Das Fliegen könnte die Klammer sein zwischen Balanchines dynamischer Neoklassik in „Symphonie in C“, den mäandernder Vögelschwärmen in Edwaard Liangs „Murmuration“ und Daniel Proiettos geflügelten Sylphiden in „Blanc“ – hier inklusive Bruchlandung (bei der Inszenierung). Das Wiener Staatsballett zeigte sich bei den Flugübungen in Topform, das Orchester unter der Leitung von Fayçal Karoui überzeugte mit Bizet und Chopin ebenso wie mit den Zeitgenossen Ezio Bosso und Mikael Karlsson.
Mit einer glanzvollen Wiederaufnahme von „Symphonie in C“ von George Balanchine, wurde der erste Premierenabend des Wiener Staatsballetts in dieser Saison eröffnet. Es war ein kinästhetisches Fest, wie die Tänzerinnen und Tänzer die Musik von Georges Bizet in Bewegung umsetzten! Ganz besonders auffallend ist das Selbstvertrauen, die Sicherheit und Präsenz der jungen Solistinnen Natascha Mair und Nina Tonoli und ihrer Partner Jakob Feyferlik und Denys Cherevychko. Tanzfreudig und sprühend sind diese rasend schnellen Variationen des 1. und 3. Satzes. Liudmila Konovalova und Vladimir Shishov sind für den Adagio-Teil der Symphonie als edles Paar bestens besetzt, und auch Alice Firenze und Robert Gabdullin als zusätzliche Solisten im 4. Satz machen eine exzellente Figur – ebenso das gesamte Ensemble.
Die formalen Strukturen des klassisch akademischen Tanzes reichten Balanchine um 445 Ballette damit zu kreieren, darunter ist „Symphonie in C“ aus dem Jahr 1948 wohl eines seiner Meisterwerke. Auch bei der dritten Wiederaufnahme an der Wiener Staatsoper seit der Premiere 1972, wirkt diese Arbeit frisch und lebendig (dank der Tänzer und der Einstudierung von Ben Huys). Dessen Ästhetik der Geometrie und Musikalität legten die Latte für die beiden jungen Choreografen des Abends zugegebenermaßen ziemlich hoch.
Edwaard Liang konnte an das vorgegebene Niveau mit „Murmuration“ anschließen. Der US-amerikanische Choreograf ließ sich für sein Stück aus dem Jahr 2013 von den Flugformationen von Vogelschwärmen inspirieren, die er in fließende, fliegende Gruppenchoreografien von 8 Paaren und einen Tänzer übersetzte. In diese projiziert er auch das soziale Verhalten der Vögel. Aus ihrem Paarverhalten entwickelt er als zentrales Element einen Pas de trois, in dem Jakob Feyferlik und Roman Lazik als Rivalen um die Gunst von Nina Poláková zu buhlen scheinen. Liang arbeitet hier mit dezenten Andeutungen und Gesten ohne Pathos oder Dramatik. Doch abgesehen von dieser inhaltlichen Lesart überzeugt Liangs Werk vor allem durch seine hohe Musikalität. Mit dem Violinkonzert von Ezio Bosso hatte er eine wunderbare Komposition zur Verfügung, die das Fliegen auch in musikalischer Hinsicht zum Ausdruck brachte. Die Violinistin Albena Danailova interpretierte dieses Konzert ebenso wie die Tänzer mit lyrischer und temperamentvoller Intensität. Mit „Murmuration“ hat das Wiener Staatsballett jedenfalls wieder ein Stück eines Zeitgenossen im Repertoire, das daraus hoffentlich so schnell nicht verschwinden wird.
Ein langes Aufführungsleben dürfte dem dritten Teil des Abends wohl nicht beschieden sein. Für die Uraufführung hat Daniel Proietto „Blanc“ kreiert, und wandelte damit wieder auf den Spuren der Romantik. In der Nurejew Gala 2016 hat er bereits mit „Cygne“ (wie auch Edwaard Liang) eine – durchaus beeindruckende – Talentprobe geliefert. Nun ist für den aus Argentinien stammenden tanzschöpferischen Newcomer Fokines Ballett „Les Sylphides“ der Ausgangspunkt. Was äußerst viel versprechend klingt, wenn sich ein Nachwuchschoreograf mit seiner Tanzgeschichte beschäftigt … Es ist auch verständlich, dass er als Künstler des 21. Jahrhunderts die Ästhetik der Romanitk brechen muss - bei aller Affinität, die er für sie hegen mag.
Nur leider suchte Proietto in „Blanc“ nicht nach (neuen) choreografischen Lösungen, sondern erlag der multimedialen Versuchung. Er erforschte nämlich den Dichter, der zwar im Originalballett vorkommt, aber dort keine handlungsbestimmende Bedeutung hat. Hier wird er in einer Doppelbesetzung von einem Tänzer (Eno Peci) und Schauspieler (Laurence Rupp) interpretiert, der einen Text des norwegischen Autors Lucien Øyen vorträgt. Außerdem gibt es Videoprojektionen (Martin Flack), ein Bühnenbild (Leiko Fuseya) und neben Musik von Chopin eine Originalkomposition von Mikael Karlsson. Derart viele szenische Ebenen zu meistern, ist sogar für erfahrene Choreografen eine Herausforderung, bei einem Anfänger wie Proietto fehlt dafür schlicht das nötige Handwerk. Während eines Großteils der Vorstellung wird Øyens Dichtung rezitiert, allerdings versteht man davon nichts. Einerseits weil der Schauspieler in sich hinein nuschelt, andererseits weil er dabei noch die Musik übertönen müsste. Das Resultat: die Musik geht ebenfalls in dem Gerede unter.
Doch auch die optische Ebene kann sich im Auge des Betrachters nicht voll entfalten – man ist abgelenkt. Sehr viel Neues ist Proietto zu den Geisterfrauen choreografisch nicht eingefallen, die sich mit romantischen Posen um den Poeten gruppieren oder auf Spitzenschuhen über den Tanzboden trippeln. Das Duett des Dichters mit der Hauptsylphide (Ketevan Papava) fällt neoklassisch aus, als Solist drückt er seine dichterischen Zweifel (die im Text thematisiert werden – man lese das Programmheft) mit raumgreifenden Moves auf dem Boden aus. Wenn dann noch ein Negativabzug der Sylphide (Natascha Mair) mit zwei Herren (Davide Dato, Masysu Kimoto) auftritt, ist die Verwirrung vollständig, Auch wenn die Tänzerinnen und Tänzer sowie die Pianistin Maria Radutu in dieser Arbeit keine ungeteilte Aufmerksamkeit erfahren, ist deren uneingeschränkter Einsatz umso erwähnenswerter. Denn leider endete, was mit Balanchine und Liang als glanzvoller und laut umjubelter Premierenabend begann, bei Proietto mit einem lauwarmen, bestenfalls höflichen Applaus.
Wiener Staatsballett: „Balanchnie | Liang | Proietto“, Premiere am 1. November 2016 an der Wiener Staatsoper. Weitere Vorstellungen am 4., 5. und 18. November.