An der Wiener Staatsoper haben die scharfen Kanten der Balanchine-“Jewels“ einen Rundschliff bekommen und funkeln strahlender denn je. Ganz so, als hätten die TänzerInnen nach der langen Pause einen neuen Ansatz entdeckt. Oder auch, weil die Ballettleitung unter Martin Schläpfer einen anderen Wind verströmt. Im KMH hingegen hat Tino Sehgal sich an Beethoven versucht und ihn dem Dilettantismus preisgegegeben.
Brillante Juwelen
Das Wiener Staatsballett startete seine Saison an der Staatsoper mit der Wiederaufnahme von Balanchines „Jewels“, die im November 2019 Premiere hatten. Inzwischen ist viel passiert. Nicht nur hat die Pandemie die Compagnie monatelang in einen Dornröschenschlaf geschickt, auch eine neue Direktion hat übernommen. Nach der Aufführung am 25. September ist erstaunlicherweise festzustellen: Beides hat sich zum Vorteil der TänzerInnen ausgewirkt. Sie sind in Topform und höchst motiviert.
Als „Hauptsmaragd“ wirkte Nina Poláková an der Seite von Robert Gabdullin entspannt und gelöst, wie ich sie selten zuvor gesehen habe. Die neue Erste Solistin Claudine Schoch überzeugte im Duett mit Roman Lazik mit ihrer makellosen Technik. Frisch im Ensemble ist auch die Halbsolistin Sonia Dvořák, die mit Alice Firenze und dem wiedergekehrten Francesco Costa einen bezaubernden Pas de trois tanzte.
Bei den Rubies ging dem Duo Kiyoka Hashimoto und Denys Cherevychko bei ihrem temperamentvollen und gut gelaunten Auftritt quasi das Feuer durch, während Ketevan Papava als kapriziöse Ballerina der unbestrittene Mittelpunkt der rot funkelnden Steine bleibt.
Die kühle Eleganz von Olga Esina in „Diamonds“ ist an diesem Abend einige Grade wärmer geworden. Masayu Kimoto ist im Pas de deux viel mehr als ein zuverlässiger Partner. Da scheint es eine Verständigung und gegenseitige Inspiration zu geben.
Nicht nur die Solistinnen und Solisten brillierten, auch das Corps de ballet tanzte die Juwelen mit freudigem Einsatz. Insgesamt ist so etwas wie Aufbruchsstimmung zu spüren. Balanchines Design der getanzten Hochkaräter hat nun eine menschliche Dimension bekommen, die sie noch attraktiver machen. Die Musik von Gabriel Fauré, Igor Strawinski und Piotr Tschaikowski eröffnet dabei jeweils eine andere musikalische Welt, die das Orchester der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Paul Connelly und Igor Zapravdin am Klavier wunderbar intonierten. Dafür bedankte sich das Publikum mit einem lang anhaltenden und wertschätzenden Applaus.
PS: Verbesserungen muss es beim Corona-Management des Hauses geben: Am 25. September war der erste kalte und regnerische Tag in diesem Herbst, und die Fehleinschätzungen der Maßnahmen wurden offensichtlich. Während im Zuschauerraum auf Abstand geachtet wird, drängen sich im Bottleneck vor der Garderobe die Menschen und müssen sich von dort auf komplizierten und engen Wegen zum Ausgang Kärntnerstraße bewegen. Hier braucht es ein klares Leitkonzept. Außerdem wäre eine Pausenoptimierung angesagt. Bei den kurzen Stücken in diesem Dreiteiler sind zwei Pausen um eine zuviel.
Kein Grund zur Freude
In einem weiteren Flaggschiff der österreichischen Hochkultur steht die Ausstellung „Beethoven bewegt“ zum 250. Geburtstag des Komponisten vor der Eröffnung. mit einem differenzierten Ausstellungskonzept nähert sich das Museum der Musik. Seitdem Sabine Haag die Leitung des Hauses übernommen hat, hat es sich immer wieder anderen Künsten geöffnet. So waren die musikalischen und darstellerischen Interventionen in der Ganymed-Serie von Jacqueline Kornmüller im Kunsthistorischen Museum immer ein Glücksfall und ein Zugewinn. Das darf bei der die Performance „The Joy“ von Tino Sehgal als Preview auf die Ausstellung bezweifelt werden, die im Rahmen des ImPulsTanz Specials (tanz.at berichtete) stattfand. Zwar arbeitet Sehgal vorwiegend im Kontext von bildender Kunst, das qualifiziert ihn jedoch nicht für die Auseinandersetzung mit Musik. Sehgal lässt vier Performerinnen 40 Minuten lang unbewegt Beethoven singen. Solange die Töne keine Melodie ergeben, schwebt noch ein gewisses Mysterium in der Luft. Doch es wird spätestens dann banal, wenn sich das Gesangel an Beethovens 5. versucht. Dazu gibt es Handgesten, später Schulterrollen. Das Publikum ist, ebenso wie die Performerinnen, aufgrund der Corona-Maßnahmen weitgehend auf seine Plätze fixiert. Und diese Situation macht diese Inszenierung zu einem Ärgernis. Denn von Freude, die der Titel suggeriert, ist hier keine Spur. Hier sind keine Sängerinnen zu Gange, die die phänomenale Akustik des Raums nützen könnten. Vielmehr singen die Vier einfach vor sich hin, weitgehend ohne Ausdruck, Sinngebung oder Technik. Könnte man sich frei bewegen und jederzeit gehen, könnte man dieser Aktion zumindest noch eine soziologische Dimension zuordnen, etwa wie im Zuge der Mediamorphose Beethovens Musik zum Allgemeingut wurde. Denn wer kann seine 5. Symphonie nicht singen, wenn auch besser in der Dusche? Dieser Performance hingegen fehlt es an Handwerkszeug bei der Inszenierung und den Interpretinnen sowie an Empathie sowohl für Beethoven als auch für das Publikum.
Schade, gäbe es doch genügend Aspekte rund um Beethoven für eine tänzerische Auseinandersetzung und wohl auch Choreografen, die über genügend Musikalität und Kenntnis dazu verfügen. (Inspiration dafür bietet etwa die tanz.at-Serie von Gunhild Oberzaucher-Schüller, die die historischen Zusammenhänge von Beethoven, Viganó, den Tanz und den Zeitgeist erstmals beleuchtet: „Von ‚exaltierten Freigeistern‘: Viganò und Beethoven“).
PS: Die aufgrund von Covid19 entfallenen Vorstellungen von „Ganymed in Power“ werden ab 31. Oktober im Kunsthistorischen Museum nachgeholt.
Wiener Staatsballett „Jewels“ am 25. September an der Staatsoper; weitere Vorstellungen am 3., 9., 18., 22., 27. und 29. Oktober.
Tino Sehgal „This Joy“ im Rahmen im KHM am 25. September.