Mauro Bigonzetti, ehemaliger Leiter des wegweisenden „Aterballetto“ und Xing Peng Wang, der in seiner Zeit als Ballettdirektor am Dortmunder Theater, mehr als 40 verschiedene Produktionen für das Ensemble kreierte, verbindet eine langjährige Freundschaft. Bigonzetti war bereits mit vier Produktionen in Dortmund vertreten. Vier Jahre nach der Premiere mit „Gauthier Dance“ am Theaterhaus in Stuttgart präsentiert das Theater Dortmund nun Bigonzettis gefeierte Kreation „Alice“. Eine Fotoreportage von Ingo Schäfer.
„Nichts ist sicher - weder in uns drin noch um uns herum.“ äußert sich der Choreograph über seine Version auf Basis der Romane „Alice’s Adventures in Wonderland“ und „Through the Looking-Glass, and What Alice Found There“ von Lewis Caroll. Am literarischen Stoff interessieren ihn vor allem die dunklen, beunruhigenden und abgründigen Seiten, jene Untiefen in die Alice auf ihrem Weg durch jene verdrehte, scheinbar auf den Kopf gestellte Traumwelt, gerät. Es sind bizarre, archaisch anmutende Wesen, denen sie dort begegnet und die in Frage stellen was in ihrer vertrauten, sich immer weiter entfernenden, Kinderwelt noch selbstverständlich schien.
Das Ergebnis ist ein fantastisches Coming-of-age Ballett in der abgründigen (Alb-)traumwelt dess Mauro Bigonzetti zur Original- und Livemusik von Antongiulio Galeandro, ASSURD und Enza Pagliara.
„Alles ist möglich in diesen Geschichten, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt“ sagt Mauro Bigonzetti und nutzt den Stoff der Alice Geschichte, um seine ganz eigene Version zu schaffen. Alle wichtigen Elemente der Story sind im Ballett enthalten, aber was er daraus macht ist etwas anderes. Die Erzählung tritt in den Hintergrund, vielmehr sind es die bizarren Charaktere aus Lewis Carrolls Traumwelt, die die Hauptimpulse setzen und auf der Bühne zum Leben erweckt werden.
Es sind die verstörend irrationalen Abgründe der Carollschen Traumwelt, die Bigonzetti faszinieren. Kein verharmlosendes Disney Wunderland sondern eine bedrohliche Welt, in der weder Regeln noch Gesetze Gültigkeit zu haben scheinen. Und im Gegenüber mit den fremdartigen, grotesken und bisweilen bedrohlichen Gestalten dieser archaisch anmutenden Welt, begegnet Alice immer wieder ihrem kindlichen bzw. erwachsen gewordenen Selbst. Den verwirrenden und unsicheren Weg vom Kind zur Frau erlebt die junge Alice als ständigen inneren Konflikt. Bigonzetti besetzt diese beiden miteinander ringenden Teile ihrer heranreifenden Persönlichkeit mit zwei Alice Darstellerinnen und erweitert damit den kreativen Freiraume für seine ganz persönliche Interpretation der „Alice“.
Anfänglich scheinen die junge und die erwachsene Alice noch unzertrennlich, weitgehend tänzerisch synchron und nur zögerlich erste Schritte nehmend in diese ebenso verführerische wie bedrohlich scheinende Welt. Von jugendlicher Neugierde getrieben, lässt sich Alice allmählich ein auf das laszive, animalische Werben des Katers. Ida Anelli Kallanvaara und Giuseppe Ragona zeigen in diesem anspruchsvollen Duett nicht nur Tanz auf hohem technischen Niveau, sondern überzeugen gleichermaßen auf schauspielerischer Ebene, indem sie die Charaktere Lewis Carolls mit Leben zu füllen wissen.
Die international als Kostüm- und Bühnenbildnerin für zeitgenössisches Ballett, Film, Schauspiel und Musiktheater etablierte Helena de Medeiros entwarf die fantasievolle Kostümausstattung für „Alice“. Neben ihrer Arbeit als Kostümbildnerin ist die gebürtige Portugiesin auch als bildende Künstlerin tätig. Ein Teil ihrer großformatigen Gemälde ist im Opernfoyer des Dortmunder Theaters ausgestellt.
Hervorragende tänzerische, wie schauspielerische Leistung zeigt Ida Anelli Kallanvaara als junge Alice. „You have to stay in character!“ verrät sie im Interview, auf die besonderen Herausforderungen ihrer Rolle angesprochen. Sie berichtet von der ganz persönlichen Auseinandersetzung des Tänzers mit seiner Rolle und wie wichtig es ist, diesen Part mit Leben zu füllen und sich zu eigen zu machen.
Dustin True liefert eine herausragende tänzerische Leistung in seiner Verkörperung der Raupe. Gleichermaßen athletisch wie schlangenhaft sind die fließenden Bewegungen mit denen er die Aufmerksamkeit der jungen Alice auf sich zieht. Erst ängstlich zögernd, dann zunehmend neugierig lässt sich Alice auf seinen verführerischen Tanz ein. Es folgt ein Pas de Deux in dem beide Tänzer in einer ebenso anspruchsvollen wie gewagten Choreografie über sich hinauswachsen.
Ida Anelli Kallanvaara tanzte zuvor im Nussknacker gemeinsam mit Dustin True. Sie konnten ihre starke tänzerische Verbindung und gemeinsame Energie im erneuten Aufeinandertreffen als Alice und Raupe weiterentwickeln. Der Pas de Deux mit Dustin True sei ihr Lieblingspart teilt sie im Interview mit und schwärmt von der Intensität und Emotionalität ihres Duetts.
Drei Tage vor der Premiere passierte, was leider auch zum Alltag eines Ballettensembles gehört. Jana Nenadović, in der Rolle der erwachsenen Alice, verletzt sich bei der Hauptprobe. Sie wurde als einzige aus dem von Xin Peng Wang 2014 gegründeten Juniorballetts Nordrhein-Westfalen ausgewählt und es sollte ihre erste große Rolle sein. Anna Süheyla Harms, Erste Solistin der Gauthier Dance Company in Stuttgart und bereits vertraut mit der Rolle, konnte aushelfen und übernahm kurzerhand den Part der erwachsenen Alice.
Giacomo Altovino, das Kaninchen, hier bei einer seiner großartige tänzerische Einlagen, ist eine zentrale Figur in Bigonzettis Kreation. Im Verlauf der Geschichte ist er es, der Alice beisteht und wie ein Dirigent die anderen Kreaturen jener bizarren Welt tanzen lässt und selbst der Herzkönigin, die hier gar nicht so mächtig ist, wie man es erwarten würde, mit seinem Zauber Einhalt zu gebieten weiß.
Das von Giuseppe Ragona (Kater) und Denise Chiarioni (Katze) brilliant dargebotene Duett stellt einen weiteren Höhepunkt in der technisch anspruchsvollen Choreografie dar. Die mittlerweile regelmäßigen Begegnungen mit einem Choreografen wie Mauro Bigonzetti sind ein Glücksfall für eine Compagnie wie das Dortmunder Ballett Ensemble, das unter der Leitung ihres Choreografen Xing Peng Wang ihr hohes künstlerisches Niveau entfalten konnte. In den Choreografien des italienischen Starchoreografen betreten die Tänzer ständig neues Terrain und erweitern ihre künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten.
Wie bereits in „Cantata“ geschehen, arbeitet Bigonzetti bei „Alice“ wieder mit der italienischen Musikgruppe ASSURD. Deren auf traditionellen süditalienischen Liedern und Tänzen basierende Musik bildet einen eigenwilligen Kontrast zu einer Geschichte, die im viktorianischen England beheimatet ist. Die drei Musikerinnen von ASSURD, erweitert durch die Sängerin Enza Pagliara und den Akkordeonvirtuosen Antongiulio Galeandro agieren live musizierend und singend mit dem Ballettensemble auf der Bühne. Die musikalische Qualität der rhythmisch vielschichtigen Kompositionen bewegt sich dabei stets auf hohem Niveau und ist für sich genommen ein Hörgenuss. „The music brings us to a whole other level. What the musicians give us is so much and you want to give it back in a way of moving. To live up to their songs we really have to push it“, sagt Ida Anelli Kallanvaara
Imposante computeranimierte Projektionen und Animationen von Carlo Cerri und OOOPStudio schaffen virtuelle Räume einer gleichermaßen fantastischen wie verwirrend schönen Traumwelt. Bigonzettis „Alice“ präsentiert von Xing Peng Wang und dem Dortmunder Ballett Ensemble, welches sich hier in Höchstform zeigt, ist in tänzerischer, musikalischer und nicht zuletzt optischer Hinsicht ganz großes Theater und für jene, die bereit sind sich der Magie dieser surrealen Traumbilder und Assoziationen hinzugeben, unbedingt sehenswert.
Ballett des Theater Dortmund: „Alice“, Premiere am 10. Februar 2018. Weitere Vorstellungen: 31. März; 19., 21., 27. April; 4., 19. Mai; 2., 22., 27. Juni 2018 im Theater Dortmund