Harry Neufeld ist jener – auch weiterhin unvollständigen – Aufstellung von Wiener Tanzschaffenden zuzuzählen, die zu Opfern des Nationalsozialismus wurden. Die Liste (siehe Wiener Tanzgeschichte „Kränze flechten“) umfasst an die hundertfünfzig Tänzerinnen und Tänzer, Choreografinnen und Choreografen. Die dort Genannten waren entweder jüdischer Herkunft oder politisch Verfolgte. Vielen von ihnen gelang die Flucht, manche konnten in anderen Ländern an ihre Wiener Karriere anschließen, einige von ihnen verloren ihr Leben. Sie alle aber waren Teil der so vibrierenden Tanzszene der Zwischenkriegszeit gewesen.
Harry Neufeld war einer von ihnen, sein Name taucht im Zuge der erfolgreichen Volksopernproduktion „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ auf, die am 14. Dezember 2023 ihre Premiere hatte. Auch aus Anlass des 125-jährigen Jubiläums der Volksoper Wien – ursprünglich als Kaiserjubiläums-Stadttheater aufgrund einer Bürgerinitiative als Privattheater entstanden – hatte man sich nun die Aufgabe gestellt, an die Ereignisse von 1938, das heißt also an die Auswirkungen des „Anschlusses“ Österreichs an Deutschland zu erinnern. In dem neuen Stück werden geschickt drei Handlungsebenen ineinandergeschoben. Ausgehend von der 1938 an der Volksoper uraufgeführten Revueoperette „Gruß und Kuss aus der Wachau“ werden sowohl die – damaligen – politischen wie auch privaten Situationsgegebenheiten miteinander verquickt. Die Agierenden sind das ursprüngliche Leadingteam: der Intendant, der Autor, der Librettist, der Dirigent, der Regisseur, der Ausstatter, der Souffleur und der Bühnenmeister. Außer dem Letztgenannten werden alle dem „Judentum“ zugerechnet. Dass in diesem vom jetzigen Autor des Stücks Theu Boermans (er ist gleichzeitig der Regisseur des Abends) zusammengestellten Team ausgerechnet jene fehlen, die für das Musiktheater und seine theatralische Erscheinungsform verantwortlich waren, ist doch etwas überraschend. Nicht anwesend ist also der Komponist von „Gruß und Kuss aus der Wachau“, Jara Beneš, nicht anwesend ist aber auch jener Mann, der sowohl für die vorkommenden Tänze der Aufführung von 1938 verantwortlich war als auch für Bewegungswitz und Zest, die dem Genre der Revueoperette ohne Zweifel zu eigen waren. Wer also in diesem Leadingteam noch fehlt, ist der jüdische Choreograf Harry Neufeld. (Dass der Autor und Regisseur Boermans offenbar Probleme mit Ballett an sich hat, wird im Verlauf des Abends im Text schmerzlich hörbar!)
Während man die Biografien der Autoren von „Gruß und Kuss aus der Wachau“ kennt – mit Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda ist es die Elite der damaligen Librettisten –, ist Neufeld ein – beinahe – unbeschriebenes Blatt. Einiges erfährt man – sie hat also den Choreografen nicht „vergessen“ – von Marie-Theres Arnbom aus ihrem nunmehr in zweiter Auflage erschienenen Buch „‚Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt‘. Aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938“. Dem kann aber auch einiges hinzugefügt werden.
Harry Neufeld – Grotesktänzer, Tanzbuffo, Choreograf, Ballettmeister
Bevor der Versuch gemacht wird, Neufeld anhand der wenigen überlieferten Daten und Fakten ein wenig von den ihm eigenen künstlerischen Tugenden zurückzugeben, sei in gebotener Kürze jener Pool der in der „freien Szene“ agierenden Tänzerinnen und Tänzer beleuchtet, aus dem die Privattheater der Zeit Kräfte für Schauspiel- und Operettenproduktionen und Revuen engagierten. Zuallererst waren da die Mitglieder der zahlreichen Gruppen der Tanzmoderne, die neben eigenen Tanzabenden immer wieder kürzere oder längere Engagements annahmen. Dazu kamen Spezialitätentänzer wie „Boys“ oder „Girls“, die etwa in Cabarets oder Revuen zu sehen waren. Dann wieder gab es Tänzer, die, vielseitig begabt, zu Beginn ihrer Karriere in traditionell geführten Mehrspartentheatern der Provinz engagiert wurden und, dort auftretend, nach und nach ihre darstellerischen Möglichkeiten erweiterten. Dazu kam aber auch das Reservoir der tanzaffinen attraktiven jungen Herren aus „guten“, insbesondere auch jüdischen, oder aristokratischen Häusern, die zeitbedingt nach Arbeit suchten.
Nach seinen Engagements zu schließen, gehörte Neufeld wohl jener Gruppe an, die eine umfassende Ausbildung genossen hatte. Ob der gebürtige Wiener zuerst Tanz, danach Gesang und Schauspiel oder, umgekehrt, zunächst Schauspiel und Gesang und dann Tanz studierte, ist ebenso (noch) ungewiss wie die Ausbildungsstätte, an der dies erfolgte. Doch die Annahme, es könnte sich um die Arnausche Theaterschule gehandelt haben, ist umso berechtigter, als der Tanzunterricht des renommierten Instituts Charakter- und moderne Tänze, Rhythmische Gymnastik, Plastik und Körperästhetik umfasste. Leiterin der Tanzausbildung war die auch für die Volksoper tätig gewesene Ballettmeisterin Rose Palmé.
Neufelds erstes Engagement war offenbar im Sommer 1926 am Kurtheater Bad Ischl, wo er für seine Rolle in dem musikalischen Schwank „Die letzte Jungfrau“ prompt eine mehr als ermutigende Kritik bekam: „Harry Neufeld, eines der jüngsten Tanztalente, studierte ganz auffallend hübsche Tänze ein und trat auch selbst als brillanter Tanzkomiker mit recht angenehmer Stimme auf. Er brachte auch eine Hans Moser-Kopie.“ („Die Bühne“, 3. Jg., H. 93, 19. August 1926)
Neufelds weitere Verpflichtungen zeigen, welche Genre-Besonderheiten er sich sukzessive erarbeitet. 1926/27 scheint er am Stadtthater St. Pölten als Schauspieler und Sänger auf, ein Haus, das schon oft späteren Größen des Metiers als Karriere-Sprungbrett gedient hat. Schon am Städtebundtheater Solothurn-Biel ist er in der Saison 1927/28 als Ballettmeister, Schauspieler und Sänger tätig; 1928/29 wirkt er in ebendiesen Positionen am Stadttheater Troppau in Mährisch-Schlesien. In der Wiener Renaissance-Bühne führt er 1929 in „Juliska“ ein Tanzduo aus, im selben Jahr ist er im Kurtheater Bad Hall Graf Boni in „Die Csárdásfürstin“. In den beiden darauf folgenden Saisonen gehört er in Böhmen dem Stadttheater Brüx an, wo er auf den Regisseur Kurt Heßky trifft, dem er acht Jahre später bei „Gruß und Kuss aus der Wachau“ wiederbegegnen wird. In der Spielzeit 1931/32 enden seine Wanderjahre am Stadtheater Magdeburg. 1932 findet man ihn erstmals in der Volksoper: Für die Uraufführung von „Freut euch des Lebens“, ein Werk „nach“ Nestroys „Einen Jux will er sich machen“, hat Bernard Grün Musik von Johann und Josef Strauß bearbeitet; Neufeld tritt in der Rolle des legendären, für Johann Strauß arbeitenden Tanzmeisters Prof. Rabensteiner in Erscheinung. Der Choreograf der Aufführung ist Curt von Paquet-Léon (vom Großen Schauspielhaus in Berlin). In der Saison 1932/33 gastiert Neufeld im Stadttheater Baden in „Die Blume von Hawaii“ als Jim Boy und in „Tango um Mitternacht“ als Tibor, den Tanzsoubretten ist er ein „bühnengewandter übermütig ausgelassener Partner“.
1935 ist er auch in Wien, im Theater-Varieté Colosseum, als Jim Boy zu sehen und vollzieht noch im selben Jahr mit seinem Engagement als Ballettmeister und Darsteller an das Stadttheater einen weiteren Karriereschritt. Sein Debüt im Haus in der Skodagasse, dessen künstlerischer Leiter der 1933 aus Deutschland geflüchtete Regisseur Theo Bachenheimer ist, gibt Neufeld mit der Einstudierung der Tänze in „Die Försterchristl“. An Rollen folgen John Buffy in „Die Blume von Hawaii“ und der Sigismund in einer Neuinszenierung von „Im weißen Rössl“, Louise Kartousch verkörpert die Rösslwirtin. In den folgenden drei Jahren ist er in seiner Doppelfunktion für mehr als dreißig (!) Produktionen tätig: „Die Csárdásfürstin“, „Der fidele Bauer“, „Das Dreimäderlhaus“, „Gräfin Mariza“, „Der Zigeunerbaron“, „Ball im Savoy“, „Die gold’ne Meisterin“, „Der Zarewitsch“, „Schwarzwaldmädel“, „Die Bajadere“, „Die Zirkusprinzessin“, „Der Bettelstudent“, „Die Faschingsfee“, „Wiener Blut“, „Die Fledermaus“, „Madame Pompadour“, „Der alte Silbergulden“, „Das Land des Lächelns“, „Der Vogelhändler“, „Der Orlow“, „Hoheit tanzt Walzer“, „Polenblut“, „Sissy“, „Der Tanz ins Glück“, „Das Hollandweibchen“, „Die Geisha“, „Die lustige Witwe“, „Friederike“, „Die Herzogin von Chicago“, „Das Musikantenmädel“, „Das kleine Café“ und „Die schöne Helena“ in der Reinhardt/Korngold-Fassung. Eine zweimonatige Tournee des Stadttheaters führt 1936 nach Athen, Konstantinopel und Kairo. Aus der Fülle von lobpreisenden Kritiken, die Neufeld zuteil wurden, sei aus jener zitiert, die sich auf seine Darstellung des Lutz Nachtigall und die Choreografie in „Der lachende Ehemann“ bezieht: „(…) Schon die Type war ganz ausgezeichnet, und Klavierspiel, Tanzkunst (und letztere ganz besonders) stehen auf gleicher Höhe mit den Einfällen, die Neufeld für die Gesamtdarbietungen auf dem Gebiet des Tanzes hatte.“ („Kleine Volks-Zeitung“, 3. März 1936)
Wiederholt steht Neufeld im Stadttheater mit einer Kollegin auf der Bühne, die als frühes Opfer des NS-Regimes anzusehen ist: die Wiener Tanzsoubrette Heidi Eisler. 1933 war sie während eines Engagements an der Berliner „Plaza“ wegen angeblicher politisch abfälliger Äußerungen bei einer Probe zu „Zigeunerliebe“ von der Gestapo von der Bühne weg verhaftet worden. Man warf ihr vor, sie hätte im Theater erklärt, die Nazis haben den Reichstag angezündet. Sieben Monate verbrachte sie in Untersuchungshaft, ehe sich herausstellte, dass die Anklage auf Verleumdungen beruhte (in Österreich kursierten Gerüchte von Überstellung der Künstlerin in ein KZ und Selbstmord). Eisler wurde aus dem Gefängnis entlassen und außer Landes gebracht. Man wusste also Bescheid …
Zunächst konnte Eisler in Wien ihre Karriere fortsetzen. 1938 flüchtete sie nach Argentinien, ihr Vater Max Eisler wurde deportiert und ermordet. In den Fünfzigerjahren kehrte sie nach Europa zurück, sie starb in den Niederlanden.
Mit seinen Arbeiten für das Wiener Stadttheater hat sich der nunmehr 30-jährige Choreograf Neufeld einen Platz in der ersten Reihe der Revueoperetten-Spezialisten erobert, für „Gruß und Kuss aus der Wachau“ (Uraufführung am 17. Februar 1938) kehrt er zurück an die Volksoper, diesmal als Choreograf für die von Alexander Kowalewsky, dem Gastspieldirektor der Volksoper, zusammengestellte Tanzgruppe. „Das Wiener Tagblatt“ (18. Februar 1938) findet für Neufeld anerkennende Worte, er habe „mannigfache originelle Tänze“ erfunden.
Die letzte Wiener Arbeit des vielseitigen Künstlers scheint am 5. März 1938 seine Inszenierung der Sportrevue „Hakoah-Melodie 1938“ im Sophiensaal gewesen zu sein. Die Spurensuche von Marie-Theres Arnbom ergab, dass Neufeld über die Schweiz und Belgien nach Brasilien flüchtete. Nur spärliche Informationen über Neufelds Mitwirkung am Teatro Independente Europeo in Rio de Janeiro konnten gefunden werden, Harry Neufelds weiteres Schicksal liegt im Dunkeln. „Und doch bleibt die Hoffnung“, so die Autorin, „dass sich jemand an diesen kreativen Künstler erinnert.“
Ballett als Fußabstreifer?
Aber kehren wir wieder zu dem jetzigen in der Volksoper gezeigten Stück „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“ und seinem Autor zurück. Dieser ist offenbar der Überzeugung, dass der Choreograf nicht dem Leadingteam einer musiktheatralischen Produktion angehört. Aber nicht nur das. Im Verlauf des Stücks kommt es, wie schon angedeutet, zu einer denkwürdigen Situation. Man könne, so wird hörbar, im Moment nicht weiterprobieren, da das Ballett nicht anwesend sei. Es befinde sich nämlich auf dem Heldenplatz! Womit gemeint ist, das Ballett juble dort dem in Wien eingezogenen Hitler zu.
Dazu nun die Frage nach der Quelle für diese Aussage: Wer von den Tänzerinnen, wer von den Tänzern war auf dem Heldenplatz? Um es dem Autor zu erleichtern, diese zu benennen, seien sie einzeln vorgestellt. Die Tanzgruppe des jüdischen Gastspieldirektors Kowalewsky umfasste 1937/38 25 Damen und 9 Herren. Es waren dies: Hedwig Baczynski, Lisl Beer, Maria Beschorner, Ilse Cap, Maria (Mary) Doppler, Martha Feix, Ria Gerhart, Marion Heinlein, Irma Herlitz, Jutta Hübsch, Johanna Ihanic, Maria Kieslich, Karoline (Karla) Kuna, Margarete Müller, Edith Plaschil, Stefanie (Steffi) Preisinger, Maria Pucher, Erika Rochata, Hildegard (Hilde) Ropp, Maria Seehofer, Leopoldine Smarda, Maria Sommer, Otti Walz, Else Weiß, Josefine Wichert; Hans Bräuer, Otto Gottsberger, Karl Grobauer, Stefan Kainz, Josef Nordegg, Raimund Rolt, Erich Sprung, Leo Wetzelhofer, Franz Zentner. Tanzmeisterin war Ady Kühn.
Wer von den Damen oder Herren – lieber Autor der jetzigen Volksopernproduktion – war nun tatsächlich am Heldenplatz? Anders gefragt: Was motiviert einen Autor, solche Behauptungen anzustellen? Soll die Textstelle ein Gag sein? Oder lässt die reiche Erfahrung des Theatermannes mit der Körperschaft Ballett diesen Schluss zu?
Man habe, so ein Ausspruch des Autors im Programmheft der Aufführung, über die Ereignisse im Wien des Jahres 1938 viel zu lange geschwiegen. Lässt sich aus der Aufarbeitung dieser Ereignisse schließen, das Ballett – einzeln oder gar en bloc – sei auf dem Heldenplatz gewesen?