Die Ankündigung der Versteigerung von Gustav Klimts Gemälde „Bildnis Fräulein Lieser“ (1917) am 24. April 2024 durch das Wiener Auktionshaus im Kinsky hat den Namen der Wiener Tänzerin Annie Lieser ins Spiel gebracht. Doch bis dato ist es ungewiss, wen das Bild eigentlich darstellt: Annie Lieser (1901–1972), ihre Schwester Helene Lieser (1898–1962) oder beider Cousine Margarethe Constanze Lieser (1899–1965). Wer immer es gewesen sein mag, die als Sensation gewertete Sonderauktion lenkt Aufmerksamkeit auf die moderne Tänzerin Lieser, die vielfach als „Schülerin von Grete Wiesenthal“ bezeichnet wird.
Der guten Ordnung halber sei darauf hingewiesen, dass Annie Lieser, Tochter von Henriette Amalie (Lilly) und Justus Lieser, zwar Wiesenthal-Schülerin war, jedoch nicht durch Grete, sondern durch Elsa und Berta Wiesenthal in deren seit 1912 im Palais Modena existierender Schule ausgebildet wurde. Grete Wiesenthal hat erst seit 1919 in ihrer eigenen Schule in der Huleschgasse 2 (Hohe Warte) Unterricht erteilt. Einem Zeitungsbericht zufolge soll Annie Lieser im Kindesalter von ihrer Mutter an die 1904 in Berlin-Grunewald gegründete Duncan-Schule gebracht worden sein. Ein durchaus nachvollziehbarer Schritt, war doch aufgrund der enormen Strahlkraft des Namens Isadora Duncan dieses Institut die erste Adresse für Erziehung am Beginn der Tanzmoderne. Ihren ersten Unterricht in Wien erhielt Annie Lieser durch die englische Tanzlehrerin Fanny Fearn in deren 1909 eröffneter Schule in der Gußhausstraße 16. Ein Auftritt im Kursalon im Stadtpark der knapp zehnjährigen Fearn-Schülerin im Rahmen eines Kinderballs fand in der Presse Erwähnung. Annie Liesers eigentliches Debüt erfolgte 1915 in der Wiener Urania im Rahmen eines Tanzabends von Elsa und Berta Wiesenthal. Von Elsa Wiesenthal darin geschult, sich selbst in schöpferischen Entwürfen zu versuchen, hatte sie mit einer weiteren Wiesenthal-Schwester, ihrer Mitschülerin Marta Wiesenthal, für diesen Anlass einen Tanz zu Musik aus Schumanns „Carnaval“ erarbeitet.
Ihren ersten eigenen, als gesellschaftliches Ereignis inszenierten Tanzabend gab Annie Lieser 1920 im Wiener Konzerthaus, wobei sie – höchst ungewöhnlich für Auftritte einer modernen Tänzerin – von einem Symphonieorchester begleitet wurde. Dirigent der Aufführung war Oskar Fried. In einer dramaturgisch neuen und anspruchsvollen Gestaltung eines Tanzabends wanden sich zwischen den von Lieser zu Kompositionen von Grieg, Glasunow, Sibelius, Scharwenka, Tschaikowski und Johann Strauß Sohn ausgeführten Soli bandartig als Interludien Sätze aus Bizets „L’Arlésienne-Suiten“. Während Joseph Roth sich in seiner Betrachtung im „Neuen Tag“ (29. Februar 1920) über das Gepräge des Abends mokierte – „Ein Herr, der hinter mir saß, sagte zu seiner Nachbarin: ‚Der Abend kostet eine Menge Geld! Sie ist reich! Zwanzig Millionen!‘ Ich hörte drei Ausrufungszeichen“ –, stellte Alfons Török, ein Kenner des Metiers, im „Merker“ (15. März 1920) fest: „Bei dieser jungen Tänzerin ist das Primäre der Ausdruck, die Unmittelbarkeit der Umsetzung des Klangeindrucks in das Bewegungsphänomen, und zwar vornehmlich in ornamentaler Weise anerkennenswert und weiters ihre herbe, konventionslose Art zu tanzen.“ Noch im selben Jahr erfolgte mit einem Tanzabend im Berliner Blüthner-Saal ihr erstes Auslandsgastspiel. Bis Ende der Zwanzigerjahre lassen sich weitere Auftritte Annie Liesers feststellen: in Wien im Konzerthaus, in der Volksoper, im Burgtheater, in der Komödie und bei Gastspielen in mehreren europäischen Ländern. 1938 flüchtete Annie Lieser in die USA, sie starb in Beverly Hills.
Sollte es sich herausstellen, dass es sich bei der Porträtierten tatsächlich um Annie Lieser handelt, mag es für die neuen BesitzerInnen des Bildes von Interesse sein, dass der auch von Klimt gezeichnete Wazlaw Nijinski anlässlich eines Aufenthalts in Wien zu Beginn des Jahres 1916 auf die junge Tänzerin aufmerksam gemacht wurde und ihr eine für Lieser allerdings nicht ermutigende Lektion erteilt haben soll. Da über Unterrichtstätigkeit Nijinskis bisher nichts bekannt wurde, ist Annie Lieser womöglich, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, die einzige „Schülerin“ des großen Tänzers gewesen. Zu einem weiteren Kontakt Liesers mit der Familie Nijinski kam es 1920 als sie gemeinsam mit Alexander Kotschetowski, dem Ehemann von Bronislawa Nijinska, im Konzerthaus auftrat.
So viel zur Tänzerin Annie Lieser. Viel mehr spricht jedoch dafür, dass Klimts „Fräulein Lieser“ Helene Lieser ist, die um drei Jahre ältere Schwester von Annie. Abgesehen davon, dass es schwer vorstellbar ist, dass die (mögliche) Auftraggeberin Lilly Lieser zuerst die jüngere ihrer beiden Töchter von Klimt porträtieren ließ (ein vielleicht für einen späteren Zeitpunkt ins Auge gefasstes Porträt der aufstrebenden Tänzerin Annie konnte freilich nicht mehr zustande kommen – Klimt starb im Februar 1918). Das am 4. Juli 1920 in der „Wiener Illustrierten Zeitung“ veröffentlichte Foto der „ersten Doktorin der Staatswissenschaften“ Helene Lieser weist jedenfalls frappante Ähnlichkeit mit der auf Klimts Gemälde Dargestellten auf.
Klimts „Freundinnen I (Die Schwestern)“ zwei Schwestern Wiesenthal?
„Fräulein Lieser“ ist aber nicht das einzige Gemälde von Klimt, das mit der Wiener Tanzmoderne in Verbindung gebracht wird. Auch zu seinem Bildnis „Freundinnen I (Die Schwestern)“ gibt es – allerdings nur schwer nachvollziehbare – Vermutungen, die in diese Richtung zielen. Die Annahme, Grete Wiesenthal und eine ihrer Schwestern könnten Klimt zu dem am Attersee fertiggestellten Gemälde inspiriert haben, steht in völligem Widerspruch zu der fast dämonischen, in jedem Fall aber mondänen Ausstrahlung der Abgebildeten und dem traumhaften Ernst jener urbanen Volkstümlichkeit, die die Schwestern mit ihrem neuen Tanzstil vertraten.
Wenn dem aber doch so sein sollte, käme in diesem Fall nur Elsa Wiesenthal als zweite Abgebildete infrage (Grete hatte fünf Schwestern). Das angeführte Argument, Klimt habe die Schwestern Wiesenthal durch ihre Auftritte im Wiener Kabarett „Fledermaus“ im Jänner 1908 gekannt – laut der Veröffentlichung „Kabarett Fledermaus 1907 bis 1913“ (2008) soll Klimt zu den zur Generalprobe (14. Jänner) der Tanzvorführung eingeladenen Künstlern gezählt haben – ist allerdings nicht stichhaltig, da das Gemälde bereits im Sommer 1907 fertiggestellt war und schon im September 1907 in der Wiener Galerie Miethke in der Dorotheergasse ausgestellt wurde. Über Begegnungen zwischen dem Maler und den Tänzerinnen vor 1908 ist jedoch nichts bekannt. Wäre Klimt bei einer der Privatvorstellungen der Schwestern im Atelier des gesellschaftlich gut vernetzten Malers Rudolf Huber 1906/07 zugegen gewesen, hätte es Huber zweifellos in seinem Buch „Die Schwestern Wiesenthal“ (1934) festgehalten. Der Ehemann von Elsa Wiesenthal erwähnt jedoch nur Besuche von Hugo von Hofmannsthal, Alfred Roller, Josef Hoffmann und Bruno Walter. Hubers Atelier in der Taubstummengasse 2 war der Ort des Ausprobierens des neuen tänzerischen Stils der Schwestern Wiesenthal, die genannten Persönlichkeiten waren gekommen, um das „Neue“ zu begutachten. Am 16. Jänner 1908 erfolgte mit triumphalem Erfolg das erste öffentliche Auftreten der Wiesenthals in der „Fledermaus“, schon drei Tage später führten sie auf Einladung des „Concordia“-Klubs ihre „Kunsttänze“ auf einem von Spitzenkräften der führenden Wiener Bühnen bestrittenen Gesellschaftsabend im Hotel Continental vor.
Persönliche Annäherungen zwischen Klimt und den Wiesenthals dürfte es ab Juni 1908 gegeben haben. In diesem Jahr nämlich traten die Schwestern wiederholt in Pantomimen im Gartentheater der von Klimt initiierten „Kunstschau“ auf. Uraufgeführt wurden „Der silberne Schleier“ von Max Mell und „Der Geburtstag der Infantin“ nach Oscar Wilde. Dazu kam als Wiederaufnahme „Die Tänzerin und die Marionette“ von Mell, eine Pantomime, die erstmals 1907 in Weigl’s Dreherpark, bei einem Gartenfest, gegeben wurde. Nebstbei: Die angedachte Mitwirkung von Grete und Elsa Wiesenthal bei der Kunstschau 1909 in Julius Bittners Tanzspiel „Der Mantel der Liebe“ kam wegen anderweitiger Verpflichtungen nicht zustande (die Hauptrollen übernahmen Miss Macara und Lene Jamrich).
Mittlerweile – ab Februar 1908 – hatte Hofmannsthal, der zu Grete Wiesenthals „ständigem Begleiter“ in Sachen Tanz wurde, den Schwestern ein Engagement bei Max Reinhardt in Berlin vermittelt, der Beginn des ersten Kapitels ihrer Geschichte als Freie Tänzerinnen, die, so die Meinung Maßgeblicher der Zeit, in Wien Tanz zur Kunst erhoben haben, war geschrieben. Zu den Wiesenthals siehe: Gabriele Brandstetter, Gunhild Oberzaucher-Schüller (Hg.), „Mundart der Wiener Moderne. Der Tanz der Grete Wiesenthal“, K. Kieser Verlag, München 2009.
Überraschendes von Arnulf Rainer in einer seiner Tanz-Übermalungen
Begegnungen von Bildender Kunst und Tanz bergen mitunter Überraschendes. So etwa die mit 1994 datierte, kürzlich in Wien zur Versteigerung gelangte Bleistift-Übermalung einer Lithografie der Tänzerin der Pariser Opéra Constance Gosselin (auch bekannt als Madame Anatole) von Arnulf Rainer, die durch eine von Hand hinzugefügte Zuschreibung als „Fanny Elsler“ bezeichnet ist. Constance Gosselin (nicht zu verwechseln mit ihrer früh verstorbenen älteren Schwester Geneviève, als deren Reinkarnation Jahre später Marie Taglioni, die Rivalin von Fanny Elßler, angesehen wurde) ist auf besagter Lithografie aus dem Jahr 1817 in einer Ballettszene der Spontini-Oper „Fernand Cortez“ abgebildet. Fanny Elßler war zu diesem Zeitpunkt erst sieben Jahre alt.
PS
Klimts „Bildnis Fräulein Lieser“ wurde am 24. April 2024 um 30 Millionen Euro ersteigert. Das ist der höchste Preis, der in Österreich jemals in einer Auktion für ein Kunstwerk erzielt wurde.