Mit einem kontrastreichen Programm feierte das Wiener Staatsballett die letzte Premiere dieser Saison vor der bereits traditionellen Nurejew-Gala. Eingerahmt in das wunderbare Ballett „Adagio Hammerklavier“ von Hans van Manen zur Musik von Ludwig van Beethoven und Jiri Kyliàns ebenso feinem Einakter „Bella Figura“ frappierte, auch schockierte, Alexander Ekman das Publikum mit „Cacti“, einem Sportstück.
Nach der Reihe. Eröffnet wurde der Abend sorgsam, nahezu verzögert, mit „Adagio Hammerklavier“ vom großen (heute) alten Mann der Neoklassik bewusst auf die extrem gedehnte Interpretation von Beethovens Sonate Christoph Eschenbachs choreografiert. „Ein Mausoleum der Trauer“ nannte der Beethoven-Biograf Wilhelm von Lenz diesen langsamen Satz und wer gibt sich nicht gern dieser alles umhüllenden Melancholie hin, um am Rand des eigenen Abgrunds zu balancieren! Die Töne hängen im Raum, die Tänzerinnen scheinen in der Luft zu stehen, liegen in den Armen der Partner wie eingefroren. Die drei Paare (Olga Esina / Vladimir Shishov, Ketevan Papava / Roman Lazik, Nina Poláková / Eno Peçi) geben sich nicht vorbehaltlos der Musik hin, schweben darüber. Absolute Schönheit, pures Gefühl, einfach Tanz.
Alle sechs Ersten SolistInnen tanzen dieses (seit 1977 im Repertoire des Wiener Staatsballetts befindlichen und immer wieder neu inszenierten) Meisterstück zum ersten Mal. Noch fließen die Bewegungen nicht wie sie sollen. In diesem, weniger durch die Schritte als durch den häufigen Stillstand, schwierigen Stück liegt das Geheimnis in der Erkenntnis, dass auch Stillstand Bewegung ist. Gelingt dieser unaufhörliche Tanz der Sehnsucht, dann bleibt die Zeit stehen, wird zum Raum, in dem die drei Paare schweben, bis sie, in den Schlusstakten genau der Musik folgend, verschwinden.
Die Pause ist unbedingt einzuhalten um diese traurige Schönheit aus der Seele zu waschen, damit der Schock nicht zu schmerzhaft ist.
Alexander Ekman, dessen internationaler Hit „Cacti“ die eigentliche Premiere ist, ist zwar als Tänzer klassisch trainiert, hat sich aber schon sehr früh von seiner Tanzkarriere verabschiedet und als Choreograf etabliert. Er pfeift auf jegliche Tradition, will Neues, nie Gesehenes, Überraschendes zeigen und das gelingt ihm (zum Schrecken mancher im Publikum) perfekt. „Cacti“ ist ein Stück für 16 Tänzerinnen (unisex in Kostümen und Bewegungen), rhythmisch, musikalisch (ein Streichquartett auf der Bühne ist Teil der Choreografie), geometrisch, grafisch, auch filmisch, skurril und überraschend, nicht nur weil plötzlich eine tote Katze vom Himmel fällt. Zu sehen ist eher ein Sport- denn ein Tanzstück, es wird getrommelt und auf die Schenkel (und Wangen) geklatscht, gekeucht und mit den elfenbeinfarbenen Podesten gearbeitet bis am Ende eine eindrucksvolle Skulptur entsteht, von den TänzerInnen in hellenistischen Posen mit den Podesten gebildet. Ach ja, gesprochen wird auch, ein ironischer Text über Kunst und Kunstinterpretation, über Tanz und ob es passend ist, dass das Stück nun beendet seit. Es war passend, der Applaus freundlich, von einem aufgeregten Buhrufer aufgemischt.
Die letzten Wörter des geheimnisvoll geraunten Textes, „Wait, should this end here? I don’t know… Yes, this feels right. This is right. Right? End, End…“, leiten über die nötige Erholungspause hinweg zu Jiri Kyliáns in Wien zuletzt 2011 gezeigtem Nachdenken über Vorstellung und Realität und auch über Schönheit und Verführung, „Bella Figura“. Davor aber noch eine letzte Bemerkung zu „Cacti“: Mitten drin tritt ein Paar auf und tanzt, ja tanzt, aktuell, aufregend, eindrucksvoll. Rebecca Horner und Andrey Kaydanovskiy sind Aram und Riley, die sich über den Tanz und ihre Zuneigung unterhalten. Der Text (aus dem Playback) ist die Musik. Exakt, amüsant, erholsam nach dem hektischen Gehüpfe der energiegeladenen Hampelmänner. Nichts gegen „Cacti“, die TänzerInnen zeigen sich fröhlich und überaus glücklich mit dem „so ganze anderen“ Stück.
Jetzt also Kylián, der an Ekman leicht anzudocken ist, weil auch in „Bella Figura“ gefragt wird, wann eine Performance beginnt und wann sie tatsächlich und ob überhaupt je zu Ende ist. Während das Publikum seine Plätze sucht, wärmen sich die vier Tänzer (Davide Dato, Roman Lazik, Eno Peçi, Vladimir Shishov) und fünf Tänzerinnen (Alice Firenze, Ketevan Papava, Nina Poláková, Irina Tsymbal, Maria Yakovleva) bereits auf. Schnell, schnell niedersetzen. Doch hat das Stück tatsächlich schon begonnen oder beginnt es, wenn Papava halb nackt mit dem schwarzen Vorhang kämpft?
„Bella Figura“, uraufgeführt 1995, scheint mir die Fortsetzung oder Vollendung von „Petite Mort“ von 1991 zu sein. Edler, kühler aber nicht minder schön. Barockmusik gibt die Struktur vor, begleitet die Bilder, die Kylián zeigt, indem er die schwarzen Vorhänge steigen und fallen lässt, sie als Rahmen verschiebt, um die Ausschnitte zu verändern und einzusäumen.
Fall mit Knall. Nur Davide Dato und Maria Yakovleva tanzen zum ersten Mal mit und in „Bella Figura“, alle anderen mussten ihren Part nur auffrischen (Einstudierung: Cora Bos-Kroese). Exaktheit in den schnellen Passagen, müheloses Schweben in der Zeitlupe sind das Ergebnis. Dato beantwortete die Frage Kyliáns, was denn vorgespielt und was reales Leben sei, mit Knall und Fall. Seine krachende Landung auf dem Boden bleibt ihm sicher als blauer Fleck in Erinnerung. Das ist eindeutig reales Leben. Der berühmte Höhepunkt, das Spiel zweier barbusiger Damen (Papava, Yakovleva) miteinander und dem Vorhang, dann besonders prickelnd, wenn sie aus den knallroten Seidenröcken steigen und scheinbar nackt voreinander stehen, kann jederzeit im Kopf nachgespielt werden. Auch dann noch, wenn Alice Firenze und Davide Dato in aller Stille, lediglich das Knistern des Feuers im Hintergrund ist zu ahnen, das Ende tanzen. Sie zieht Schultern hoch, verkrampft sich in der im klassischen Ballett verpönten Haltung, er drückt sie sanft nach unten, beruhigt und lockert sie; die Rollen kehren sich um, jetzt hilft sie ihm. Wie in einem schönen Traum.
Abschließend: Ohne Repertoire gibt es keine Tradition. Und ohne Tradition, gibt es keine Verbindung mit allem, was vor der Gegenwart getan worden ist. Tradition ist nichts aus der Vergangenheit. Tradition ist, was wir mit der Vergangenheit heute machen. Die Zukunft muss das Gute aus der Vergangenheit entdecken und darauf aufbauen. Van Manen in seiner Rede nach der Verleihung des Erasmus Preises in Amsterdam 2000. „Adagio Hammerklavier“ ist mehr als 40 Jahre alt und heute noch frisch, immer wieder neu und beglückend. „Bella Figura“ ist auch nach 20 Jahren noch lebendig, jedes Mal wieder ein Erlebnis. „Cacti“ ist noch keine fünf Jahre alt und wird das hohe Alter der beiden Meisterchoreografien wohl nicht erreichen. Dennoch muss Ballettdirektor Manuel Legris gedankt werden, dass er auch Stücke von Ekman oder Natalia Horecna mit „seiner“ Compagnie zeigt. Ohne Zukunft ist auch die Tradition nichts wert.
Van Manen | Ekman | Kylián: „Adagio Hammerklavier | Cacti | Bella Figura“. Premiere am 9. Mai 2015, Wiener Staatsoper.
Weitere Vorstellungen in dieser Saison: 13., 15. Mai; 10., 12. Juni 2015.