Letzte Destination der viel reisenden Ingrid Giel war einmal mehr Zürich, genauer der von der Schweizer Chladek-Adeptin Annalies Preisig gestaltete und von drei Generationen ausgeführte Tanzgottesdienst „Anfang und Ende“. Gerade das dabei von Tanz, Ton und Wort gemeinsam getragene Alters- und Zeitübergreifende mochte die „Rhythmikerin“ Ingrid Giel besonders angesprochen haben, waren dies doch Aspekte, die im Mittelpunkt ihres eigenen Wirkens standen. Acht Tage später, am 11. September 2023, starb Ingrid Giel 85-jährig in Wien. Mehr als 50 Jahre war sie als „Künderin“ einer Idee und deren Protagonistin – Rosalia Chladek (1905–1995) – tätig gewesen.
Ingrid Giel wirkte vor allem als Lehrerin, diese Tätigkeit umfasst einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert. Dies reflektierend, ist es eine Herausforderung, nicht nur Giels eigenen Zielen ihres Unterrichts nachzugehen, das heißt also etwaige Weiterentwicklungen, Erweiterungen ihres Lehrangebots oder gar Fokusveränderungen festzuhalten, sondern auch den geografischen ebenso wie den soziokulturellen Umraum zu beleuchten. Man erkennt bald, dass Giels Bestrebungen ihres Unterrichts (auch) Gratwanderungen waren zwischen dem Festhalten an einer ganz bestimmten Idee und den zeitlich bedingten Auswirkungen darauf. Bei dem Fixpunkt handelt es sich um Émile Jaques-Dalcroze und seine Utopie, Musik durch körperliche Bewegung erfahrbar und realisierbar zu machen, bei den Auswirkungen sind jene Einschätzungen und Blickwinkel gemeint, mit denen die einzelnen Jahrzehnte auf Jaques-Dalcroze schauten. Dass diese in der fraglichen Zeit extremen Schwankungen unterworfen waren, soll im Folgenden demonstriert werden.
Diverses Fächerangebot
Ingrid Giel ist bekanntlich (am 2. Februar 1938) in Berlin geboren. Als sie mit ihrer Ausbildung begann, wirkten, tanzspezifisch gesehen, in dieser zertrümmerten Stadt der Fünfzigerjahre drei teilweise gegeneinander arbeitende Kräfte. Giel wurde Teil zumindest zweier dieser Kräfte. Die erste war die von den Besatzungsmächten bestimmte, in den Opernhäusern ausgeübte Ballettpflege; in der Ostzone erwuchs daraus eine eigene Kultur. Die zweite Kraft, weniger sichtbar, war gleichsam in die „Hinterzimmer“ der Stadt gedrängt. Es war jene der Tanzmoderne, die die Nazizeit überstanden hatte und der es nun kaum gelang, mit neuen Taten und Werken an die blühende Zeit vor 1933 anzuschließen. Die dritte Ebene fand sich in größeren und kleinen Ausbildungsstätten, der Musikhochschule, dem Konservatorium und verschiedenen Volksbildungshäusern mit ihrem ungemein breiten Lehrangebot.
Giel beginnt 1958 ihr Musikstudium am Städtischen Konservatorium in Berlin (Hauptfach Klavier, Prof. Hans Reichert); ab 1959 kommt als 2. Hauptfach Rhythmische Erziehung bei Barbara Kroll hinzu. Mit ihr kommt bereits der Name Jaques-Dalcroze ins Spiel, denn Krolls Mutter war seine direkte Schülerin. Fragt man nun nach dem Stellenwert von Jaques-Dalcroze, so war dieser überaus ambivalent. Wurde der Name in diesen Jahren kaum breit diskutiert, so fanden sich seine Lehren wie selbstverständlich und als allgemeines Gut angesehen in den Lehrplänen. Diese waren freilich mittlerweile – und auch in der möglichen Interpretierbarkeit zeigt sich die Größe von Jaques-Dalcroze – in den verschiedensten Richtungen weitergeformt worden (dasselbe galt für Österreich und auch die Schweiz). Die Fächer, in denen sich Giel ausbilden ließ, waren: Rhythmik, Chordirigieren, Musiktheorie, Gehörbildung, Gesang, Flöte, Klavier, Klavierimprovisation, Vom-Blatt-Spiel, Musikgeschichte und Pädagogik.
Zu Beginn der Sechzigerjahre, also in einer bereits anders ausgerichteten Zeit, schließt Giel ihre Studien – vorerst – ab: 1963 mit der staatlichen Musiklehrerprüfung für Rhythmische Erziehung, 1964 folgt die staatliche Musiklehrerprüfung für Klavier. Giel intensiviert die Musik- und Bewegungsstudien. Sie wählt einen Kammermusikschwerpunkt, nimmt Improvisationsunterricht bei Walter Schönberg an der Hochschule für Musik, wo sie auch, einstweilen vertretungsweise, Rhythmik zu unterrichten beginnt. Eine Bezugsperson wird dabei Karl-Heinz Taubert, Leiter des Rhythmikseminars an der Hochschule. Taubert selbst war Schüler von Anna Epping und Marie Adama van Scheltema, beide entscheidende Wegbegleiterinnen von Jaques-Dalcroze. (Dass Adama van Scheltema bei Giels Diplomprüfung als Begutachterin in der ersten Reihe saß, war eine Anekdote, die sie gerne erzählte, zumal sie mit Absicht – um eines Effekts willen – in ihre Choreografie einen „Fehler“ eingebaut hatte und sah, wie erschrocken die Mitstreiterin von Jaques-Dalcroze darauf reagierte.)
Die Sechzigerjahre in Deutschland beginnen aber auch mit dem kritischen Hinterfragen der eigenen Vergangenheit. Die betrifft überraschenderweise weit weniger die Tätigkeit der überlebenden Nationalsozialisten samt ihrem menschenverachtenden Verhalten, sondern das, was Jahrzehnte davor lag. Auf dem Gebiet der Körpererziehung ist es offenbar Jaques-Dalcroze, der am meisten hinterfragt wird. Vielleicht störte es noch immer, dass der Schweizer zu Beginn des Ersten Weltkriegs es „gewagt“ hatte, eine Petition zu unterschreiben, die gegen den Beschuss erhaltenswerter Bauten war und mit dieser Meinung nicht auf seiten Deutschlands stand.
Giel gehört nicht dieser Gruppe an. Sie unterrichtet ab 1962 in Berlin, leitet Klavierklassen an der Schöneberger Musikschule, Kurse für „Rhythmische Erziehung“ für Kinder (6–8-jährige) an der Volkshochschule Schöneberg und einen Singspielkreis in der Volkshochschule Wilmersdorf. Sie gibt sogar Rhythmikunterricht in einer Kindersendung des Deutschen Fernsehens.
Ein besonderes Anliegen ist ihr, selbst intensivere Tanzerfahrung zu machen. Sie tut dies bei Lore Jentsch, die durch Valeria Kratina direkten Hellerau-Bezug hat und die später auch mit Ellen Petz, Mary Wigman und Albrecht Knust in Berührung kommt. Jentsch unterrichtet an einer Volkshochschule in Berlin, Giel tritt mit ihrer Tanzgruppe auf. Auch mit Günter Hess, selbst Schüler von Max Terpis und Rudolf von Laban, zu dieser Zeit Dozent für Bewegungslehre und Regie an der Hochschule für Musik in Berlin, arbeitet Giel.
(Lebens-)Wende
1965 reist Giel zur 100-jährigen Jubiläumsfeier für den Begründer der Rhythmik, Jaques-Dalcroze, nach Genf. Der „Congrès international du rythme et de la rythmique“ ist ein groß angelegter Event, an dem fast 400 Personen aus 20 Ländern teilnehmen, 35 Jaques-Dalcroze-Adeptinnen kommen allein aus den Vereinigten Staaten. Konferenzsprachen sind Französisch, Englisch und Deutsch. Unter den zahlreichen Vorführungen ist auch eine von Rosalia Chladek. Die Pädagogin demonstrierte dort selbst und mit ihren Schülerinnen ihre Arbeitsweise. Inhalt und Eindruck, den dieser Auftritt hinterließ, beschreibt niemand Geringeres als Juana de Laban, eine Tochter von Rudolf von Laban, die eine renommierte Tanzschriftstellerin geworden war. (Der Vater hatte, dies sei in diesem Zusammenhang erwähnt, mit zwei seiner Mitstreiterinnen – Suzanne Perrottet und Wigman – ein halbes Jahrhundert davor den Aufstand gegen Jaques-Dalcroze geprobt, hatte sich aber in den Zwanzigerjahren ihm angenähert.)
De Laban schreibt: „Another stimulating lecture-demonstration of ‚Bodily Rhythm and Musical Rhythm‘ was presented by Professor Rosalia Chladek. Two master students performed using her method, which has as its basis a perfect relaxation and balance of the total body. Only when relaxation and balance are achieved can the body be directed to function well in improvisation. Improvisation should affect the inner human being and only if the rhythmic stimuli penetrates the inner human being is it of value. Overwhelming applause was accorded Professor Chladek.“
Ingrid Giel war nicht nur von der Konzeption der Lehrweise überwältigt, sondern auch von der Aura, die Chladek umgab. Später gelingt es ihr auch, kurze Charakterisierungen der „Bewegungserziehung in der Lehrweise Chladek“ zu finden. Lapidar ausgedrückt geht es darum, die „Wechselbeziehung von Musik und Bewegung zu erleben, den Zusammenhang von Gehörtem und Körper zu empfinden“. Chladeks Arbeit stütze sich auf Jaques-Dalcroze, habe aber den körperlichen Aspekt weiterentwickelt. Ziel sei es, „Unterbewusstes allmählich ins Bewusstsein zu heben“.
Eine Utopie auf dem Prüfstand
Da Chladek in Wien unterrichtet, ist diese Stadt Giels nächstes Ziel. Nun also Wien. Sind vor Giel Hunderte von Künstlern den Weg von Wien nach Berlin gegangen, um dort Karriere zu machen, bricht sie, die bereits umfassend Ausgebildete, nach Wien auf. Für sie hat das einen gewichtigen Grund: „Da die Berliner Ausbildung den Schwerpunkt im Musikalischen hatte, ging ich schließlich nach Wien, um die Ausbildung ‚Tänzerische Bewegungserziehung‘ bei Rosalia Chladek zu absolvieren.“ Von 1967 bis 1969 belegt Giel den Hochschullehrgang „Moderne tänzerische Erziehung und Tanzpädagogik – System Rosalia Chladek“, eine Ausbildung, die von 1962 bis 1977 existierte. Dieser Sonderlehrgang wurde parallel zu der Tanzabteilung der Hochschule geführt, deren Leiterin 1952–70 Chladek war. Dazu ist festzuhalten, dass die neben der Musik die „darstellenden Künste“ pflegende akademische Institution seit Beginn der 1920er-Jahre selbstverständlich auch Tanzunterricht vermittelte (vor Chladek vor allem durch Gertrud Bodenwieser und Grete Wiesenthal, nach Chladek durch Marcel Luipart), dies aber seit dem Ende der Siebzigerjahre nicht mehr als ihre Aufgabe ansieht.
Giel hat nun endlich etwas vor sich, was bis dahin – allerdings nur andeutungsweise und schemenhaft – in ihrer Vorstellung existierte. Ob sie selbst die neue Heimat als so dunkel erlebte, wie sie tatsächlich in diesen Jahren war, ist nicht überliefert. Man kann jedoch davon ausgehen, dass es um sie und ihre Arbeit schon heller war. Doch das Wien der Sechzigerjahre nur als dunkel zu bezeichnen, wäre zu billig, denn es hieße alle jene künstlerischen Äußerungen zu übergehen, die tatsächlich, und auch im Hochschulbereich, gelangen. Dunkel war freilich die Fassade der Zeit; dieser Dunkelheit Herr zu werden, um endlich „modern“ zu sein, suchte man vermehrt durch Abrisse zu begegnen. Vieles von dem, was den Krieg überdauert hatte, was noch aus der Zeit „davor“ stammte, schien dem gewünschten „Fortschritt“ entgegenzustehen. Abrissbirnen sowie zeitgenössische, vor allem griffige Wortwahl brachten schnelle Resultate. Nazivergangenheit interessierte weniger.
Tanzgeschichtlich gesehen, befand man sich in Wien nicht nur in Zwischenbereichen, sondern, mehr noch, in Zwischenwelten: auf der einen Seite das Eigene, in diesem kulturellen Raum Gewachsene, das, von den Nationalsozialisten verdrängt, ohne eine natürliche Möglichkeit der Weiterentwicklung geblieben war. Auf der anderen Seite die klassische Welt der Besatzungsmächte, die nach deren Abzug mehr und mehr zu Eigenem wurde. Dazu kam aber – und dies ist ein wahres Paradoxon – der schon in den Fünfzigerjahren einsetzende Siegeszug des amerikanischen Modern Dance. Mit der glamourösen Martha Graham an der Spitze wurde diese stilistische Variante des Tanzes, die auf denselben Wurzeln beruhte wie die mitteleuropäische Tanzmoderne, als das Nonplusultra des Zeitgenossentums gefeiert. Die Euphorie hatte auch ihre Wirkung auf die Ausbildungsstätten.
Die Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst wurde Giels nächster Wirkungskreis. Sie schreibt: „Nach den ersten 10 Jahren, sozusagen dem Pionierjahrzehnt, ging Prof. Brigitte Müller als Leiterin der Rhythmikausbildung in Pension. Sie hatte vorher schon im deutschsprachigen Raum nach einer Nachfolgerin Ausschau gehalten, ihre Wahl fiel auf mich. Das zweite Jahrzehnt ab 1970 brachte den Wechsel von der Akademie zur Hochschule für Musik und darstellende Kunst und gleichzeitig die Erweiterung der zweijährigen zur dreijährigen und in Folge der dreijährigen zur vierjährigen Rhythmikausbildung.“
Giel leitete als Nachfolgerin von Müller zwölf Jahre das Rhythmikseminar (1970–82), eine Ausbildung, die 1959 gegründet worden war. (Müller selbst hatte in Hellerau und Hellerau-Laxenburg studiert und war nach dem Tod der Jaques-Dalcroze-Schülerin Christine Baer-Frissell Leiterin der Rhythmikausbildung in Hellerau-Laxenburg gewesen. Danach lehrte sie in Wien an der Akademie und am Konservatorium.) Als Leiterin des Seminars unterrichtete Giel Rhythmik, Körperbildung, Klavierimprovisation und Methodik für den Erwachsenenunterricht. So wie Giel gehörten ihre Mitstreiterinnen nun schon einer neuen Generation an: Eleonore Witoszynskyj unterrichtete Angewandte Rhythmik, Methodik für den Kinderunterricht und Instrumentenbau; Margit Schneider Rhythmik in der Sonderpädagogik und Schlagwerk; Maud Paulissen-Kaspar Körperbildung. Giel darüber: „Durch die zeitliche Erweiterung konnten neue Inhalte gewonnen werden, und unser Bestreben war es, die drei Schwerpunkte, Musik, Bewegung und Pädagogik, gleichgewichtig ausbauen und vermitteln zu können.“
Es gibt Verantwortliche an der Hochschule, die das anders sehen, Giel verliert ihre leitende Funktion. Was ist es, was nicht mehr gefällt? Ingrid Giel in persona? Die von ihr vertretenen Fächer? Die jahrzehntelange Erfahrung in der Vermittlung dieser Fächer? Oder genügen diese nicht mehr den – wissenschaftlichen – Anforderungen der nunmehrigen Hochschule? Was für eine Rolle spielen dabei die Studenten? Nach welchen Kriterien urteilen sie? Welche Kompetenzen haben sie? Sind es nach langem Reflektieren gefundene Überlegungen oder ganz einfach Tageslaunen, die sie handeln lassen? Wird Ingrid Giel von den Lernenden hinausgemobbt? Ist sie vielleicht für die Leitung nicht jung genug (sie war damals Anfang vierzig)? Oder kann sie ihren Posten nicht befriedigend erfüllen, weil sie eine Frau ist? Bekommt sie Unterstützung von zuständigen Fachbereichen? Liegen die Ursachen für ihre Absetzung vielleicht ganz woanders? Vielleicht in der von manchen als „graue Eminenz“ empfundenen Rosalia Chladek? Oder ist es das beharrliche Miteinbeziehen von Jaques-Dalcroze? Das nicht angestrebte Zeitgenossentum? Unter einer neu eingesetzten Leitung, die die Kontinuität der „Wiener Schule“ der Rhythmikausbildung – von Baer-Frissell über Müller zu Giel – beendet, betraut man Giel 1982/83 nur mehr mit einem Lehrauftrag.
„Rekonstruktion der (damaligen) Zukunft“
Zurückzuschauen, das Geschehene ausgiebig zu hinterfragen, entspricht nicht dem Naturell von Ingrid Giel. Im Gegenteil. Sie bricht in einen neuen Kontinent auf, um dort Neues zu erlernen. 1984 beginnt sie eine zweijährige Master-Ausbildung zur Ausdruckstherapeutin in Boston; anschließend arbeitet sie in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einem Heim für emotional gestörte Kinder in San Francisco. Doch die Stadt Wien, ihre Exponentinnen und Mitstreiterinnen in Sachen „Rhythmik“, bleibt das Ziel. Dorthin zurückgekehrt – seit 1983 war sie österreichische Staatsbürgerin –, beginnt sie ihre zwölf Jahre andauernde Unterrichtstätigkeit in der Abteilung „Pädagogik für Modernen Tanz“ (1987–99) am Konservatorium. Sie lehrt Rhythmik und tänzerische Bewegungserziehung.
Und Giel wird schnell das völlig veränderte künstlerische Klima der Stadt bewusst, das sich nun im wahrsten Sinne des Wortes als „hell“ bezeichnen lässt. Auch bedingt durch eine Verschiebung der geografischen Lage – vom „Ende“ der westlichen Welt ins Zentrum Mitteleuropas gerückt – wird Wien sukzessive zu einem Ort von Wegkreuzungen. Dabei treten die „historische Tanzmoderne“ – jene um 1900 und ihre mitteleuropäischen Folgen – sowie die damit verbundene Pädagogik verstärkt ins Blickfeld. Und je mehr man sich damit auseinandersetzt, desto mehr tritt auch der Umraum in den Fokus, und man hält fest, dass Antrieb und Motivation – körperliche Wahrnehmung und Bewusstseinsbildung – dem Heutigen ähneln. Und schließlich kommt man auch allerorten zu der – im Grunde höchst banalen – Erkenntnis: Mögen sich auch die Zeiten entschieden geändert haben, die Gegebenheiten des Auszubildenden, des Menschen in seiner „Totalität“, sind heute ebenso beschaffen wie vor 100 Jahren.
Als äußeres Zeichen für Veränderung mag die Tatsache angesehen werden, dass Giel von 1989 an mehr als ein Jahrzehnt Rhythmik an der Ballettschule der Österreichischen Bundestheater bzw. Ballettschule der Wiener Staatsoper unterrichtet. Die schon seit 1972 regelmäßige Gastkurstätigkeit in acht verschiedenen europäischen Ländern hat den Blick für ihre „Klientel“ geschärft. Giel wird auch Dozentin bei „ImPulsTanz“, sie nennt den von ihr angebotenen Kurs: „Chladek System – Don’t fear the turns“).
Ihre unterschiedliche „Klientel“ im Sinn, hat auch Giel, wie so viele andere mit Jaques-Dalcroze und auch Chladek auf ihren Fahnen, sich nicht mit der „Rekonstruktion damaliger Zukunft“ begnügt. Von dem unterschiedlichen musikalischen Background der jeweiligen Schüler ausgehend, findet Giel zur Stimme als überbrückendes Mittel und nennt das Fach „Stimmliche Bewegungs-Begleitung“. Sie schreibt darüber: „Hier bietet der Einsatz der Stimme durch den Lehrer wie durch den Schüler selbst das Mittel, den Zusammenhang von Musik und Bewegung erfahrbar zu machen; den Weg vom Hörbaren über die emotionale und muskuläre Reaktion zum Bewegungsausdruck, also Sichtbarem, oder umgekehrt über die Bewegung zur stimmlichen Äußerung.“
Mit Rosalia Chladek und der 1972 gegründeten IGRC (Internationale Gesellschaft Rosalia Chladek) bleibt Ingrid Giel bis zu ihrem Lebensende verbunden. Überaus aktiv ist sie daran beteiligt, das „Netzwerk Chladek“ weiter auszubauen. Schon 1969 war sie beim 1. Internationalen Rhythmik-Seminar in Remscheid unter Chladeks Leitung Ausführende bei einer Demonstration des Chladek-Systems. Diese Vorführung wurde zum Auslöser für weitere Aktivitäten, die schließlich zur Gründung der Gesellschaft führten. Von Beginn an ist sie als Dozentin tätig, 1995–2009 ist sie Leiterin der Berufsbegleitenden Ausbildung im Chladek®-System, nach Chladeks Tod übernimmt Giel 1996 die Präsidentschaft der Gesellschaft. Von 2016 an war sie Ehrenpräsidentin.
Auch im künstlerischen Bereich arbeitet Giel mit Chladek zusammen. In Chladeks letzter Arbeit, „Curriculum Aeternum“, die 1968 für die Feier „150 Jahre Akademie für Musik und darstellende Kunst in Wien 1817–1967“ im Wiener Akademietheater über die Bühne geht, stellt Giel die Musik zusammen. Sie verarbeitet dabei elektronisches Material aus dem elektro-akustischen Studio der Akademie. Die Ausführenden sind die Studierenden der Tanzabteilung der Akademie. Und nach Chladeks Tod studiert Giel eine Wiederaufführung von „Peter und der Wolf“ (1949) ein, dargeboten vom 4. Jahrgang der Tanzpädagogenausbildung des Konservatoriums der Stadt Wien. Zudem fungiert sie auch als Beraterin bei choreografischen Rekonstruktionen, die nach dem Tod von Chladek erfolgt sind.
Dazu kommt auch eine schriftstellerische Tätigkeit. In dem 2000 erschienenen Buch „Rosalia Chladek. Klassikerin des bewegten Ausdrucks“ von Gunhild Oberzaucher-Schüller schreibt Giel über „Das System und die Lehrweise von Rosalia Chladek“. Und 2005 bringt die IGRC eine unter Giels redaktioneller Leitung zusammengestellte „Hommage à Rosalia Chladek zum 100. Geburtstag 1905–2005“ heraus. Beide Publikationen liegen auch in englischer Sprache vor. Und auch die IGRC-Mitteilungsblätter wurden über viele Jahre redaktionell von ihr betreut.
Letztendlich zu behaupten, Ingrid Giel sei unter den Herausragenden gewesen, die instrumental dafür waren, „Chladek in die Welt“ zu tragen, wäre nur insofern unpassend, als ihr die gewählte Formulierung zu pathetisch gewesen wäre. Zudem muss ergänzt werden, dass Giel zeit ihres Lebens noch anderes tat. Doch was immer sie auch unterrichtet, schreibt oder unternimmt, sie tat dies vor dem Hintergrund der Projektionsfläche Chladek. Dies war zum Beispiel 2000 der Fall, als sie beim „Internationalen Symposium Dalcroze 2000. Rückschau – Umschau – Vorschau“ in Dresden und Hellerau einen Vortrag zu Jaques-Dalcroze, Hellerau und Rosalia Chladek hält.
Giel führt aus: „Das, was wir heute als das Chladek-System bezeichnen, wurde von Chladek in den 30er Jahren entwickelt. Ausgehend von den anatomischen Gegebenheiten des Körpers und physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Bewegung hat Chladek Grundprinzipien entdeckt, die jeder harmonisch ökonomischen Bewegung zugrundeliegen. Sie bilden die Basis ihrer systematisierten Tanztechnik. Kurz gesagt handelt es sich um die Eigenenergie im Gegensatz zur Schwerkraft, um das Körperverhalten und um die Gewichtsverlagerung. Aber alle diese Prinzipien in großer Variabilität. Der Unterricht verläuft über verbale Aufgabenstellung. Ausgangspunkt ist jeweils die Körperwahrnehmung; in der Grundstufe zunächst ohne instrumental musikalische Begleitung; die vokale Begleitung erweist sich hier als die differenzierteste Möglichkeit.“
Es entspricht ihrem Charakter, dass sie bei der Evaluierung von Chladek einer anderen den Vortritt lässt: „An dieser Stelle möchte ich“, so Ingrid Giel, „eine holländische Rhythmikerin zitieren. Helen Roosenschoon richtete anlässlich einer Festlichkeit folgende Worte an Rosalia Chladek: ‚In Ihrer Lehrweise sind die Wege gezeigt, um die Gedanken von Jaques-Dalcroze hinsichtlich einer musischen Erziehung und insbesondere einer musikalisch-rhythmischen Erziehung zu verwirklichen. Ihre Lehrmeinung ist meiner Meinung nach die Vervollkommnung der Arbeit von Jaques-Dalcroze, und nicht, weil eine Körperbildung und eine Bewegungslehre hinzugefügt wurden, sondern weil hier eine Grundlage geschaffen wurde, die bei Jaques-Dalcroze noch fehlte.‘“