Unter dem Titel „Die kleine Meerjungfrau“ sind im Linzer Landestheater aktuell zwei Ballett-Kurzstücke in der Choreographie von Mei Hong Lin zu sehen: „Geburtstag der Infantin“ nach einer Komposition von Franz Schreker und Alexander von Zemlinskys Orchesterwerk „Die Seejungfrau“. Im Programmheft wurde eine Kette der Verknüpfungen aufgebaut: Alexander von Zemlinsky, Franz Schreker und der von Hans Christian Andersen inspirierte Oskar Wilde.
Was den Abend verbindet: Zwei unterrepräsentierte österreichische Komponisten, Schreker und Zemlinsky, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese beiden Werke geschrieben haben und die sich an den Stoffen Wildes und Andersens bedient haben. Beide Komponisten taten das auch aufgrund biographischer Erfahrungen, die sich mit den Märchenstoffen in das übergreifende Sujet der schmerzhaften Ablehnung fassen lassen. So ging es in beiden Balletten auch um ein märchenhaft verarbeitetes Außenseitertum, das zum einen den Gnom vorführt, der an den Hof kommt und sich in die Prinzessin verliebt (Schreker, nach Oskar Wildes Geschichte „Geburtstag der Infantin“), zum anderen die bestens bekannte Geschichte der Meerjungfrau (Zemlinsky nach Christian Andersens).
Im ersten Teil des Abends: Der Gnom, von seiner Umgebung als hässlich wahrgenommener Waldbewohner, verliebt sich in die Prinzessin und möchte diese mit in den Wald nehmen, wird allerdings aufgrund seiner Gestalt und seines Irrtums, sich selbst offenbar für schön zu halten, nur verspottet. Im zweiten Teil des Abends: Die Meerjungfrau verliebt sich in den Prinzen, bringt allergrößte Opfer – und der Prinz nimmt eine andere. Wir kennen das tragische Ende, das in der Version Lins etwas hoffnungsfroher aufgeweicht wird. Beide Figuren, das Waldwesen und das Wasserwesen, möchten also die Welt der Natur und wohl auch einen Teil ihrer eigene Natur hinter sich lassen – und finden als Gegenwelt zu Wald und Meer lediglich eine künstlich-grausame Sozialsphäre vor. Mit den Naturwesen und dem Ausdruck ihrer reinen Liebe weiß eine höfische Umgebung jedenfalls wenig anzufangen, außer ihre Andersartigkeit mit den eigenen Vorstellungen zu dominieren, und sie letzten Endes recht beiläufig zu zerbrechen.
Unter der Leitung von Daniel Linton-France spielte das Bruckner Orchester an diesem Abend also Werke zweier „vergessener“ österreichischer Komponisten der Wiener Moderne, die zu ihrer Zeit geläufige Themen der Natur, in Märchenstoffe verpackt, behandelt haben. Und man hat ein wenig das Gefühl, dass die Musik wohl das eigentliche Thema des Abends war, denn die Stücke gaben dem Abend Klang, Inhalt und auch die Längen von jeweils kurzen 35 Minuten vor. Beziehungsweise wurde im Programmheft die Verbindung von Außenseiter-Thematik, Psychologie und Hintergründe der Stoffe weiter ausgebreitet. (Die tanzhistorisch interessante Verbindung zu den Wiesenthal-Schwestern, die Schrekers Werk ursprünglich tänzerisch umgesetzt hatten, fehlt darin hingegen gänzlich). Es wurde quasi die Andersartigkeit der Märchenfiguren als Katalysator für eine reale gesellschaftliche Ablehnung vorgestellt (bei Wilde, Schreker, Andersen, Zemlinsky: Homosexualität, Armut, Judentum, Fremdheit, tragische Liebe). Allerdings blieben auf der Bühne lediglich bekannte Märchenmotive zu sehen, Sehnsucht, Ablehnung, Tragik, die in der Choreographie und Inszenierung von Mei Hong Lin trotz Emotion, Zauber und fallweiser Aufgedrehtheit im Tanz, trotz des einfallsreichen Einsatzes von Licht und Technik, zum Beispiel der Zugstangen als Wellen und Gewölbe, im Gesamten einen recht interpretativen Ansatz der Umsetzung anboten. Das betrifft die grundsätzlich direkte Setzung des Tanzes als Interpretation von Musik, Emotion und Handlung, als auch eine gesamte Inszenierung, die beinahe selbst als eine Art (romantisches) Handlungsballett auftritt – sofern die Kürze der Stücke diesem Vorhaben nicht entgegenstehen würde, was etwa eine Zeichnung der Charaktere und eine länger aufbereitete Klimax betrifft: So stellt sich das Ballett in beiden Stücken sehr oft auch als höfische Szenerie mit seinem gestischen Agieren dar, in das sozusagen sehnsüchtige Soli oder Pas de Deux der Anbetung eingebettet sind, und einer Liebe, die mahnend und tragisch in die Brüche geht, bevor sie entstanden war. Und diese höfische Szenerie agiert auch mit einem zeitgenössischen Ballettstil, der seinerseits wiederum fallweise anderes Bewegungsmaterial integriert. Um allerdings die vielen angedeuteten Ebenen zu sehen, von denen im Programmheft die Rede ist, also ein wie auch immer geartetes menschliches Drama hinter den märchenhaften Archetypen, braucht man tatsächlich diese Vorinformationen, um diesem zeitgemäß aufgepeppten märchenhaft-romantischem Dahinschmelzen folgen zu können – und dem alten Kulturtrick schlechthin, der recht treffend zusammenfasst, was Emotionen erzeugt: Man sieht, was man weiß. Ohne diese Vorinformationen bleibt das Gefühl einer leicht konservativen Interpretation des wässrigen Gezüchts sowie von Hofstaat und Stoff. Und außerdem das Gefühl, dass die Musik und damit die Werke der österreichischen Komponisten Schreker und Zemlinsky eigentlich im Zentrum standen, was durchaus höchst interessant war.
Mei Hong Lin "Die kleine Meerjungfrau" am 1. November 2016 (Premiere am 15. Oktober 2016) in Musiktheater Linz; Weitere Vorstellungen: 7., 11., 13., 18. November, 1. Dezember 2016, 8. 12., 20. Jänner, 24. Februar 2017