Die Latte lag hoch. Denn die Uraufführung der Josephs Legende aus dem Jahr 1977* war eines der Highlights in der Geschichte des Wiener Staats(opern)balletts. Doch Choreograf John Neumeier hat nicht nur Kürzungen und Änderungen vorgenommen sowie die Ausstattung modernisiert. Mit Rebecca Horner als Potiphars Weib und Denys Cherevytchko als Joseph ist auch eine heutige Interpretation des Bibelstoffes gelungen. Und so wurde die Wiederaufnahme der „Josephs Legende“- zusammen mit der Premiere von „Verklungene Feste“ – erneut zu einem Höhepunkt des Wiener Staatsballetts.
Die Musik von Richard Strauss steht über diesem Abend. „Verklungene Feste“ ist ein Werk aus dem Jahr 1941. Die darin enthaltenen Tänze aus der Barockzeit (die in der Originalfassung von Pino Mlakar auch choreografisch nachempfunden wurde) werden in der Interpretation von John Neumeier zum Fanal einer untergehenden Epoche, die sich auf das Entstehungsjahr bezieht. Nach einem Fest bleibt ein Paar zurück. Der Mann (Vladimir Shishov) sitzt in Katerstimmung auf einem Stuhl. Seine Frau (Maria Yakovleva) ist am Tisch eingeschlafen und erwacht nun langsam, richtet die umgefallenen Sektgläser auf, stellt den Sessel wieder auf die Beine. Mit ihrem Partner lässt sie das verklungene Fest Revue passieren. Noch sind die Paare sehr verspielt und ausgelassen (besonders Liudmila Konolvalova und Davide Dato sowie Kiyoko Hashimoto und Masayu Kimoto), doch schon bald schleicht sich eine Vorahnung auf das Unheil ein. Irina Tsymbal legt den Arm um Mihail Sosnovshi, der sich geisterhaft aus der Umarmung windet. Als er zurückkommt, hat er das Abendsakko gegen eine Uniform getauscht – und scheint insgesamt ein anderer geworden zu sein. Eszter Ledán geht wie ein Unheilskünder von Mann zu Mann. Sie sucht ihren Partner, doch auch Robert Gabdullin hat nun die Uniform angezogen. Die Feierstimmung ist gewichen, Trauer und Abschied sind an ihre Stelle getreten, doch die jungen Männer scheinen auch in ihren Uniformen noch voller Euphorie. Bis ein Soldat liegen bleibt. Betreten ziehen sich die SolistInnen zurück, bis die Wand sie stoppt und sie zu einem Bild des erkennenden Entsetzens erstarren.
Es dauerte einige Augenblicke, bis das Publikum bei dieser Premiere applaudiert, denn John Neumeier ist mit dieser Choreografie ein prägnantes und ausdrucksstarkes Bild gelungen, das mit seinen ausdrucksstarken Pas de deux und Gruppentänzen den Betrachter in die emotionale Widersprüchlichkeit jener Zeit hineinzieht - brilliant umgesetzt vom Wiener Staatsballett.
Auch bei der darauf folgenden „Josephs Legende“ zeigen die Wiener TänzerInnen eine expressive Reife, die man zuvor bei ihnen so noch nicht entdecken konnte. Rebecca Horner und Denis Cherevychko scheinen von der Zusammenarbeit mit dem Chef des Hamburg Balletts besonders profitiert zu haben. Dieser Joseph ist eine Lichtgestalt (Potiphar hat ihn von seinen gewalttätigen Entführern à la IS als Sklave gekauft). Wer ihn sieht, erliegt seinem Charme, seien das die Gäste auf Potiphars Fest, Gastgeber Potiphar (Roman Lázik) selbst oder seine Frau, die zuvor ihre ungebremste Wut wie ein wild gewordenes Pferd in den Raum und gegen ihren Ehemann geschleudert hat. Geschickt setzt die Choreografie die Aktionen der SolistInnen vor den Gruppentableaus der Festgäste in Szene – etwa wie Joseph die Zuneigung seines neuen Besitzers gewinnt oder seine Anziehung auf Potiphars Weib (die in der Bibel keinen Namen hat). Im Pas de deux mit dem Engel (noch etwas steif: Kirill Kourlaev), der schützend über Joseph wacht, verkörpert Cherevychko die Sinnlichkeit eines Heranwachsenden – unschuldig und doch selbstbewusst. Als sich Potiphars Weib zu seiner Schlafstelle aufmacht um ihn zu verführen, scheint sie von dem jungen Mann nicht nur sexuell angezogen zu sein. Will sie nicht auch einen Machtkampf mit ihrem offenbar ungeliebten Mann provozieren? Rebecca Horner lässt romantische Gefühle jedenfalls gar nicht erst hochkommen. Sie will Joseph – und Rache. Beides sucht sie nicht mit weiblicher Verführungskunst, sondern mit durchgreifender Angriffslust erreichen zu wollen. Joseph widersteht ihren Avancen, wird jedoch vom Ehemann in einer zweideutigen Situation mit dessen Frau ertappt. In ihrem gekränkten Stolz erklärt sie, dass Joseph sich an sie herangemacht hätte, worauf Potiphar den Sklaven zur Strafe seinen Häschern übergibt. Erst als der junge Mann halbtot geschlagen auf dem Boden liegt, folgt Potiphars Weib der Eingebung des Engels. Mit ungeheurer Wucht stößt sie die Männer weg und macht den Weg für Josephs Rettung frei. Am Ende bleibt sie verwirrt, doch scheinbar geläutert zurück. Lang anhaltender Jubel für diese großartige Interpretation der biblischen Sage.
„Verklungene Feste“ hatte ebenso wie die Neufassung der „Josephs Legende“ 2008 in Hamburg Premiere. Für beide Werke schuf Albert Kriemler – Akris die einfachen und geschmackvollen Kostüme. Neumeier zeichnete nicht nur die Choreografie verantwortlich, sondern konzipierte auch das Bühnenbild und das stimmige Lichtdesign, das die „Josephs Legende“ in helles Licht taucht und die Bewegungen und den Ausdruck der TänzerInnen ganz nahe ans Publikum bringt. Im Dirigenten Mikko Franck fand der Meister einen kongenialen musikalischen Partner, der die Musik von Richard Strauss in all ihren Facetten zum Klingen bringt.
Wiener Staatsballett: „Verklungene Feste“, „Josephs Legende“, Premiere am 4. Februar 2015 in der Wiener Staatsoper, weiter Vorstellungen in dieser Besetzung: 5. und 14. Februar, mit alternierender Besetzung: 8. und 9. Besetzung
*Die Besetzung der Uraufführung von John Neumeiers "Joseph Legende" im Februar 1977 an der Wiener Staatsoper lautete: Kevin Haigen als Joseph (er war auch an der jetzigen Wiener Einstudierung beteiligt), Judith Jamison als Potiphars Weib und Karl Musil als Engel.