Wien weist eine Reihe von öffentlichen Verkehrsflächen auf, die zwischen 1894 und 2016 nach Persönlichkeiten des Tanzes benannt wurden. Es sind dies: eine Promenade, neun Gassen, drei Wege und ein Steig. Diese erfreuliche Tatsache kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass gängigere Bezeichnungen von Verkehrsflächen – Straßen, Plätze oder Alleen – (noch) keinem Tanzschaffenden gewidmet sind. (Vermessen wäre es wohl, sich Abschnitte am Gürtel oder gar am Ring vorzustellen, die dem Andenken an Ausübende der Tanzkunst gewidmet sind.)
Im Folgenden werden die NamensspenderInnen der 14 einschlägig benannten Wiener Verkehrsflächen vorgestellt; die Reihenfolge entspricht dem Zeitpunkt der Benennung. Es sind – erfreulicherweise fast ausgeglichen – acht Frauen und sechs Männer. Erfreulich auch, dass dabei nicht nur alle stilistischen Richtungen des Tanzes berücksichtigt sind, sondern dass auch zwei Tanzwissenschaftler vertreten sind. Als Namensgeberin steht am Beginn von Teil I des Artikels Fanny Elßler, es folgen Josef Hassreiter, Carl Godlewski, Victor Junk, Luigia Cerale, Rudolf von Laban und Raimund Zoder. Teil II gilt Grete Wiesenthal, Julia Drapal, Christl Zimmerl, Rosalia Chladek, Rudolf Nurejew, Susanne Schmida und Gertrud Bodenwieser.
Was die Verteilung auf die einzelnen Bezirke betrifft, so ist der 22. mit den Namensgebungen Godlewski, Junk, Chladek, Nurejew, Schmida und Bodenwieser führend, im 19. sind es mit Laban, Zoder und Zimmerl drei, im 10. mit Cerale und Wiesenthal zwei Benennungen. Im 13., 14., und 23. Bezirk ist mit Elßler, Drapal und Hassreiter jeweils eine solcherart benannte Verkehrsfläche vorhanden. (Auffallend ist, dass all diese Bezirke eine zweistellige Ziffer tragen, im einstelligen Bereich, in Bezirken innerhalb des Gürtels also, sucht man vergeblich nach tanzbezogenen Benennungen.)
Der formale Aufbau der einzelnen Besprechungen erfolgt immer in gleicher Weise. Nach knapp gehaltenen Daten und Fakten zur Person wird auf einen oder mehrere gemeinhin weniger beleuchtete Aspekte der jeweiligen Karriere eingegangen.
1894: 13., Hietzing (Unter-St.-Veit)
Elßlergasse
Benannt nach Fanny Elßler, 23.6.1810 Gumpendorf (bei Wien) – 27.11.1884 Wien, Tänzerin. Einen ihrer ersten Auftritte hatte die heute legendenumrankte Wienerin 1822 als knapp Zwölfjährige im Kärntnertortheater an der Seite ihrer späteren Rivalin Marie Taglioni. Das Wiener Ensemble verließ Elßler 1832, um die Bühnen der Ballettwelt zu erobern. Nach Wien kehrte sie nur als Gast zurück, man sah sie hier unter anderem als Giselle, Lise, Esmeralda und bei ihrer Abschiedsvorstellung 1851 als Margarethe in „Faust“. Müsste man den Ballerinenkult des 19. Jahrhunderts in ein einziges Solostück bannen, so fiele die Wahl auf Elßlers „Cachucha“ (in Wien musste sie es 1837 in acht Vorstellungen 22 Mal tanzen!). Unter Elßlers zahlreichen Nachfolgerinnen als Interpretin dieses Tanzes waren auch zwei Ballerinen des Wiener Balletts, die wie ihre große Vorgängerin zu Namensstifterinnen für Wiener Verkehrsflächen wurden: Luigia Cerale und Christl Zimmerl.
Die Tafel, die an der letzten Wiener Wohnadresse Fanny Elßlers angebracht ist, hält das Bleibende fest: „Das Lächeln des Jahrhunderts“. Diesen Zustand des heiter-sinnlichen Seins hinterließ die Wiener Ikone der Theatergeschichte auf der ganzen Welt. Zunächst zu Hause, dann unter anderem in Berlin, London, Paris, New York, Washington, Havanna, Mailand und schließlich in St. Petersburg und Moskau. Im Anschluss an ein Gastspiel in London 1843, bei dem sie als Giselle Triumphe feierte, soll Elßler laut Zeitungsberichten in Oxford mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet worden sein. So schreibt etwa „Der Sammler“ am 7. August 1843: „Fanni Elßler hat von der Universität Oxford Ehren halber den Titel: ‚Doktor der Tanzkunst und Pantomimik‘ erhalten.“ Vom Elßler-Biografen Ivor Guest konnte dies allerdings nicht verifiziert werden (hingegen weiß man mit Bestimmtheit, dass rund 120 Jahre später Dame Margot Fonteyn ein Ehrendoktorat der Universität Cambridge zuteil wurde). Da als Namensgeberin der Elßlergasse nicht explizit Fanny, das berühmteste tanzende Mitglied der Familie Elßler, ausgewiesen ist – ihre älteren Schwestern Anna und Therese wirkten ebenfalls am Kärntnertortheater –, sei an dieser Stelle auch Therese Elßler sowie Hermine Elßler, der Cousine von Anna, Therese und Fanny, gedacht.
Hermine Elßlers Verbindung zu einer universitären Institution unterliegt keinem Zweifel: Das Vermögen, das sie bei Gastspielen (insbesondere in London und an deutschen Hoftheatern) ertanzt und von ihrem Ziehvater, Eugen Graf Haugwitz, geerbt hatte, ließ sie in eine Stiftung einfließen, die Stipendien an Studierende der Wiener Universität ausschüttete. Weitere Stipendien ergingen an Studierende der Akademie der bildenden Künste, des Konservatoriums, der Lehrerinnenbildungsanstalt sowie der Ballettschule der Hofoper (eine der Stipendiatinnen war die spätere Erste Solotänzerin und Lehrerin von Generationen von Wiener TänzerInnen, Adele Krausenecker).
Höhepunkt in Therese Elßlers Karriere war ihre Kreation „La Volière“ (Musik: Casimir Gide) 1838 an der Pariser Opéra. Damit war sie die erste Frau, die an diesem Haus ein Werk in der von Männern dominierten Kunstsparte Ballett geschaffen hat. (Im 19. Jahrhundert sollte an der Opéra nur eine einzige weitere Frau, Marie Taglioni, mit der Schöpfung eines Balletts betraut werden.) Nach ihrem Abschied von der Bühne war Therese Elßler in morganatischer Ehe mit Prinz Adalbert von Preußen verbunden.
Apropos Familie Elßler: 1830 beherrschten am Kärntnertortheater in Armand Vestris᾽ Zauberballett „Die Fee und der Ritter“ die „Elßler-Mädeln“ die Personnage: Fanny als Fee Viviane, Therese en travestie als Ritter Alidor, Anna als dessen Braut Prinzessin Iseult und Hermine als Rosenmädchen!
1935: 23., Liesing (Mauer)
Haßreitersteig
Benannt nach Josef Hassreiter (schon zu seinen Lebzeiten!), 30.12.1845 Wien – 8.2.1940 ebd, Tänzer, Choreograf, Ballettmeister, Lehrer. Ausgebildet bei Gustave Carey und Giovanni Golinelli an der Wiener Hofoper, war Hassreiter Solotänzer respektive Erster Solotänzer in München und Stuttgart, ehe er an sein Stammhaus berufen wurde. 50 Jahre – von 1870 bis 1920 – stand er in Diensten der Wiener Oper: 20 Jahre als Erster Solotänzer, 30 Jahre als Ballettregisseur und Lehrer. 1915 wurde er Ehrenmitglied. Viele der 38 Ballette, die er für das Hofopernballett schuf, erzielten ungewöhnlich hohe Aufführungszahlen; am erfolgreichsten: „Die Puppenfee“ (845 Mal) und „Sonne und Erde“ (362 Mal). Die meisten waren in Zusammenarbeit mit den Librettisten Franz Gaul und Hermann Regel sowie dem Komponisten Josef Bayer entstanden.
Premierenorte und Anzahl der Vorstellungen bestätigen es: Josef Hassreiters Strahlkraft reichte weit über seine Heimatstadt und den gesamten Raum der österreichisch-ungarischen Monarchie hinaus. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war er – sogar weltweit gesehen – einer der bestimmenden Choreografen der klassischen Szene.
Triebfeder seiner Produktionen war Zeitgenossenschaft, das heißt, was immer inhaltlich aufgegriffen wurde – Märchen, historische Themen, Allegorien, Huldigungen an den Fortschritt, Länder- und Völkerpanoramen –, stand in Relation zum Heute, zu (gesellschafts-)politischen Gegebenheiten, sogar zum Tagesgeschehen. Von der Anlage her groß, meist abendfüllend und hierarchisch gebaut, war die tanztechnische Grundlage die klassische Mailänder Schule. Dieser zugeordnet waren die Charakterfächer, die sich für die Präsentation des friedlichen Völkerreigens der Monarchie als besonders wichtig erwiesen. Das mimische Fach transportierte stücktragend die Handlung. Das gezeigte Frauenbild entsprach dem gesellschaftlich Erwarteten der Zeit.
Hassreiters Tätigkeit ging weit über die Arbeit für institutionalisierte Hoftheater hinaus, denn er war auch Protagonist einer Entwicklung, die – dank der neuen Verkehrsmittel zunehmenden Mobilität des Publikums – zu einer Wende der theatralischen Landschaft führte. Einer breiten Zuschauerschaft war es nun möglich, die rasch entstehenden großen Theater zu besuchen. Meist privat betrieben, setzten diese auf „serientaugliche“ Produktionen. Ein Autor solcher Stücke war Hassreiter.
Seine Ballette – allen voran „Die Puppenfee“ – gingen über mehrere Hundert Bühnen. Sie wurden von Hassreiter selbst, seinen Assistenten oder lokalen ChoreografInnen einstudiert (sogar Berichte über Tantiemenzahlungen aus China und Japan sind überliefert!). Der Unüberschaubarkeit der Verbreitung von Hassreiters Balletten wegen, sei hier allein seine Präsenz in den Ballettmetropolen skizziert: Zur Eröffnung des Berliner „Serientheaters“ Theater Unter den Linden (heute Komische Oper) 1892 kreierte er „Die Welt in Bild und Tanz“, ein Jahr später „Columbia“ (rund 200 Vorstellungen!), ein die Weltausstellung in Chicago thematisierendes Werk, das als Gastspiel auch im Wiener Carl-Theater zu sehen war. Darüber hinaus kamen im Opernhaus Unter den Linden „Die Puppenfee“ und „Die roten Schuhe“ heraus. In Mailand, wo der Choreograf schon seit 1893 mit vier seiner Werke („Die Puppenfee“, „Tanzmärchen“, „Die roten Schuhe“, „Sonne und Erde“) vertreten war, kreierte er 1914 „Il salice d’oro“ zu Musik von Riccardo Pick-Mangiagalli. Das Pariser Olympia führte 1894 „La Fée des poupées“ auf, am St. Petersburger Mariinski-Theater waren für die Einstudierung von „Feja Kukol“ 1903 die Brüder Legat verantwortlich, im Londoner Empire Theatre besorgte Katti Lanner 1905 die dortige Produktion von „The Dancing Doll“. Dass Hassreiters „Puppenfee“ auch in New York gespielt wurde, versteht sich von selbst: im Metropolitan Opera House erstmals 1890 (dort sogar unter dem deutschen Originaltitel).
1955: 22., Donaustadt (Kagran)
Godlewskigasse
Benannt nach Carl Godlewski, 20.11.1862 Dortmund – 8.12.1949 Mödling, Tänzer, Choreograf, Ballettmeister, Lehrer. Sohn des Baumeisters Ludwig Godlewski aus dem damals Österreich angegliederten Teil Galiziens und der aus Ungarn stammenden Maria Reinhardt. In Russland zum Artisten und Tänzer ausgebildet, war er nach einer Karriere als Zirkuskünstler in den Unternehmen Ciniselli und Renz von 1893 an eine tragende Säule des Wiener Balletts.
Carl Godlewskis Karriere kann schon deswegen als außerordentlich bezeichnet werden, weil sie völlig „außer“ der „Ordnung“ einer „normalen“ Tänzerausbildung verlief. Diese pflegte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie folgt zu sein: Ein Aspirant wird in eine institutionalisierte Ballettschule aufgenommen, um nach einigen Jahren Lehrzeit in ein Hofopernballett engagiert zu werden, und steigt dann – je nach Talent – in eine führende Position auf, die er in der Folge auch im Ausland vertreten kann. Sein Tänzerfach gibt die ihm zustehenden Rollen vor. Startete ein junger Tänzer also meist von einer Heimatinstitution aus und konnte von da nach außen strahlen, so verlief Godlewskis künstlerische Laufbahn genau umgekehrt. Er kam nach einer bereits beachtlichen internationalen Karriere nach Wien und fand hier seine Heimat.
Auslöser für Godlewskis Werdegang war wohl der Beruf seines Vaters, der sich auf die Errichtung von Zirkusgebäuden spezialisiert hatte. Eines der Länder, in denen er baute, war Russland. Nachdem Godlewski schon als Kind an Zirkusaufführungen beteiligt gewesen war, strebte er eine breite, dem damaligen Genrerepertoire entsprechende Ausbildung an. Dazu gehörten das akrobatische wie das tänzerische und mimische Fach. Im Rahmen des Zirkus machte sich Godlewski sowohl als Charaktertänzer – er hatte in St. Petersburg bei dem berühmten Alfréd Békefi studiert – wie als (Trampolin-)„Springer“ und Clown einen Namen. Die im Rahmen eines Zirkusprogramms gegebenen Ballette schulten Godlewski wohl für seine spätere choreografische Tätigkeit.
Godlewski trat in seinen in Russland verbrachten Jahren aber auch im Verband mit dortigen großen Ballettensembles auf. Zeugnis davon ist seine Teilnahme im Huldigungsballett „Tag und Nacht“, das Marius Petipa aus Anlass der Krönung Alexanders III. am 18. März 1883 im Moskauer Bolschoi-Theater herausbrachte. Zur Musik des Wieners Ludwig Minkus tanzten Größen wie Jekaterina Wasem, Jewgenija Sokolowa, Marija Petipa, Lew Iwanow und Pawel Gerdt; der Auftritt Godlewskis erfolgte im zweiten Teil, „Die Völker Russlands“.
Angeblich vom Hofoperndirektor Wilhelm Jahn im Zirkus Renz in Berlin entdeckt und engagiert, wurde Godlewski, der auch im Wiener Renz-Gebäude aufgetreten war, zum umjubelten Mimiker. In diesem Rollenfach fielen ihm die wichtigsten Partien zu. Zwischen der ersten großen Aufgabe 1893, dem Dämon der Finsternis in „Excelsior“, und seinem letzten Aufritt 1920 als Spielwarenhändler in der „Puppenfee“, interpretierte er unter anderem Coppélius in „Coppélia“, Orion in „Sylvia“, den Mechaniker in „Rund um Wien“, den Warenhausbesitzer im Johann Strauß’schen „Aschenbrödel“ und Arlechino in der Schnitzler-Pantomime „Der Schleier der Pierrette“. Auch eine Titelpartie konnte er sich als Mimiker zu eigen machen: Hans in Oskar Nedbals „Der faule Hans“.
Daneben war er als Choreograf und Lehrer der Hofoper tätig und wurde schließlich als Nachfolger von Josef Hassreiter zum Ballettmeister der Staatsoper ernannt. Neuem gegenüber aufgeschlossen, wiesen seine Choreografien zu den Reformballetten „Rübezahl“ und „Der Schneemann“ (Musik: Erich Wolfgang Korngold) neue Wege.
Godlewski war mit der Wiener Hofoperntänzerin Ludmilla Klaß verheiratet, beider Kinder Camilla, Willy und Grete führten tänzerisch die Familientradition fort.
1955: 22., Donaustadt (Essling)
Junkgasse
Benannt nach Victor Junk, 18.4.1875 Wien – 5.4.1948 Frohnleiten, Germanist, Literaturhistoriker, Musikhistoriker, Komponist, Herausgeber, Musikwissenschaftler, Tanzwissenschaftler. Studium an der Universität Wien, trat 1900 in die Akademie der Wissenschaften ein, fungierte als deren Aktuar, wurde 1906 Privatdozent, 1926 ao. Professor an der Universität Wien.
Leben und Wirken von Victor Junk sind von Besonderheiten gekennzeichnet. Vergleichsweise konventionell ist dabei noch seine an sich schon herausragende wissenschaftliche Tätigkeit. Außergewöhnlich im Hinblick auf Literatur und Musik ist aber, dass es nicht bei der theoretischen Auseinandersetzung mit diesen Disziplinen blieb, sondern er auch ein renommierter Praktiker war, der zum Beispiel – höchst bemerkenswert – lange Jahre musikalischer Begleiter von Karl Kraus’ Lesungen war. Noch viel bemerkenswerter aber ist, dass er die tänzerische Begabung seiner Kinder entschieden förderte.
Dass auch hier Exzellenz angestrebt wurde, ist an den Tanzauftritten der früh verstorbenen Tochter Hilde, mehr noch an der Karriere seines Sohnes Walther abzulesen, er wuchs zum international tätigen Solisten und Ballettmeister heran. Sohn und Tochter waren auch Mitglieder des Ensembles von Gertrude Barrison, dessen musikalischer Leiter Junk war. Die gebürtige Dänin Barrison hatte ab 1906 mitgeholfen, die Wiener Tanzmoderne zu formieren. Zu den Balletten, die Junk in das Repertoire des Ensembles aufnahm, gehörte auch Mozarts 1872 in Paris wiederentdecktes „Les Petits riens“ aus dem Jahr 1778. Die Aufführung – die erste in Wien für ein professionelles Ensemble entstandene – fand am 16. Februar 1921 im Großen Konzerthaussaal statt; in der Besetzung scheint neben Barrison und Hilde Junk Victor Junks jüngere Tochter Elisabeth als Cupido auf. (Davor war in Wien nur eine von Julius Singer für Kinder gestellte Aufführung 1910 in der Urania zu sehen; ein Gastspiel im Bürgertheater im Februar 1911 von Loïe Fullers Fassung des Balletts für ihr Schülerinnen-Ensemble musste aufgrund theaterpolizeilicher Bestimmungen abgesagt werden, im März-Programm des Apollo-Theaters zeigte die Gruppe nur einen Ausschnitt.)
Neben seiner praktischen Arbeit machte sich Junk aber auch die wichtigsten Fragen des Tanzes zu Eigen. Ergebnis dieser Arbeit war das 1930 in Stuttgart erschienene „Handbuch des Tanzes“, in dem es ihm ein besonderes Anliegen war, lexikonartig die „gesamte Kenntnis vom Tanz übersichtlich zu erfassen“. (Als Reprint erschien das Buch 1977 im Olms Verlag, Hildesheim/New York.)
Zum Versuch, den „Tanz im weitesten Sinne zu begreifen“, gehörte für Junk auch die bis heute unbeantwortet gebliebene Frage: „Gibt es eine Tanzwissenschaft?“ Junk setzte sich damit in einer 1948 abgeschlossenen Schrift auseinander, die posthum erst 1990 bei Olms erschien. Seine „Grundlegung der Tanzwissenschaft“ beginnt mit der Eingliederung des Tanzes in das System der Künste. Zunächst geht es um die Philosophie und Ästhetik des Tanzes. Darauf folgen die Kapitel: Tanz und Musikwissenschaft, Literatur und Tanzwissenschaft, Bildende Kunst und Tanz, Völkerkunde und Tanzwissenschaft (Ethnologie), Tanzforschung und vergleichende Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft und Tanzforschung (Linguistik), Tanz und Mythologie, Urgeschichte des Tanzes, Sittengeschichte des Tanzes, Tanzforschung und Soziologie, Tanz und Medizin. Zum Schluss: Eine Aufstellung der Probleme der Tanzwissenschaft, diese beinhaltet eine Phänomenologie und eine Formenlehre. Im letzten Kapitel befasst er sich mit der Problematik der Anwendbarkeit von Tanzschriften. Junks umfassender Entwurf einer Tanzwissenschaft ist bis heute Herausforderung geblieben!
1959: 10., Favoriten (Inzersdorf-Stadt, Siedlung „Wienerfeld West“)
Ceralegasse
Benannt nach Luigia Cerale (verh. Wolff), 4.(19.?)10.1859 Verolengo bei Turin – 26. 12. 1937 Wien, Tänzerin und Lehrerin. Nach einer Ausbildung in der Stilistik der italienischen Schule und ersten Engagements in Barcelona und Triest debütierte sie im Sommer 1879 – angekündigt als „Gast vom kgl. Theater della Scala in Mailand“ – an der Wiener Hofoper. Ihr erstes Auftreten als Primaballerina des Hauses fand in Anwesenheit von Kaiser Franz Joseph statt. Léo Delibes rühmte sie als „Künstlerin mit Stahlfußspitzen“.
Cerales Wirken als Primaballerina der Wiener Hofoper ist aufs Engste mit jenen künstlerischen Veränderungen verbunden, die die Übersiedelung der Institution Oper vom alten Kärntnertortheater in das 1869 eröffnete Haus am Ring mit sich brachten. Neue ästhetische, vor allem nationale Ausrichtungen sowie größere Bühnendimensionen hatten Auswirkungen auf Dramaturgie, Struktur und Form eines Balletts. Das groß angelegte abendfüllende Ballett beherrschte nun die Bühne, wobei seine Teilelemente, in sich geweitet, immer größeren Raum einnahmen. Dazu gehörte der von Cerale und ihrem ständigen Partner Josef Hassreiter besonders gepflegte Pas de deux, der sich in den kommenden Jahren nicht nur zu einem Werkhöhepunkt an sich entwickelte, sondern auch derart zu einer stilistischen Eigenart wurde, dass Wiener Pas-de-deux-Fotos sogar in russischen Publikationen vertreten sind. (Ein Echo davon findet sich in Balanchine-Balletten, etwa in der Schlusspose des 2. Satzes von „Symphonie in C“.)
Dank des besonderen Talents Cerales, das sich sowohl im mimischen wie im klassischen Fach ausdrückte – ihre Spitzentechnik fand sogar „allerhöchsten“ Beifall –, war Cerales Repertoire nicht nur sehr groß, sondern spiegelt auch die Zeit des ästhetischen Übergangs wider. So tanzte sie die Ballerinenrollen in den heute als „Klassiker“ angesehenen Werken „Giselle“, „Esmeralda“, „Coppélia“, „Sylvia“, „Naïla, die Quellenfee“, „Excelsior“ und „Das schlecht gehütete Mädchen“ („La Fille mal gardée“) sowie in Paul Taglionis großen Balletten „Satanella“, „Flick und Flock“, „Fantasca“ und „Ellinor“. Dazu kamen Kreationen in Balletten von Pasquale Borri, Louis Frappart, Carl Telle und Josef Hassreiter. Von Letzterem sei das 1892 zu Musik von Jules Massenet uraufgeführte „Glockenspiel“ („Le Carillon“) hervorgehoben, in dem Cerale die Rolle der Bertha kreierte. Zudem wusste die Primaballerina zusätzliche Publikumskreise anzusprechen. Mit den beliebten Partien der Helene (in Meyerbeers „Robert der Teufel“) und der Fenella (in Aubers „Die Stumme von Portici“) war dies das Opernpublikum. Des Weiteren zog sie große Schülerschaften an den verschiedenen Standorten ihrer Gesellschaftstanzschulen an. Diese Schulgründungen standen mit der Stellung ihres Mannes als Militär und dessen Wechsel von Garnison zu Garnison in Zusammenhang. Die hohe Position, die er schließlich bei Hof innehatte – Oberst Carl Wolff war Kommandant der k. u. k. Leibgarde-Infanterie-Kompanie (er folgte im November 1918 Kaiser Karl von Schönbrunn nach Eckartsau) –, erhöhte ihre Nähe zum Kaiserhaus, die ihr kraft ihres Status im Hofopernballett an sich zuteil wurde. Die Adresse ihres 1896 eröffneten Wiener „Tanzinstituts“ widerspiegelt die eigene hohe gesellschaftliche Stellung: Kärntner Ring 10!
Die letzte Vorstellung Cerales in der Eigenschaft als Primaballerina der Hofoper (1892) bedeutete keineswegs das Karriereende, im Gegenteil: Es folgten Gastspiele in Berlin, London, St. Petersburg und Chicago, wo sie während der Weltausstellung – angekündigt als „Première Danseuse Assoluta from the Imperial Opera House, Vienna“ – in Imre Kiralfys Grand Historical Spectacle „America“ auftrat.
1966: 19., Döbling (Sievering)
Labanweg
Benannt nach Rudolf von Laban, 15.12.1879 Pressburg/Pozsony/Bratislava – 1.7.1958 Weybridge (bei London). Tänzer, Choreograf, Pädagoge, Tanztheoretiker, Schriftsteller, Schöpfer einer Bewegungsschrift. Erste Schulgründung 1911 in München, 1913/14 Sommerschulen in der Künstlerkolonie Monte Verità. In Deutschland ab 1919: Tanzbühne Laban, Bewegungschöre, Kammertanzbühne, Zentralschule, Choreographisches Institut, Ballettdirektor Staatsoper Berlin, Leitung Deutsche Tanzbühne. 1937 Flucht nach Paris und weiter nach England, dort bis zu seinem Tod wissenschaftliche und pädagogische Arbeit. In Österreich: 1880er-Jahre Schulbesuch in Wien, 1898–99 Zögling an der Militärakademie in Wiener Neustadt, 1928 Veröffentlichung der Kinetographie Laban (Labanotation) durch die Universal Edition und 1929 „Festzug der Gewerbe“ in Wien.
In der „Hochzeit“ von Rudolf von Labans Wirken in Mitteleuropa – in den Zwanziger- und Dreißigerjahren – prägte Mary Wigman, nicht ohne den ironischen Unterton der wertschätzenden Kontrahentin, in Bezug auf ihren einstigen Weggenossen den Begriff „Der Vielfähige“. Diese Vielfähigkeit war dem Utopisten und (Tanz-)Neuerer von Anfang an gegeben, sie äußerte sich zunächst darin, dass er in Budapest aufgrund seiner Umtriebigkeit vom Gymnasium verwiesen wurde. Nach Pressburg übersiedelt, machte er sich dort mit dem Theateralltag vertraut. Der Familientradition folgend (der Vater war Feldmarschallleutnant), besuchte er die k. u. k. Theresianische Militärakademie in Wiener Neustadt, wo der Einstieg in sein theatralisch gestalterisches Wirken begann. Dabei kam Laban sicherlich der Unterricht des Gesellschaftstanzes zugute, der Studierenden an höheren Militärschulen erteilt wurde. Herausragender diesbezüglicher Lehrer war Eduard Rabensteiner, dessen Vater, ein Mimiker des Wiener Hofopernballetts, schon Tanzschulbesitzer war. Als einer der bekanntesten Wiener Tanzarrangeure – vor allem durch sein Wirken bei Bällen, die Johann Strauß Sohn dirigierte – unterrichte Rabensteiner auch an der Technischen Militärakademie in Wien und an der Militärakademie in Wiener Neustadt.
Für das später als „chorisches Werk“ bezeichnete Wiener Neustädter „Fest der Fähnriche“ – eine Auftragsarbeit für die Abschlussfeier eines technischen Lehrganges der Militärakademie – bündelte Laban 1899 all das bis dahin Angeeignete. Dabei ging es ihm um Aspekte, die zeit seines Lebens wichtig blieben: um den Männertanz an sich, um das Gemeinschaftserlebnis, um den Umgang mit Laien. Bei der Arbeit mit den Fähnrichen konnte der junge Laban allerdings mit gewissen „Kenntnissen und Geschicklichkeiten“ rechnen. Neben dem Tanzen waren dies das Fechten und Turnen. Ein anderes Körperwissen brachten die Studierenden aus den Kronländern mit sich: die Volkstänze.
Die Anlage des Opus 1 des 20-jährigen Laban war bereits „groß“. Dies betraf die Anzahl der Fähnriche (100 Mitwirkende), den Auftrittsort sowie die weltanschauliche Verankerung des chorischen Werks. Ergriffen von einer „Magie des Tanzes“, die sich in verschiedenen – auch religiös begründeten – Bewusstseinszuständen äußern kann (etwa in Schwerter- und Derwisch-Tänzen), ist es Labans Absicht, auch rituelle Aspekte von Tanz zu zeigen, die eine „Hieb- und Stichfestigkeit“, also eine Unverwundbarkeit, der Ausführenden bewirken. Ein positives Weltengefüge im Blick, findet hier die Gemeinschaft der Wehrhaften des österreich-ungarischen Reichs zu einem festlichen Sein zusammen. Laban platziert die Bewegungsabläufe und Tänze in einem besonderen Raum: in der Maschinenhalle einer Lokomotivfabrik. Der Mensch wird vis-à-vis der Maschine gestellt, die Lokomotive, ein überdimensionaler Koloss, als Widersacher und Gegenpol zur menschlichen Seele gesehen.
Hauptaugenmerk des Festes lag auf jenen Tänzen, die die Völker der Monarchie repräsentieren: auf Walzer, Csárdás, Kolo, Mazurka, Polka, Ländler, Schuhplattler, Tarantella, Dolchtänzen (der Ruthenen), Bauerntänzen (aus Siebenbürgen) sowie dem Tanz der Derwische (den der junge Laban in der Herzegowina kennengelernt hatte). Beglückt über den Erfolg des Festes, sieht Laban es als seine „erste tänzerische Regie größeren Stils“. Mit dieser Erkenntnis brach er sein Studium an der Militärakademie ab und wandte sich neuen Aufgaben zu.
1966: 19., Döbling (Sievering)
Raimund-Zoder-Gasse und seit den 1980er Jahren Raimund-Zoder-Park
Benannt nach Raimund Zoder, 20.8.1882 Wien – 26.3.1963 ebd., Volkskundeforscher, Volkslied- und Volkstanzforscher, Volksbildner, Autor. Der Begründer der österreichischen Volkstanzforschung ging als Lehrer und Volksschuldirektor frühzeitig in Pension, um sich ganz der Forschung widmen zu können. War 1937/38 und 1945–53 Lehrer für Volksmusik, Volkstanz und Brauchtum an der Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien. Übte leitende Funktion im österreichischen Volksliedunternehmen aus, war Schriftleiter der Zeitschrift „Das deutsche Volkslied“ (nach 1945 „Volkslied, Volkstanz, Volksmusik“) und des „Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes“.
Raimund Zoder, der noch in der Monarchie mit seiner Pionierarbeit begonnen hatte, gilt als der Nestor der österreichischen Volkstanzsammlung, -forschung und -pflege. Von der Doyenne der amerikanischen Tanzethnologie Gertrude Prokosch Kurath 1960 in „Panorama of Dance Ethnology“ als „grand old man“ gewürdigt, war Zoder eine der treibenden Kräfte jener um 1900 stattgefundenen Neuordnung und Werteverschiebung, die gesellschaftliche, künstlerische und wissenschaftliche Bereiche und Disziplinen betrafen. Gewinner davon waren Personen und Bereiche, die bis dahin von der Gesellschaft in Ecken gedrängt oder nicht wahrgenommen worden waren. Dazu zählt das „Volk“ an sich, sein Umraum und sein Tanz, der als wichtiger Teil des von Städtern neu entdeckten „Landlebens“ gesehen wurde. Zoder, der kurz nach 1900 mit diesbezüglicher Feldforschung und Sammeltätigkeit begonnen hatte, setzte bereits 1911 jene Punkte fest, die eine „Aufzeichnung eines Volkstanzes möglichst vollständig“ machen sollten: Zunächst wird der Name des Tanzes festgehalten und erklärt, darauf die Gelegenheit für die Ausführung sowie die Position genannt, die er innerhalb einer Tanzunterhaltung innehat. Mitteilungen über die Musik folgen, danach eine Altersbestimmung. Hierauf wird auf den Tanz eingegangen. Stellung des Tänzers und der Tänzerin werden angegeben, sodann Tanzplatz und Richtung des Tanzes. Dazu kommen Mitteilungen über Musik, Text und Tanzausführung. In der Musiknotation soll, wenn möglich, die Tempobezeichnung festgehalten werden, schließlich Ort und Datum der Aufzeichnung sowie der, wie es heißt, „Gewährsmann und Aufzeichner“. (Stellvertretend für alle Gewährsfrauen sei hier Wetti Schrottmüller aus Prolling bei Ybbsitz genannt, die 1910 Zoder half, den „påschad’ Flugs-ummi“ aufzuzeichnen.) Interessant in dem Zusammenhang, dass Zoder zum Aufzeichnen von „Bewegungen und Stellungen“ das von August Hermann in „Reigen für das Schulturnen“ (Berlin 1887) verwendete Vokabular heranzog.
Zoders Sammler- und Publikationstätigkeit trugen ihm rasch führende Positionen in der immer größer werdenden Szene ein, die nicht zuletzt durch seine 1921 einsetzende Schulungsarbeit mit den „Wandervögeln“ (sie bestritten 1922 den ersten Wiener Volkstanzabend im Großen Uraniasaal), Volkstanzkurse, den Urania-Tanzkreis, später auch durch Radiosendungen stetig wuchs. Seine Veröffentlichungen „Altösterreichische Volkstänze“ und „Österreichische Volkstänze“ sind bis heute Grundliteratur des Genres geblieben; unter dem Titel „Volkslied, Volkstanz und Volksbrauch“ publizierte er 1950 „Lehrtexte“. Zoders bedeutende Sammlung ist heute Teil des Archivs des Österreichischen Volksliedwerks. Seit 1966 wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft Österreichischer Volkstanz als höchste Ehrung die „Raimund-Zoder-Medaille“ verliehen.
Fortsetzung folgt