Liebe Choreografinnen und Choreografen, folgen Sie doch bitte dem nachstehenden Aufruf! Verlassen Sie einmal ihre bereits erfolgreiche, (allseits) bekannte Komfortzone. Vergessen Sie Aktualität, sie ist morgen ohnedies von gestern! Wenden Sie sich doch einmal anderen Zeiten und konkreten Orten zu! Lassen Sie sich doch – wie man dies gerade im tschechischen Liberec tut – auf märchenhaften Zauber ein, dazu auf „altes“ Handwerk mit seinen Kompositionsstrategien und Bewegungsmaterialien. Versuchen Sie, das Allgemeingültige im Tradierten zu sehen. Die Ballette des tschechischen Komponisten Oskar Nedbal – etwa „Prinzessin Hyazinthe“ – eignen sich hervorragend dafür!
Das Ausmaß, mit dem die Tschechen schon zu Zeiten der Doppelmonarchie, aber auch danach, gegen Österreich ankämpften, ließe heute einen größeren Einsatz für jene Künstler erwarten, die damals die tschechische Sache vertraten. Worin läge sonst der Sinn, dass offizielle und nichtoffizielle Nedbal-Biografien heute noch Wert auf die Feststellung legen, der Komponist entstamme einer „tschechischsprachigen Familie“. Dass man sich in der laufenden Spielzeit in den Theatern in tschechischen, aber auch in slowakischen Landen nicht intensiver dem Werk des Jubilars Nedbal zuwendet – die Wiederkehr des 150. Geburtstags des 1874 in Tábor geborenen und 1930 in Zagreb gestorbenen Künstlers steht bevor –, ist also mehr als erstaunlich. Umso wertvoller sind diesbezüglich die Anstrengungen der einzigen Stadt, die derzeit eines der fünf Ballette des Komponisten im Spielplan hat. Dass es sich bei dieser Stadt um Liberec – das ehemalige Reichenberg – handelt, eine Stadt, die insbesondere in der Wiener Theatergeschichte magischen Klang hat, ist umso erfreulicher! Noch erfreulicher aber ist es, dass diese Aufführung als wirklich geglückt einzuschätzen ist, unter anderem auch deswegen, weil die Beschäftigung sowohl mit der historischen wie auch der jetzigen Aufführung bislang weniger bekannte und immer weiter sich öffnende Räume erkennen lässt, die noch dazu mit Wiens Tanzgeschichte eng verknüpft sind.
Nedbal als Ballettkomponist
Nedbals Biografie braucht hier nicht vorgestellt zu werden, er ist eine allgemein bekannte Größe. Bekannt ist die weit über die Grenzen seines Landes hinaus wirkende Arbeit mit „seinem“ Böhmischen Streichquartett, in dem er Bratsche spielte, bekannt das Wirken als Dirigent der Böhmischen Philharmonie, bekannt auch, dass er, ab 1906 in Wien ansässig, bis 1919 als Chefdirigent des 1907 von ihm gegründeten Wiener Tonkünstlerorchesters fungierte und zwei seiner fünf Ballette und sechs seiner insgesamt sieben Operetten hier zur Uraufführung kamen. Schon aus diesen Fakten geht hervor, dass Nedbal, der am Prager Konservatorium bei Antonín Dvořák Komposition studiert hatte, bis zum Ende der Monarchie in zunehmendem Maße in Wien tätig war. Sein künstlerisches Streben weist – vehement unterstützt von seinem Librettisten Ladislav Novák (1872–1946) – zwar darauf hin, einer tschechisch orientierten Moderne anzugehören, dass es aber – nicht nur ihm – ein besonderes Anliegen war, in der Residenzstadt Wien, somit dem Zentrum der – nicht nur von den Tschechen – verhassten Doppelmonarchie Erfolge zu feiern, ist nachzuvollziehen.
Dies gelang bereits 1903, als das Ballett der Wiener Hofoper Nedbals „Der faule Hans“ (Libretto: František Hejda), das in einer Choreografie von Achille Viscusi (1869–1945) im Jahr davor in Prag uraufgeführt worden war, von dem langjährigen Choreografen des Wiener Ensembles, Josef Hassreiter (1845–1940), herausgebracht wurde. Das Werk erfreute sich nicht nur allgemeiner Beliebtheit, sondern genoss auch das Wohlwollen des Direktors des Hauses, Gustav Mahler. Dieser war auch an der Entstehung von Nedbals Ballett „Des Teufels Großmutter“ beteiligt, das allerding erst 1912, nach Mahlers Tod, in der Hofoper uraufgeführt wurde. 1908 war „Von Märchen zu Märchen“ in Prag herausgekommen und 1911, wiederum in Prag, „Prinzessin Hyazinthe“. 1914 wurde dann im Wiener Ronacher „Andersen“ uraufgeführt.
Drei Libretti zu Nedbals Balletten – „Von Märchen zu Märchen“, „Prinzessin Hyazinthe“ und „Andersen“ – stammen von Novák, einer Persönlichkeit, die nicht nur im Leben des Komponisten eine außergewöhnlich große Rolle spielen sollte. Zunächst – neben seiner Eigenschaft als Industrieller – nur Schriftsteller, war er, Nedbal immer fördernd zur Seite stehend, in zunehmendem Maße politisch tätig und wurde als vehementer Vertreter des „Tschechoslowakismus“ Handelsminister in der Tschechoslowakei. Nováks mehraktige, auf tradierten Mitteln – mimisch inhaltsvermittelnde Aktion und Tanz – aufgebaute Libretti fußten oft auf Märchen, die durch ausgedehnte Divertissements zusätzlich Farbe erhielten. Novák ist auch der Verfasser einer 1938 erschienenen Nedbal-Biografie.
Der Choreograf Viscusi war mit Ausnahme von „Des Teufels Großmutter“ für die Realisierung sämtlicher Nedbal-Ballette verantwortlich. Seine Art des Schaffens unterschied sich – wahrscheinlich – nicht grundlegend von jener Hassreiters, die dieser in seinen Wiener Balletten etabliert hatte. Die mimisch erzählte Handlung wird durch Tanz zu einem Ganzen gefügt. Was die Balletttechnik betraf, so bauten beide Choreografen auf einer italienischen Schule, die nicht nur die Spitzentechnik der Ballerinen und die Pas-de-deux-Arbeit, sondern auch die Formationen eines groß angelegten Corps de ballet mit einschloss.
Mahler gibt an Nedbal weiter
Was auch immer die Tschechen künstlerisch im Sinn hatten, wie sehr es auch gelingt, in Prag – eine eigene – Szene zu pflegen, ein Ziel bleibt: Erfolg in Wien! Und Nedbal wird dieser Erfolg in hohem Maße zuteil. Der Komponist ist bereits seit 1893 durch das Gastspiel des Böhmischen Streichquartetts im Bösendorfersaal in Wien bekannt, 1901 gab er im Musikvereinssaal mit der Böhmischen Philharmonie sein Wien-Debüt als Dirigent, 1902 leitete er Konzerte des „Riesenorchesters“ in „Venedig in Wien“. Nun aber folgt mit der Arbeit in der Hofoper der nächste Schritt: Der Anlaß ist ein wirklich großes Ereignis: der Staatsbesuch des Königs von Sachsen, Georg, Schwiegervater von Erzherzog Otto, dem Vater des späteren Kaisers Karl. Am 28. April 1903 wird im Haus am Ring ein „Théâtre paré“ gegeben, das heißt also eine geschlossene Aufführung des Hofes. Der Abend ist zweigeteilt; nach dem II. Akt aus „Aida“, der von Mahler dirigiert wird, leitet nach einer Pause Mahler den zweiten Teil mit der Ouvertüre aus „Die lustigen Weiber von Windsor“ ein. Hierauf übergibt, wie das „Illustrirte Wiener Extrablatt“ berichtet, „Director Mahler den Tactstock an Oskar Nedbal, welcher sein Ballett ‚Der faule Hans‘ dirigirte“. Aufgeführt wurden zwei Bilder aus dem in Wien noch in der Phase der Vorbereitung stehenden abendfüllenden Ballett.
Bemerkenswert an dem Ereignis ist die bewusst evozierte Schau-Lust, die einmal mehr die Institution Hofoper als imperialen Machtapparat der Repräsentation ausweist. Die Mitglieder dieser Institution, somit auch das Ballettensemble, sind wie seit Jahrhunderten „political player“ im Dienste des Hofes. Sie sind in einen Umraum gestellt, dazu geschaffen, die Gunst und den Zauber des Hofes auf ein Publikum strahlen zu lassen. Mit eingeplant dabei ist die Medienrezeption. Schon die Zufahrt des Hofes zur Oper – eine Menschenmenge steht in der gesperrten Straße Spalier – wird von den Journalen ebeno detailliert beschrieben wie der Einzug des Hofes vor – von ihm selbst ernannten – Würdenträgern des gesamten Reichs. Das Spektakel findet spiegelbildlich eine würdevolle Replik auf der Bühne, denn man hat den Triumphzug aus „Aida“ nicht nur kostümlich neu ausgestattet, sondern offenbar auch durch zusätzliche Teilnehmer aufgestockt (die Angaben zur Anzahl der Beteiligten schwanken dabei zwischen 600 und 800 Mitwirkenden). Den ausführenden Tänzern kommen oft zweifache Aufgaben zu. Sie verkörpern nicht nur ihrem Rollenfach gemäß bestimmte Partien, sondern haben – wie dies etwa beim Interpreten der Titelrolle des „Faulen Hans“, Carl Godlewski, Fall ist – auch Aufgaben als Tanzinstruktoren und -arrangeure bei Hof inne. Die Premiere des gesamten „Faulen Hans“ erfolgte in der Choreografie von Hassreiter schließlich am 3. Oktober 1903, also am Vorabend des Namenstags des Kaisers. Das Werk wurde weiterhin auch dann gespielt, wenn es galt, Vorstellungen vor gekrönten oder zu krönenden Häuptern auszurichten: Am 17. Oktober 1903 fand eine Aufführung in Anwesenheit des Königs von Belgien statt, am 21. April 1904 waren Prinz und Prinzessin von Wales zugegen. „Der faule Hans“ blieb bis 1911 im Spielplan der Hofoper; mit Ausnahme einer einzigen der insgesamt 41 Vorstellungen war Godlewski stets der Träger der Titelrolle.
Die Wiener Presse ging schon auf Nedbals Bühnenerstling überaus wohlwollend ein. Man kenne ihn ja bereits als „feurigen“ Dirigenten und, so schreibt die „Wiener Zeitung“ weiter, die Musik zu seinem Ballett sei eine „achtenswerte, nicht nur gesprächige, sondern redende, sehr beredte Musik, die keinen Augenblick versäumt, ihre Klugheit, ihre Erfahrenheit, ihre Bildung zu beweisen. Sie ist an bezeichnenden Leitmotiven reich … Sie grübelt, sucht Gedanken und Verbindungen, vornehme Mittelstimmen und sonstige Zeichen musikalischer Wohlanständigkeit. Auch die Tänze, überaus wirksam instrumentiert, haben Charakter, feine Sitten und werden in der Gesellschaft der guten Musik auch immer gut gelitten sein.“ Nedbal mochten diese Zeilen freuen, doch am wichtigsten war es ihm wohl, dass Mahler sein Ballett so sehr schätzte, dass er ihn mit einer neuen Komposition beauftragte.
„… eine groteske und gewiß wirkungsvolle Sache“
Das hohe Maß, mit dem Mahler in seiner Direktionszeit unter öffentlicher Beobachtung stand, bezeugt ein fiktiver Dialog zur Entstehung des neuen Nedbal-Balletts, der im „Neuen Wiener Journal“ vom 20. April 1912 zu lesen war. „Lieber Freund“, so lässt man Mahler das Wort an Nedbal richten, „ich habe kürzlich eine interessante Unterhaltung geführt. Da, lesen Sie die Aufzeichnungen darüber und drücken Sie Ihre Meinung dazu in musikalischer Form aus. Das wäre zum Unterschied zum ‚Faulen Hans‘ einmal eine groteske und gewiß wirkungsvolle Sache.“ „Mit Vergnügen, Herr Direktor“, so lässt man Nedbal antworten, dieser habe sich daraufhin sofort an die Komposition gemacht. „Dann brachte er Herrn Mahler seine Partitur, die dem Direktor sehr gut gefiel.“ So weit die Fiktion.
Tatsächlich hatte Mahler 1907, also im letzten Jahr seiner Direktionszeit, an Nedbal einen Kompositionsauftrag erteilt. Grundlage dafür war ein Libretto des Schauspielers des Hofburgtheaters Carl von Zeska. Da Mahler noch im selben Jahr die Hofoper verließ, kam keine Aufführung zustande. Auch sein Nachfolger Felix von Weingartner spielte das fertige Werk nicht, harrte doch „Aschenbrödel“, das einzige Ballett von Johann Strauß, das noch dazu ebenfalls ein Auftragswerk der Hofoper war, seiner Wiener Erstaufführung. Diese fand endlich 1908 statt – sieben Jahre nach seiner Berliner Uraufführung. Bemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass ein im Strauß-Jubiläumsjahr 1999 an der Wiener Staatsoper von Renato Zanella herausgebrachtes „Aschenbrödel“ nun schon seit Jahren ungespielt „auf Eis liegt“ und, so ist zu hoffen, im Strauß-Jubiläumsjahr 2025 doch wieder zum Vorschein kommen könnte. Mit gutem Beispiel vorangegangen ist in der abgelaufenen Saison ein nordböhmisches Ballettensemble, jenes von Ustí nad Labem, das das Strauß-Ballett in einer geschmackvollen und einfallsreichen Adaptierung von Margarita Pleškova und Vladimír Gončarov präsentierte. Doch zurück zu Nedbals in Wien in der Warteschleife gestandenem neuen Ballett „Des Teufels Großmutter“. Weingartners Nachfolger Hans Gregor setzte es schlussendlich auf den Spielplan, es erlebt am 20. April 1912 in Hassreiters Choreografie seine Uraufführung.
Das Werk entpuppt sich als späte Variante des in der Biedermeierzeit so beliebten Satanella-Motivs. Darunter ist jener im Ballett immer präsent gewesene Themenkreis zu verstehen, den man heute – die historische Dimension meist ausklammernd – als „gender transgression“ bezeichnet. Es geht dabei um eine oft in mehrfacher Verkleidung auftretende sexuell mehrdeutige Bühnenfigur, die hier auch das Alter wechselt. „Des Teufels Großmutter“ erzählt von dem Maler Leopold Möwes (dargestellt von Godlewski), dessen Geliebte (Elsa von Strohlendorf) sich im Faschingskostüm zur Satanella und – in Leopolds Traum – durch des Teufels List gar zu dessen Großmutter wandelt. Der dabei die Fäden ziehende Teufel (Marie Kohler) tritt selbstverständlich en travestie auf. Den Fähigkeiten der Primaballerina (Cäcilie Cerri) wird die Rolle „Roulette“ gerecht. Im weiteren Handlungsverlauf entscheidet die Waage der Gerechtigkeit, wer – bei Zweiteilung der Bühne – die Himmelspforte und wer die Höllenpforte durchschreitet. Spektakulär dabei: Ein Automobil mit rauchenden Pneus, und behängt mit überfahrenen Hühnern und Schweinen, verschwindet im Höllentor, während der Wiener Fiaker mit seinem Mädel im flotten Tempo das Himmelstor passiert. Überraschenderweise greift die Hoftheaterzensur ein: Die Rolle „Der Himmelspförtner“ (Eduard Voitus van Hamme) wird nach der dritten Aufführung gestrichen und durch einen namenlosen Engel ersetzt. Der „Teufelsgroßmutter“ ist ein nur kurzes Hofoperndasein beschieden, das ihr nachfolgende Ballett stammt ebenfalls von einem Komponisten, der wie Nedbal auch das Operettengenre pflegt: „Die Prinzessin von Tragant“ von Oscar Straus. (Nedbals erste Operette, „Die keusche Barbara“, war 1910 in Prag zur Uraufführung gelangt.)
Seitens der Hofoperndirektion wird auch Nedbals von Viscusi choreografierte Prager Ballettpantomime „Von Märchen zu Märchen“ für eine Wiener Aufführung erwogen, Hassreiter reist zur Begutachtung zweimal nach Prag und nach Budapest (wo es in einer Choreografie von Nicola Guerra aufgeführt wird). Möglicherweise wird der Plan letztlich deswegen verworfen, weil das Werk inhaltlich eine zu große Ähnlichkeit mit der noch vor wenigen Jahren am Spielplan gestandenen Hassreiter’schen „Goldenen Märchenwelt“ aufweist.
Ausstieg aus der Institution Oper?
Entstehungs- und Aufführungsgeschichte von Nedbals fünftem und letztem Ballett sind in vieler Hinsicht bemerkenswert. Schon das Buch zum Märchenballett „Andersen“ wich entschieden von dem der vorangegangenen Ballette ab. Zum Librettisten Novák war der Dichter Jaroslav Kvapil hinzugekommen, der seine inszenatorisch-dramaturgische Expertise einbrachte. Der getanzte Teil, in dem man revueartig Figuren beziehungsweise Passagen aus Hans Christian Andersens Märchen zeigte, war nun in einen sprechtheatralischen Rahmen gestellt, in dem man Andersen und auch Bertel Thorvaldsen als handelnde Personen auftreten ließ. Völlig anders war auch die Produktion selbst, denn sie war nicht an eines der nationalen Häuser – in Prag oder Wien – gebunden, sondern wurde, gleichsam am freien Markt, für das Wiener Etablissement Ronacher konzipiert und im März 1914 dort uraufgeführt. Diese Art der Produktion verweist auf die immer stärker werdende, freilich vom Erfolg abhängige Mobilität insbesondere des Unterhaltungstheaters der Zeit. Das ausführende Ensemble gehörte nicht einem einzigen Theater an, sondern setzte sich aus Wiener, Prager und Mailänder Kräften zusammen. Als Orchester wurden die Wiener Tonkünstler verpflichtet. Darüber hinaus agierte der Choreograf Viscusi diesmal als Freelancer.
Viscusi gehörte jenen Künstlern an, die die stilistische Richtung der italienischen Schule sowohl als Tänzer und Lehrer wie auch als Choreografen in ganz Europa und Übersee vertraten. Vor seiner Tätigkeit als Prager Ballettchef (1901–12) machte Viscusi auch einige Wien-Erfahrungen. 1894 war er als Tänzer in Hassreiters „Columbia“ aufgetreten, das der Wiener Ballettchef in Berlin herausgebracht hatte und das nunmehr als Gastspiel im Carl-Theater zu sehen war; 1897 tanzte er im Theater in der Josefstadt in Godlewskis „Olga“ (Musik: Josef Bayer); 1898/99 brachte er im Colosseum die Ausstattungsballette „Unsere Matrosen“ und „Der Diamantenpalast“ heraus; 1898 und 1899 absolvierte er Auftritte im Sommertheater „Venedig in Wien“.
„Andersen“ war im Ronacher ein derart großer Erfolg beschieden, dass es im April in die Volksoper übernommen wurde und schließlich im Mai 1914 ins Carl-Theater übersiedelte. In diesem Theater hatte Nedbal mit seiner 1913 uraufgeführten Operette „Polenblut“ (Libretto: Leo Stein) einen Triumph gefeiert. Während des „Andersen“-Gastspiels im Carl-Theater wurde „Polenblut“ an die Volksoper transferiert. Es versteht sich von selbst, dass man die Wienere Erfolgsserie von „Andersen“ auch in anderen Städten fortsetzen wollte. Diese Pläne wurden jedoch durch den Ausbruch des Kriegs zunichte gemacht. Eine groß angelegte Tournee, die Russland einschließen und bis nach Ägypten führen sollte, kam nicht zustande. Zudem wurde Viscusi beim Kriegseintritt Italiens als italienischer Staatsbürger interniert. Bereits im November 1914 gelang es Augustin Berger, das Werk im Prager Nationaltheater herauszubringen; 1915 studierte er es im Theater des Westens in Berlin ein. Dort wurde auch das Unternehmen „Andersen-Gastspiele“ gestartet, ein Eintrag im „Deutschen Bühnenjahrbuch 1916“ führt Auftritte in deutschen Großstädten an.
Nedbal selbst konnte inzwischen noch seine Erfolge genießen. Dazu passte auch der Wechsel seiner Wiener Wohnadresse. Es waren vielleicht auch praktische Gründe, die ihn dazu bewogen, seinen neuen Wohnsitz ausgerechnet im Haus Linke Wienzeile 6 zu nehmen, denn dies war die Adresse des privat geführten Theaters an der Wien. Nedbal musste also sein Wohnhaus nicht verlassen, um Aufführungen seiner Operetten im Theater an der Wien und in dem ebenfalls dort befindlichen Theaterkabarett „Die Hölle“ zu besuchen.
Ballettkomponist trifft auf Tanzmoderne
Gerade in den Kriegsjahren scheint für Nedbal ein möglichst kurzer Weg ins Theater opportun zu sein, denn er bringt von 1916 bis 1919 in Wien eine Operettenuraufführung nach der anderen heraus. Sie werden im Theater an der Wien, im Carl-Theater, im Komödienhaus und in der Hölle gespielt. Daneben kommt es aber auch zu einer tanzgeschichtlich höchst bemerkenswerten Zusammenarbeit. 1916 nämlich dirigiert Nedbal im Großen Musikvereinssaal in einem Tanzabend von Grete Wiesenthal „zugunsten der Kriegspatenschaft“ sein Wiener Tonkünstlerorchester. Auf dem Programm steht unter anderem eine Szene aus dem „Faulen Hans“ mit Wiesenthal als Prinzessin. Somit trifft nicht nur der Ballettkomponist auf die führende Vertreterin der Wiener Tanzmoderne, sondern Wiesenthal selbst auch auf ihre eigene (Ballett-)Vergangenheit als Mitglied des Ballettensembles der Wiener Hofoper. Und Wiesenthal hat lebhafte Erinnerungen an das Werk, denn sie tanzte darin im Laufe ihres Engagements gleich mehrere Rollen. In ihren Memoiren „Die ersten Schritte“ (Wien 1947) führt sie aus: „Gustav Mahler hatte ein großes Ballett angenommen. Es hieß ‚Der faule Hans‘. Die Musik war von Oskar Nedbal. Musikalisch war es ein wunderschönes Ballett, und es ist mir eigentlich unklar, warum es sich nicht bis heute am Spielplan gehalten hat. Der Komponist begleitete am Klavier selbst die späteren Proben und war um seiner Musik willen von uns allen sehr gefeiert.“
Festgehalten dazu sei auch, dass es eine Komposition Nedbals war, die Wiesenthal schon als Hofoperntänzerin das Zusammenwirken von Musik und Choreografie kritisch sehen ließ. Die für die Wiener Aufführung des „Faulen Hans“ hinzugefügte „Valse triste“ nämlich, die eine „sehr tragische Szene“ der Erzählung begleitete, wurde, für Wiesenthal einfach unpassend, „ganz nach Ballettschablone“ auf Spitze getanzt. 1917 findet die Zusammenarbeit von Nedbal und Wiesenthal eine Fortsetzung. Diesmal ist der Auftrittsort das Wiener Konzerthaus, das spätere Stammhaus der Wiener Tänzerin. An Wiesenthals Seite tanzt Godlewski. In Nedbals „Krakowiak“ etwa, so eine Rezension, fand das Künstlerpaar „eigenartig pikante Wendungen“. „Nedbal selbst“, so der Bericht weiter, „war Führer des Tonkünstlerorchesters, das auf alle Intentionen Frau Wiesenthals verständnisvoll einging.“
Kriegsende, „Umbruch“, ein neues – „unabhängiges“ – Land. Wie soll dieses Land heißen? Gehört die Slowakei Tschechien an? Nedbal geht in seine nunmehr Tschechoslowakei genannte Heimat. Dies auch deswegen, weil sich in der jungen österreichischen Republik verstärkt eine antitschechische Strömung bemerkbar gemacht hat, von der Nedbal trotz all seiner Erfolge und der hohen Wertschätzung, die ihm zuteil wurde, nicht verschont blieb. Schon 1908 war von der deutschnationalen Presse eine Kampagne gegen ihn gestartet worden, als er zum Musikdirektor der Volksoper ernannt wurde, eine Position, die er nach wenigen Monaten zurücklegte. In Prag stellt Nedbals ständiger Mitarbeiter Novák, nunmehr Minister, die Mittel für ein zu gründendes „Tschechisches Theater“ mit Nedbal als Direktor zur Verfügung. Das Projekt scheitert, da es bei den Tschechen keine Zustimmung findet, sie sehen in Nedbal einen erfolgreichen „Österreicher“. 1922 kommt es in Brünn zur Uraufführung seiner Oper „Bauer Jakob“ (Libretto: Novák). Im selben Jahr wendet sich Nedbal mit der Vertonung eines Librettos von Marie, Königin von Rumänien (väterlicherseits eine Enkelin von Queen Victoria, mütterlicherseits von Zar Alexander II.), noch einmal dem Ballett zu, das Vorhaben wird jedoch nicht vollendet; seine neue Aufgabe – er geht als Operndirektor nach Bratislava – beansprucht seine ganze Kraft.
Preßburg, Prešporok, Pozsony, Bratislava
Es mutet sonderbar an, dass von allen für das heutige „Bratislava“ verwendeten Namen – das ist auf Deutsch „Preßburg“, auf Ungarisch „Pozsony“ – die slowakische Bezeichnung „Prešporok“ die am wenigsten bekannte der jetzigen Hauptstadt der Slowakei ist. Eine Erklärung dafür wäre vielleicht, dass sich der slowakische Bevölkerungsanteil in der Stadt in Grenzen hielt. 1910 etwa betrug er nur 17 % und bis 1919 war er auf gerade einmal 33% angestiegen. Wahrer Grund dafür ist aber wohl, dass die Tschechoslowakisten die Stadt 1919 einnahmen. Wie auch immer sich die Bevölkerungsanteile in der Stadt in den kommenden Jahren verschoben, Fakt ist, dass Nedbal, dem 1923 die Operndirektion des Slowakischen Nationaltheaters übertragen wurde, sich mit seinem Spielplan vollkommene Eigenständigkeit erarbeiten konnte!
Nedbal war zusammen mit Viscusi als Ballettmeister und Opernregisseur in den 1886 eröffneten, seit 1920 als Slowakisches Nationaltheater (SND) fungierenden Fellner-&-Helmer-Bau eingezogen. Gleich das erste Ballett, „Von Märchen zu Märchen“, wurde mit großem Erfolg gespielt. Dieser erweist sich als Bestätigung von Nedbals Einschätzung der Kunstgattung: Sie sei das vielversprechendste Mittel der nationalen Verständigung in einer Stadt, der die tschechische Oper, das slowakische Schauspiel doch noch zu fremd dünken. Ballett bedeute Neutralität auf der Bühne, die vollen Häuser bestätigen augenscheinlich die Richtigkeit dieser Idee.
Das Ballettrepertoire der Zwanzigerjahre, für das Nedbal mitverantwortlich war, ist in seiner Vielfalt und seinem Gespür für Wichtiges mit keinem „westlichen Haus“, also auch nicht mit Wien, zu vergleichen. Neben Nedbals eigenen Werken, die selbstverständlich getanzt wurden – das waren bis auf „Des Teufels Großmutter“ alle seine Ballette –, pflegte er die Reformwerke „Der Schleier der Pierrette“ von Ernst von Dohnányi und „Der Schneemann“ von Erich Wolfgang Korngold sowie einige Werke des Ballets-Russes-Repertoires. Dazu kamen nicht nur die Léo-Delibes-Ballette „Coppélia“ und „Sylvia“ sowie Bayers „Die Puppenfee“, sondern damals schon, und diese Auswahl unterscheidet das SND völlig von westlichen Häusern, die heute als Klassiker bezeichneten Ballette „Schwanensee“ und „Der Nussknacker“ von Peter Tschaikowski, dazu die ältere „Giselle“ von Adolphe Adam (alle genannten Werke wurden in Fassungen von Viscusi getanzt). Auch die zu einem Standardwerk des mitteleuropäischen Repertoires gewordene „Josephs Legende“ von Richard Strauss war in der Choreografie von Max Semmler vertreten.
In diesem Zusammenhang erweist es sich als besonders aufschlussreich, das Ballettrepertoire der Städte Wien, Prag, Bratislava und Budapest zu vergleichen. Während sich Budapest mehr an Wien anlehnte und besonders in den letzten Jahrzehnten der Monarchie, ästhetisch gesehen, von Wien beeinflusst wurde, bewahrten sich Prag und Bratislava Eigenständigkeit. In der weiteren Zwischenkriegszeit widerspiegeln die genannten Häuser zu unterschiedlichen Graden eine von der Moderne beeinflusste Linie.
Nedbals Tätigkeit strahlte bis nach Wien. 1925 gastierte das SND mit Bedřich Smetanas „Die verkaufte Braut“ (mit „ganz ausgezeichnetem Ballett“, wie ein Rezensent betonte) im Bürgertheater. Im selben Jahr kam es in Wien im Carl-Theater zur Uraufführung von Nedbals letztem Bühnenwerk, der Operette „Donna Gloria“ (Libretto: Viktor Léon). 1929 schließlich absolviert das SND ein dreiwöchiges Gesamtgastspiel (Oper und Ballett) im Wiener Stadttheater, unter anderem mit „Der Nussknacker“ und Dvořáks „Slawische Tänze“. Viscusi konnte dabei 35 Jahre nach seinem Wiener Debüt einmal mehr seine Qualitäten als Danseur noble ausspielen! Über Nedbal als Operndirektor schreibt L. W. Rochowanski in „Die Bühne“, Heft 200, 1928: „Das kostbare und polyglotte Instrument, die Musik, verwaltet Direktor Oskar Nedbal, und was er bisher leistete, ist nicht nur Beweis für seine große Musikalität, sein Können und seine Arbeitsfreude, sondern vor allem ein Beleg des vollen Verständnisses für die kulturelle Aufgabe, die ihm in dieser Stadt zugefallen ist.“
Die Stadt selbst sah das offenbar anders. Das Theater wurde erneut zum Kampfplatz, nunmehr zwischen Tschechoslowakisten und slowakischen Autonomisten. Als Höhepunkt dieser Auseinandersetzung kann der Tod des Dirigenten, Komponisten und Direktors des SND Nedbal gesehen werden. Dazu der eminente Musikwissenschaftler Vladimír Zvara: „Gehetzt von der slowakischen autonomistischen Presse und von seinen tschechischen Gegnern (die ihm seine Wiener Erfolge vor 1918 nicht verzeihen konnten), von der Genossenschaft und dem Ministerium auf Gnade und Ungnade den finanziellen Problemen überlassen, in der Panik, für die Schulden vor Gericht zitiert zu werden, verübte Oskar Nedbal im Jahr 1930 Selbstmord.“ Für seinen Tod am 24. Dezember 1930 wählte Nedbal mit Zagreb einen Ort außerhalb der Heimat. Dort hatte er sich aufgehalten, um die Premiere seines „Faulen Hans“ zu dirigieren.
Nun endlich Liberec!
Doch hier soll keineswegs behauptet werden, Nedbal sei in Tschechien oder der Slowakei vergessen. Immerhin flocht ihm die Nachwelt einige Kränze: In Nedbals Heimatstadt Tábor wurde das Theater nach ihm benannt, in Wien gibt es seit 1957 eine Nedbalgasse und seit 1990 trägt sogar ein 1980 entdeckter Meteorit seinen Namen. Von seinen Operetten hat sich jedoch nur „Polenblut“ gehalten (in Wien wurde es zuletzt 1988 an der Volksoper gespielt). Gelegentlich trifft man in Tschechien und der Slowakei auf Aufführungen von „Von Märchen zu Märchen“ und „Der faule Hans“; „Andersen“ wird selten gegeben und „Prinzessin Hyazinthe“, das bis 1948 kontinuierlich an allen großen Theatern des Landes getanzt wurde (insgesamt 14 Produktionen, namhafteste Choreografen waren Augustin Berger, Jaroslav Hladík, Jelizaveta Nikolská, Bedřich Füsseger und Jiří Němeček), schien 75 Jahre auf den Spielplänen nicht auf. (Immerhin wurden Teile von Nedbals Komposition 1990 durch eine Supraphon-CD zu Gehör gebracht.) „Des Teufels Großmutter“ ist, wie es scheint, ganz in der Versenkung verschwunden.
Jetzt also Liberec! Warum feiert gerade diese Stadt das Jubiläum des Komponisten mit der Aufführung eines seiner Ballette und keine andere? Warum entschied man sich ausgerechnet hier für „Prinzessin Hyazinthe“? Ist es die Tatsache, dass der weltberühmte Jugendstilmaler und Grafiker Alfons Mucha (1860–1939) 1911 das Plakat für die Uraufführung des Balletts schuf und dieses – ganz ähnlich wie seine Sarah-Bernhardt-Plakate – um die Welt ging? Oder ist es die geografische Nähe von Liberec zu einem Gebiet, das sich „Böhmisches Paradies“ nennt und heute als „märchenhafter UNESCO-Geopark“ ausgewiesen ist? Vielleicht ist es die dort befindliche legendenumwobene Burg Trosky, die als Ort des Geschehens im Libretto des Balletts genannt ist? Oder, ganz anders, sind es die Ideen der Freimaurer, denen Nedbal, der Uraufführungschoreograf Viscusi und auch Mucha angehörten, die auf die Bühne gebracht werden sollten? Oder ist all dies – zusammengenommen – „nur“ kluge dramaturgische Arbeit, die die Unverwechselbarkeit des (Theater-)Standorts mit überregionalem Anspruch zu vereinen weiß und damit prompt Leute von außerhalb in das bemerkenswerte Theater von Liberec lockt?
Und dieses Theater der Stadt im Norden Böhmens – das, wie schon erwähnt, für Wien legendäre Reichenberg, wo „man“ als erstklassiger Wiener Darsteller oder Darstellerin einmal aufgetreten sein musste – kann sich sehen lassen! 1883 eröffnet, feiert es heuer sein 140jähriges Jubiläum. Es ist nicht nur als ganz früher Fellner-&-Helmer-Bau bemerkenswert (von rund 50 von dem Wiener Team erbauten Theatern ist es das vierte), sondern auch seines Eisernen Vorhangs wegen, der die Thematik „Triumph der Liebe“ darstellt. Die Ausführenden nannten sich „Künstler-Compagnie“, worunter sich niemand anderer als die Brüder Gustav und Ernst Klimt sowie Franz Matsch verbergen. Seit 1957 ist das Theater nach dem aus Liberec stammenden Schriftsteller František Xaver Šalda benannt. Auch was Tanzaufführungen betrifft, sind so manche Bezüge zu Wien auszumachen. 1886, ein Jahr nach seiner Uraufführung an der Wiener Hofoper, setzte man bereits „Wiener Walzer“ an, 1899 erstmals „Die Puppenfee“, weitere Einstudierungen des Werks folgten, 1907 kam „Sonne und Erde“ hinzu. Selbstverständlich gab es auch Gastspiele aus Wien. Diese bezeugen, dass in den Dreißigerjahren auch Reichenberg eine tanzstilistische Wende erlebte. Auf das Godlewski-Ballett, das ab 1925 mehrmals gastierte, folgten nämlich die Tanzgruppe Bodenwieser (1931) sowie die Tanzgruppe Hellerau-Laxenburg unter Rosalia Chladek (1932).
Eine konsequente, von tschechischen Tanzschaffenden betriebene Pflege des Balletts setzte 1945 ein. Vereinzelt bereicherten sowjetische Standardwerke das Repertoire, aber es war auch Platz für Beispiele aus der tschechischen Tanzmoderne; so entstand etwa 1986 durch František Pokorný Jarmila Kröschlovás und Bohuslav Martinůs „Küchenrevue“ aus den Zwanzigerjahren neu. Eine Konstante bildeten Nedbals Ballette, „Von Märchen zu Märchen“ hatte 1945 und 1949 Premiere, „Prinzessin Hyazinthe“ 1947, damals in einer Choreografie von Josef Škoda, „Der faule Hans“ 1954 und 1975. Gegenwärtig wird das Ballett des Hauses von Marika Mikanová geleitet, es umfasst 16 Mitglieder und bietet in der laufenden Saison drei Premieren: „Der Widerspenstigen Zähmung“ (Mikanová), „Cyrano de Bergerac“ (Filip Veverka) und „La Sylphide“ (Nuria Cazorla García). Hervorstechende Titel im Ballettrepertoire der letzten Jahre: von Gustav Skála das Johann-Strauß-„Aschenbrödel“ (2004) und „Marie Antoinette – Marquis de Sade“ (2009), von Mikanová „Café Reichenberg“ (2013), von Alena Pešková „Gustav Klimt“ (2013), von Libor Vaculík „Petroleumlampen“ nach dem Roman des aus dem Kreis Liberec stammenden Schriftstellers Jaroslav Havlíček (2017), von Rie Morita „Liliom“ (2021); dem gebürtigen Reichenberger Harald Kreutzberg war das Tanzstück „Harald – Der Stern kehrt zurück“ von Daniel Záboj (2012) gewidmet.
Zwischen Schau-Lust und Schau-Wert
Schon in den Jahrzehnten vor 1900 hatte sich ganz allgemein das Ballett im Spannungsfeld zwischen Schau-Lust und Schau-Wert bewegt. Je nach Theater und verfügbaren Ressourcen setzte man, um die Schau-Lust zu erhöhen – wie dies etwa im Falle des Triumphzuges von „Aida“ zu sehen war – noch größere Mittel, mehr Beteiligte und prachtvollere Kostüme ein. Im Gegensatz dazu suchte man in größerem Ausmaß den Schau-Wert eines Balletts zu erhöhen, indem man beim Libretto entweder mehr auf historische Authentizität achtete oder aber auf die Einhaltung von moralischen Tugenden setzte. Gerade diesem Bestreben ging 1911 wohl auch der Librettist der „Prinzessin Hyazinthe“ nach, ein Bestreben, dem sich die Autoren der jetzigen Liberecer Fassung – Kateřina Hanáčková als Bearbeiterin des Librettos von Novák und Marika Blahoutová als Regisseurin und Choreografin – offensichtlich anschlossen. Das Ziel der zeitgenössischen Bearbeitung ist es nämlich, die ursprüngliche vielverzweigte Handlung derart zu straffen, dass bestimmte Werte der Freimaurer – Symbole dieses Bundes finden sich sogar im Plakat Muchas – noch stärker zum Vorschein kommen. Den Werten der Freimaurer entsprechend ist insbesondere der Entwicklungsprozess, den der „Held“ der Handlung durchmacht. Der Schmied, ein einfacher Handwerker, hat mannigfache Prüfungen zu durchleben, bevor er die Unangemessenheit seines Strebens selbst erkennt und sich in der Folge zu einem ausbalancierten, in sich ruhenden Charakter wandelt.
Hauptaufgabe der Bearbeiterinnen war es wohl, die Struktur des als „groteske Ballettpantomime“ ausgewiesenen Werks zu einem Ballett zu wandeln, das heißt den ursprünglich von Schauspielern dargebrachten Erzählstrang in ein durchchoreografiertes tänzerisches Idiom zu transponieren. Der Erzählstrang des Originals wurde von ersten Kräften des Nationaltheaters dargeboten: Die umjubelte Anna Sedláčková, „die große nationale Schauspielerin der Tschechen“, die auch in Wien gastierte und insbesondere als Kameliendame gefeiert wurde, mimte die Titelrolle, die männliche Hauptpartie gestaltete der Sänger und Opernregisseur des Hauses, Robert Polák, der wiederholt in mimischen Rollen zu sehen war. Den Liebhaber der Prinzessin, den fahrenden Ritter Zvonimir, gab in der Premiere der Schauspieler Rudolf Deyl, in Reprisen war Viscusi selbst in dieser Rolle zu sehen. Aber auch der der Zauberei mächtige Ritter Aratron aus unbekannten Landen, der als Freier der Prinzessin auftritt, und der Zigeuner von Biskaya im Gefolge des kastilianischen Freiers Don Panfilio zählten in der Folge zu Viscusis Rollen. Die reine Tanzpartie der Hyazinthe in der Szene im Hyazinthenreich fiel der Primaballerina Anna Korecká zu.
Der Hauptunterschied des Originals zu der nunmehrigen Fassung in Liberec ist die Konzeption der männlichen Hauptpartie, das heißt die Rolle des Schmieds. Sieht sich der ursprünglich (mimisch agierende) Schmied, ein Familienvater, im Traum als Vater der Prinzessin, so wandelt er sich nun als junger (tanzender) Schmied zum Liebhaber der Prinzessin, dem die Entscheidung, zwischen Macht und Liebe wählen zu müssen, nicht schwerfällt. Der in der Neufassung nun nicht mehr als Liebhaber auftretende Ritter Zvonimir mutiert zu einem abgewiesenen Freier, dem so wie seinem Rivalen Don Panfilio das Streben nach Macht zum Verhängnis wird.
Die Intention der jetzigen Fassung, Werte der Freimaurer zu vermitteln, wird durch den klugen Entschluss gesteigert, die eingesetzten Tänzerinnen, so auch die Prinzessin, nicht auf Spitze agieren zu lassen. Dies erhöht die innere und äußere Ausdrucksfähigkeit der Ausführenden; der solcherart entstandene Bewegungsfluss verleiht nicht nur im Erzählstrang ungebrochene Kontinuität, sondern gibt der in der Vorstellung des Zuschauers immer präsenten grafischen Jugendstillinie Muchas auch Gelegenheit, sich in den Raum zu weiten. (Der Ursprung von Muchas Karriere war übrigens in Wien. Als Kulissenmaler arbeitete er zwei Jahre in der Firma Kautsky-Brioschi-Burghardt, verlor aber diese Stellung, da die Firma nach dem Brand des Ringtheaters 1881 Personal einsparen musste. In der Folge ging Mucha nach Paris. 1898 war er wieder in Wien, diesmal als Beteiligter an der ersten Secessionsausstellung.)
Für die Realisierung der Musik Nedbals für die laufende Produktion, die im März 2023 herauskam, musste eine Lösung gefunden werden, da aus theaterinternen Gründen das Orchester nicht zur Verfügung stand. Man zog den zeitgenössischen, balletterprobten Komponisten Zbyněk Matějů heran, der eine Bearbeitung für Kammerochster und Klavier schuf. Das Bühnenbild stammt von Lucie Loosová, die Kostüme schuf Josef Jelínek. Für die Lichtregie sind Blahoutová und Pavel Hejret verantwortlich. Begleitet wurde die Premiere durch eine von Kateřina Hanáčková und Barbora Svobodová, der Dramaturgin des Liberecer Balletts, begleitete Austellung zum Werk und zu seiner Neufassung.
Die nunmehr fast kammermusikalische Note der Produktion kommt der ehemaligen Pavel-Šmok-Tänzerin Blahoutová mehr als entgegen. (Šmok hat übrigens zwei Ballette zu Musik aus „Von Märchen zu Märchen“ herausgebracht, 1966 für das Balet Praha „Nedbalky“ und 1984 für das Prager Kammerballett „Fantom baletu“.) Der Choreografin gelingt es, den verschiedenen Ebenen der Handlung – dörfliches wie aristokratisches Umfeld, Dämonisches wie Fantastisches – charakterisierendes Bewegungsmaterial zuzuordnen, das den Einsatz von Pantomime obsolet macht. Blahoutovás choreografische Sprache baut – ähnlich wie die von Šmok – auf der Klassik, die sie aber unforciert und mit leichter Hand einzusetzen weiß. Von den Rollencharakterisierungen sticht neben den Hauptpartien die des Amors hervor. Dabei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass die Interpretin in der am 31. Oktober gesehenen Vorstellung (Lucy McPhail) aus Schottland kommt, daher also anders ausgebildet ist als die meisten anderen Mitglieder des Ensembles, die ganz offensichtlich russisch geschult sind. Des Weiteren hervorzuheben ist, dass die Hauptrollen doppelt besetzt sind, was sich bei der relativ kleinen Kompanie beinahe als Kunststück erweist. In der angesprochenen Vorstellung tanzten Máté Brünn (Schmied) und Johana Březinová (Prinzessin Hyazinthe) das Hauptpaar. Überzeugend Brünn als ein Strebender, der zwischen Macht und Liebe die Balance zu finden hat und sich schließlich für die Liebe entscheidet. In der Titelrolle weiß Březinová sehr gut zwischen den beiden Gefühlszuständen zu unterscheiden, die sie darzustellen hat. Weich und fließend als Liebende, verharrt sie, in der Gewalt des Bösen in einer Art von Schockstarre, eine Verzauberung, die übrigens schon auf Muchas Plakat durch den starren Blick der Prinzessin angedeutet ist. Richard Svoboda (Aratron), Michal Kováč (Zvonimir), František Šourek (Don Panfilio) agierten rollengerecht entweder mit Force oder überspitzter Allüre. Auch die bereits erwähnte Lucy McPhail agiert rollentypisch, pikant, engagiert und ein wenig frech. Maria Gornalova ist eine überaus elegante Herrin auf Trosky und Skály sowie eine souveräne Herrscherin im Hyazinthenreich.
Meist präsent, weil Teil der Dekoration, ist die symbolträchtige Krone der Prinzessin, die sich ebenfalls bereits auf dem Plakat Muchas befindet. Dieses Ballettplakat – wohl dasjenige, das sich am nachhaltigsten im optischen Gedächtnis der Menschheit eingespeichert hat – repräsentiert nicht nur das Werk des tschechischen Künstlers, sondern kennzeichnet darüber hinaus den Geschmack einer weltumspannenden Epoche. Die Krone wiederum lässt an die Legenden und Märchen der Region denken. Ihre Herstellung für das Ballett verweist auf die Nachbarstadt von Liberec, das weltberühmte Gablonz / Jablonec nad Nisou und die dort noch immer angesiedelte Schmuckherstellung.
Der bleibende Wert der Liberecer Produktion des Nedbal-Balletts „Prinzessin Hyazinthe“ ist schnell gesagt: Die konstruktive, für die Beteiligten wie die Zuschauer facettenreiche und positive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist als überregionale Bereicherung der Gegenwart anzusehen. Das kenntnisreiche und überlegte Vorgehen dabei kann als ein Modell für die Zukunft gelten!