repertoires, „many worthwile ballets will perish“.Kirsta 31

Diese zweifellos bittere Erfahrung hinderte Kirsta jedoch nicht, in großen Dimensionen weiter zu denken. Sein diesbezügliches Bestreben mündete in der Gründung eines eigenen Ensembles: An historische Beispiele anknüpfend, nannte Kirsta seine Truppe „Ballet Comique“. Seinem hohen Anspruch folgend, sollte die Basis des Repertoires zwar auf Klassikern ruhen, das Hauptaugenmerk jedoch auf Kreationen liegen. Erneut fällt in diesem Zusammenhang auf, dass Kirsta auch eine ganze Reihe von kontinentalen Künstlern dafür heranzuziehen gedachte. Dazu gehörten Harald Lander, Heinz Rosen, Birger Bartholin, aber auch Erik Bruhn. Als Ballettmeister agierten Stanley Williams und Michel de Lutry. Das Ensemble umfasste 24 Mitglieder, Ballerinen waren Irène Skorik und Xenia Palley; am prominentesten unter den Tänzern: Björn Holmgren.

Kirsta 32Nach einem Start in Liverpool im April 1954 erfolgte eine ausgedehnte England-Tournee. Ein bedeutender „russischer“ Schwerpunkt im Repertoire wurde mit der Uraufführung eines – mehr als zehn Jahre vor John Cranko – von Victor Gsovsky zu Auszügen aus Tschaikowskis Oper gestalteten „Eugen Onegin“-Balletts gesetzt (Musikzusammenstellung: Leonard Hancock). Librettist aller Kreationen des Ballet Comique war Kirsta selbst (bisweilen unter dem Pseudonym Jean de Caliberda). Von Kirsta geförderte Choreografen wie Jack Carter und Peter Darrell sollten später wichtige Positionen im britischen Ballett einnehmen: Carter brachte es zum Chefchoreografen des London Festival Ballet, Darrell zum Direktor des Scottish Ballet. Deryk Mendel, ein weiterer Choreograf der Kompanie, wurde zu einem maßgebenden Samuel-Beckett-Interpreten und -Regisseur. Noch ganz am Beginn seiner bedeutenden Karriere als Szenograf stand der von Kirsta herangezogene Ralph Koltai. Den hochgespannten Erwartungen zum Trotz war Ballet Comique nur eine kurze Lebensdauer beschieden, es blieb das letzte Unternehmen des – wie Mary Clarke es formulierte – von „intense and romantic Russian love of ballet“ erfüllten Künstlers. George Kirsta starb am 19. Februar 1955 in London. 

Der „Schrifttanz“-Autor Kirsta

Auf zwei von Kirsta in Wien verfasste Schriften sei abschließend eingegangen. Sie wurden in der unter der Federführung von Schlee stehenden, in den Jahren 1928 bis 1931 von der Universal Edition herausgegebenen Zeitschrift „Schrifttanz“ veröffentlicht.Kirsta 33

Die niedergelegten Gedanken zu zeitrelevanten Fragen – knapp, pointiert, sarkastisch und witzig – fallen durch eine besondere Kenntnis der Geschichte des behandelten Gegenstandes auf. Schon in einem frühen Heft schreibt Kirsta über das „Ballett von morgen“ (Januar 1929). Er tut dies – ganz aus Zeit (Ende der Zwanzigerjahre) und Ort (Wien) heraus, das heißt also vom kulturellen Raum Mitteleuropa und einer Sphäre ausgehend, die den klassischen Tanz weitgehend zurückgedrängt hat. Seiner künstlerischen Sozialisation bei Nijinska gemäß, deklariert er sich als überzeugter „Klassiker“ und vermerkt „trotz der fieberhaften Anwendung guter neuer Musik und allerneuester Bühnenbildnerei“ ein Treten am Platz. Dem könne auch nicht durch verstärkte Fokussierung auf Ausbildung entgegengewirkt werden, zumal sich diese Pädagogik mehr dem „Volksgesundheitlichen“ zuwende. Was das Ballett betrifft, so blieben die diesbezüglichen Theaterproduktionen hinter dem Wissen und dem Anspruch des durch Rhythmusbewegung und Film geschulten Publikums weit zurück. Kirstas geforderte Reform konzentriert sich auf die Choreografie selbst, lässt das Libretto weitgehend beiseite.

Kirsta 34Kirsta fordert zunächst eine „wohltuende Reinigung“ des Tradierten, sodann eine Konzentration auf „sämtliche körperlichen und maschinellen Errungenschaften“. Die klassische Schulung, allen neueren Methoden – Kirsta meint damit Methoden, die mit der Tanzmoderne verbunden sind – weit überlegen, sei dafür die „technisch elementare Schulung“, darüber hinaus „hervorragender Fundus“. Inhalt eines Balletts sei allein „die motorische Eigensprache des Tänzerkörpers“, der auf „rein choreographischem Wege dramatisiert wird“. Die klassische Sprache selbst solle dabei durch jedwede Bewegung erweitert werden. Die von Kirsta niedergelegten Forderungen fanden in Europa erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts breiten Widerhall.Kirsta 35

In dem kurzen Aufsatz „Vom Tanzkostüm“ (November 1930) befasst sich Kirsta besonders mit Stofflichkeit von Kostümen und meint, es sei an der Zeit, von den jetzigen von den modernen Tänzerinnen getragenen Moden abzugehen. Statt der dort verwendeten Materialien „Pappe, Draht, Blech und grobes Leinen“ oder aber der „vielen Meter Stoff, die in Begleitung e i n e r Tanzperson auf die Bühne kamen“, sei zurückzugreifen auf früher verwendete Stoffe und diese mit ihrer ehemaligen Wirkungswelt in Zusammenhang zu stellen. Denn: Der Tänzer agiere in einer „souveränen unwirklichen Welt: Musik, Bühnenbild, Farblicht“. Kirsta fordert die „Wiedergewinnung des Schneiderschnittes“ für das Tanzkostüm. „Der Schnitt wiederholt die choreographische Grundlinie des jeweiligen Tanzes; die Farbe des Stoffes stellt den Wärmegrad des Tanzes fest, und das knappe Ornament bildet, bezw. unterstreicht die Bewegungskadenzen.“ 

Curtain Calls in Salzburg

Die Tätigkeit Kirstas als Bühnenausstatter umfasste einen Zeitraum von rund 35 Jahren. Beginnend mit der Kiewer Avantgarde über die Wiener Tanzmoderne, die von Russland mitgeprägt war, den modernen deutschen Theatertanz, die Exilpflege russischer Gattungen bis zur tradierten französisch-russischen Ballettklassik in England und schließlich dem modernen englischen Ballett umspannt sie völlig divergierende Genres. 

Kirsta 36All dies kann in Salzburg studiert werden, wo sich in der durch Schenkung von Alix Kirsta überlassenen „Collection Georg Kirsta“ in der Bibliothek der Universität Salzburg ein umfangreicher Teilnachlass des Künstlers befindet. Er ist Teil der vom Leiter des Fachbereichs Kunst-, Musik- und Tanzwissenschaft, Nils Grosch, 2014 gegründeten Salzburg Music and Migration Collections und beinhaltet Dokumente, Briefe, Verträge, Skizzen, Entwürfe, Zeichnungen, Texte, Libretti, Partituren, Plakate, Programme, Fotos und Kritiken. Herausgegeben von Grosch, erschien dazu 2016 bei Artbook in Salzburg „Dokumente zu Musik und Migration aus Salzburger Sammlungen“. 

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