Es ist so eine Sache mit choreografierter, sinfonischer Musik. Vertiefen die Bilder das musikalische Erleben? Oder umgekehrt: Hilft die Musik das visuelle Geschehen zu verstehen? Ergibt es ein harmonisches Ganzes, oder stehen Musik und Tanz einander kontrastierend gegenüber? Martin Schläpfer ist bei seiner Interpretation von Mahlers 7. Sinfonie in die Welt des Komponisten eingetaucht und hat dessen stilistische Vielfalt in einer schier endlosen Bilderflut übersetzt, reflektiert und manchmal illustriert.
Wenn die Gruppe von allen Seiten auf die Bühne eilt und einer mit nacktem Oberkörper am Bühnenrand gestrandet liegenbleibt, dann kommen auch gleich die Bilder des aktuellen Flüchtlingsdramas hoch. Doch Martin Schläpfer hat seine Choreografie bereits 2013 zur Uraufführung gebracht, und dachte dabei an Menschen, die aus einer Diaspora zurückkommen. Oder auch an Gustav Mahler, der sich Zeit seines Lebens als Außenseiter fühlte: "als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen, als Jude in der ganzen Welt". Auch das letzte Bild dieses imposanten Werkes wird das Thema noch einmal aufgreifen, wenn die Tänzer mit Hockern auf die Bühne kommen, um sie herumlaufen und wie im Ausscheidespiel „Reise nach Jerusalem“ nicht alle einen Sitz ergattern. Da bleiben einige außen vor.
Dies sind markante Eindrücke an diesem Abend, der jedoch in seiner Gesamtheit sowohl musikalisch wie auch visuell schwer zu fassen ist. Für den Zuhörer stellt Mahlers 7. Sinfonie eine Herausforderung dar. Ein Grundthema oder eine leitende Idee ist kaum auszumachen. Die drei Mittelsätze des 80-minütigen Werks spiegeln in Einklang mit den Titeln „Nachmusik I“, „Schattenhaft“ und „Nachtmusik II“ nächtlich-düstere Stimmungen wieder, die von zwei monumentalen Ecksätzen umrahmt sind. Eine Einheit ergibt das trotzdem nicht. Tatsächlich begriff Mahler seine „Weltensinfonie“ als Collage, die der Deutschlandfunk in einer Kurzanalyse zum 100. Geburtstag der Uraufführung auf die Einflüsse und Lebensumstände des Komponisten zurückführt. „Die Fanfaren- und Dreiklangsmotive zielen immer daneben, auf den falschen Ton, nicht wie zum Beispiel bei Bruckner auf den Grundton.“ Ja, Mahler war auch ein Heimatloser in der Musikwelt: die Spätromantik eines Wagner oder Bruckner passt nicht mehr in seine Kompositionsstruktur, und Mahler nimmt in seinem Werk Entwicklungen der Moderne vorweg.
Das Ergebnis ist eine stilistische musikalische Vielfalt, die Schläpfer auch in seinem Ballett "7" spiegelt. Seine etwa 40 Tänzer sind mal mit Lederstiefeln, in Schläppchen oder auch barfuß unterwegs, die Tänzerinnen auch häufig in Spitzenschuhen, die sie teilweise als perkussive Waffe einsetzten. Und das Schuhwerk bestimmt die Bewegungsqualität der wunderbaren Tänzer des Ballett am Rhein: mal elegant oder burschikos, alpenländisch (ein Motiv, das im Werk des Schweizers immer wieder auftaucht) oder urban, klassisch edel oder zeitgenössisch alle Konventionen über Bord werfend. Immer wieder reagiert das Ensemble mit eigenen rhythmischen Zugaben zur Musik. Ertönen aus dem Orchestergraben Kuhglocken, antworten die Tänzer mit aufstampfenden Stiefelschritten.
Über weite Strecken folgt Schläpfer der collagenartigen Anordnung der Musik mit sich rasant ablösenden Szenen, die als einzelne Statements für sich stehen. Zwischendurch findet der Choreograf auch humoristische Momente, die Leichtigkeit in die schwermütige Grundstimmung bringen. Lediglich für den vierten Satz hat er mit zwei Paaren eine Beziehungsgeschichte zum Thema „Bürgerliches Glück“ choreografiert. Doch es ist keine ungestörte Idylle. Immer wieder dringen Tänzer wie Störfaktoren ein, ohne von den vier wirklich wahrgenommen werden – auch das eine Metapher für gesellschaftliche Zustände, nicht nur in unserer Zeit.
Florian Ettl bringt durch seine Ausstattung Ruhe in diese schnell wechselnde Abfolge von Soli, Duos und Gruppenszenen. Die Kostüme in strengem Schwarz: schlichte Kleider für die Frauen, Hosen und Mäntel (im jüdischen Stil) für die Herren; das Bühnenbild: ein bewegliches Glas-Lamellensystem als Hintergrundprospekt, das für die fünf Sätze jeweils dezente, optische Variationen bietet.
Martin Schläpfer ist Mahlers Musik sicherlich nicht sklavisch gefolgt, und doch hat er sich stellenweise von ihr treiben lassen. Manchmal waren die Bilderflut auf der Bühne und der Klang aus dem Orchestergraben derart überwältigend, dass ich für kurze Momente die Augen schließen musste. Und in diesen Momenten erschloss sich Gustav Mahlers Musik, gespielt vom Tonkünstler-Orchester Niederösterreich unter der Leitung von Wen-Pin Chien, am Intensivsten.
Ballett am Rhein/Martin Schläpfer "7" und Tonkünstler-Orchester Niederösterreich am 9. April 2016 im Festspielhaus St. Pölten