Gil Romans „Tous les hommes presque toujours s’imaginent“. Maurice Béjart (1927-2007) gilt als einer der großen Choreografen des 20. Jahrhunderts und als Erneuerer des Balletts. Das legendäre Béjart Ballet Lausanne, heute unter der Leitung von Gil Roman und bestehend aus 42 Tänzerinnen und Tänzern aus 17 Nationen, begeistert weiterhin auf ausgedehnten Tourneen Tanzliebhaber auf der ganzen Welt.
Seit Maurice Béjart 2007 seinen ehemaligen Startänzer und Stellvertreter zu seinem Nachfolger ernannte, leitet Gil Roman die Compagnie in Lausanne mit ungebrochenem Erfolg.
1979, im Alter von 19 Jahren, beginnt Gil Romans Laufbahn im seinerzeit ebenso populären wie als ausgesprochen innovativ geltenden Ensemble von Maurice Béjart, dem Ballet du XXe Siècle. 1987 zieht er gemeinsam mit der Compagnie von Brüssel zum heutigen Stammsitz am Chemin de Presbytère in Lausanne.
Auch zwölf Jahre nach Maurice Béjarts Tod bildet das choreografische Werk des großen Innovators den Kern des Repertoires der Compagnie. Als künstlerischer Leiter pflegt Gil Roman das künstlerische Erbe Maurice Béjarts und hat so manches Werk, das mit der Zeit aus dem Repertoire verschwand, wiederbelebt, mit Bedacht rekonstruiert und erneut auf die Bühne gebracht. Seit 1995 kreiert Gil Roman eigene Choreografien mit denen er das Repertoire des Béjart Ballet Lausanne bereichert und stetig weiterentwickelt.
Der bereits lange im Voraus ausverkaufte Premiere seiner neuesten Kreationen fand nun am 5. April in der Opéra de Lausanne statt. „Tous les hommes presque toujours s’imaginent“ ist das Resultat einer Zusammenarbeit zwischen dem Choreografen Gil Roman und dem US-amerikanischen Komponisten, Multiinstrumentalisten und Bandleader John Zorn.
Ein musikalisch-tänzerischer Austausch
John Zorn gilt neben Bill Laswell, Fred Frith, Arto Lindsay und Anton Fier als einer der führenden Köpfe und Integrationsgestalt des amerikanischen Avantgarde Jazz. In den 1980er Jahren geht John Zorn musikalisch völlig neue Wege und erlangt mit Avantgarde-Alben wie "The Big Gundown" und "Spillane" weltweite Anerkennung und Popularität. Beeinflusst von Ornette Coleman und Karlheinz Stockhausen bedient sich Zorn unterschiedlicher musikalischer Stile und schaffte Klangcollagen in denen Neue Musik und Freejazz auf Filmmusik, Hörspielsequenzen und Geräuschcollagen treffen.
In den 1990ern bekennt sich John Zorn musikalisch zu seinen jüdischen Wurzeln. Seit dieser Zeit entstehen unter dem Projektnamen „Masada“ Kompositionen in denen Zorn Avantgarde-Jazz- und Klezmer-Elemente miteinander verschmelzen lässt. Aus dem Antrieb, eine neue und radikale Form jüdischer Musik zu schaffen, entsteht eine Vielzahl von Alben, die Zorn mit unterschiedlichen Formationen, von den 1990er bis in die Gegenwart, eingespielt hat.
Seit den ersten Einspielungen aus den 1980er Jahren faszinierten Gil Roman die Unvorhersehbarkeit in Zorns Kompositionen. "If you think you understand what happens musically, then John Zorn changes direction and does something completely different. Zorn is unpredictable in what he does, that makes his music so fascinating. There is always this element of surprise“, sagt er. Im Januar 2016 kommt es endlich zu einem Treffen und einem konstruktiven Austausch. Beide teilen das tiefe und leidenschaftliche Bedürfniss die Grenzen der Kunst immer weiter auszudehnen.
In „Tous les hommes presque toujours s’imaginent“ verwendet Roman zum überwiegenden Teil Kompositionen aus dem vor 25 Jahren begonnenen Masada Project. In Zorns „Book of Angels“ findet er jene Möglichkeiten, die er benötigt um die Musik in eine Choreografie zu übertragen.
Unter Künstlern unterschiedlicher Kunstgattungen sind kreative Verbindungen wie diese ein Glücksfall. Vermag sie in vorliegendem Fall der Musik eines John Zorn jene erweiterte körperliche Dimension zu verleihen, so erschließt sie einem versierten Choreografen wie Gil Roman neue inspirierende und innovative musikalische Impulse für seine aktuelle Bühnenkreation. Das Resultat überzeugt klanglich als auch tänzerisch in jeder Hinsicht.
Gil Roman integriert verschiedenste künstlerische Ausdrucksformen in seine choreografische Arbeit, wobei ihm die theatralische Ebene besonders wichtig ist. Dabei erzählt das Ballett keine lineare Geschichte. Vielmehr entwickelt sich das Stück auf unterschiedlichen Ebenen und animiert das Publikum dazu seine eigenen Interpretationen zu entwickeln.
„Tous les hommes presque toujours s’imaginent“
Es sind drei zentrale Figuren, anhand derer sich eine Art von Handlungsstrang offenbart. Einer dunklen, verlorenen Welt ist ein von Engeln bevölkertes Reich, dem Paradies nicht unähnlich, gegenübergestellt. In der Dichotomie dieser Welt treffen der junge, im Wesen unerfahrene Vito Pansini und der, ihm an Erfahrung und Weisheit überlegenere, Gabriel Arenas Ruiz auf ihr Schicksal. Es ist die Mensch gewordene Gestalt einer weiblichen Naturgottheit, brilliant verkörpert durch Jasmine Cammarota, die beide Männer in ihren Bann zieht – eine Traumrolle für Jasmine Cammarota: „With ‘Tous les hommes presque toujours s’imaginent’ a dream came true. It is the role I always had in me. It's not like playing a role, basically it's just me and my own feelings.“
Wie bereits zu Zeiten Maurice Béjarts, dem das schauspielerische Element in seinen ausdrucksstarken Choreografien besonders wichtig war, zeigen die Tänzerinnen und Tänzer des BBL neben ihren vielfältigen tänzerischen Fähigkeiten überzeugende schauspielerische Ausdrucksfähigkeit. „If you want to create something theatrical, the facial expression is very important“, ist Gil Roman überzeugt.
Das minimalistische Bühnenbild Marc Hollognes beschränkt sich auf das Wesentliche: Eine weiße Mauer, die den Blick verwehrt auf das Unbekannte, Verborgene das dahinter liegt. Tänzerinnen und Tänzer treten hinter der Mauer in Erscheinung, verweilen auf ihr, lassen sich an ihr herab und erklimmen sie. „Beyond“, das ist dort, wo es keine Kriege und kein Leid mehr gibt und das wirkliche Leben beginnt. Aber es gelingt nicht allen den Weg dorthin zu finden. In einer Welt in der es scheinbar keine Orientierung mehr gibt und in seinem eigenen Körper gefangen, bleibt der Schwächere der beiden Männer zurück.
Die mit großem Einfühlungsvermögen für das mythisch philosophische Thema gestalteten Kostümentwürfe von Henri Davila unterstreichen die emotional aufgeladenen Bilder Gil Romans.
Den großartigen Balletabend beschließt das Ensemble mit Maurice Béjarts „Brel et Barbara“, jene Choreografie, für die Gil Roman 2005 den angesehenen Danza & Danza Award als bester Tänzer für die Rolle Jacques Brel erhielt.
Béjart Ballet Lausanne „Tous les hommes presque toujours s’imaginent“ und „Brel et Barbara“. Premiere am 5. April 2019 in der Opéra de Lausanne. Weitere Aufführungstermine: 29. und 30. November 2019 in Cannes, Grand Auditorium - Palais des Festivals
Alle Fotos von Ingo Schäfer.