Nein, das ist kein politisch-koalitionäres Statement, sondern bezieht sich auf die neue Produktion von toxic dreams: „After the End and Before the Beginning“ ist eine Videoinstallation, die im Theatermuseum einen analogen Charakter erhält und doch für die digitale Welt volltauglich ist.
Was ist eigentlich davor oder danach geschehen? Was trieb Hamlet um, bevor sein Vater starb? Oder Woyzek, nachdem er Marie umgebracht hat? Was ist aus Nora, Eliza oder Olga geworden?
In ungefähr 10-minütigen Videos wird dem Schicksal dieser und anderer Ikonen der Theaterliteratur nachgegangen. Die Monitore sind in Holzbauten untergebracht, die Miniaturbühnen simulieren und die in den Foyers des Theatermuseums und in der Gemäldegalerie der Akdamie der bildenden Künste (die vorübergehend im Theatermuseum untergebracht ist) verteilt aufgestellt sind. Was auf den ersten Blick als überflüssiger Gimmick erscheint, stellt sich bald als raffinierter Kunstgriff heraus. Das Blickfeld wird durch dieses „Bühnenbild“ eingeengt und bringt die Zuseherin quasi auf Tuchfühlung mit den Figuren, die auf einer Taxifahrt über sich erzählen. Da gibt es kein Entrinnen mehr – dieses intelligente Vexierspiel zwischen Film und Bühne zieht mich sofort in seinen Bann.
Sie sind zu Zeitgenossen geworden, die sich einer modernen Sprache und eines ebensolchen Lebenstils bedienen, auch wenn ihr Outfit ihre originäre Herkunft preisgibt. Sie ergehen sich in Monologen, manchmal ist der Fahrer (Yosi Wananu) auch gefragt, etwas beizutragen. So etwa bei Eliza (Susanne Gschwendtner), die nun die Art ihres Mentors Professor Higgins völlig übernommen hat: arrogant schwafelt sie über den Gebrauch der Sprache, macht den Fahrer diesbezüglich herunter. Hätte er Kontrolle über seine Sprache, könnte er ein „Noam Chomsky der Uber-Fahrer“ werden, meint sie. Immerhin hat sie es weit gebracht, kann mittlerweile "rain in Spain" ad infinitum weiterreimen und ist Keynote-Speaker bei einer Linguistik-Konferenz, zu der sie chauffiert wird.
Der Name der Gruppe, die hinter diesem wunderbaren Experiment steht, ist Programm, denn die Schicksale, die hier weitergeschrieben werden, sind vergiftete Träume. So kommt etwa Claire aus Friedrich Dürrenmatts Drama "Der Besuch er alten Dame" (Jutta Schwarz) zu dem Schluss, dass ihre Vendetta der Mühe nicht wert war, auch wenn sie sich gleichzeitig das bevorstehende Begräbnis ihres Ex-Geliebten in grandiosen Farben ausmalt. Olga, die Lehrerin, (und eine der "Drei Schwestern" von Tschechow, verkörpert von Anat Stainberg), findet nach einem so lange ersehnten Wochenendtrip nach Moskau heraus, dass sie ein Leben lang von der falschen Stadt geträumt hat. Nun erklärt sie Barcelona als ultimative Destination ihrer Wünsche.
Der Vater ist verstorben, „hat beschlossen, nicht mehr zu sein“, und sein Sohn Hamlet (Markus Zett), ein Experimentalfilmer, wird bereits auf der Fahrt zum Flughafen von dessen Geist heimgesucht. Was Wunder, dass er es sich also anders überlegt und nicht zum Begräbnis fliegt. Man hat es schon geahnt, dass Lady Macbeth (Nina Fog) bereits eine Serienmörderin war, bevor sie von Shakespeare entdeckt wurde. Oder dass Blanche (aus „Endstation Sehnsucht“, gespielt von Isabella Händler) bereits vor ihrem Eintreffen im Haus ihrer Schwester und ihres Schwagers instabil und gebrochen war. Woyzeck (Florian Tröbinger), Büchners tragischer Täter und zugleich Opfer sozialen Missbrauchs, lässt sich nach dem Begräbnis von Marie zu einem Restaurant chauffieren, um die ihm aufgezwungene Erbsendiät mit einem opulenten Mahl zu beenden.
Nora (Anna Mandelssohn), Ibsens Feministin, die Haus und Kinder verließ um ein eigenständiges Leben zu führen, ist bei toxic dreams nun eine charismatische Politikerin, die mit einer Brandrede für die Rechte von Minderheiten und Unterdrückten eintritt und gleichzeitig ihren mittlerweile erwachsenen Kindern die Motive für ihr Handeln erklärt.
Und da ist auch noch die wundersame Winnie (aus Becketts „Glückliche Tage“), die im zeitlosen Dazwischen philosophiert und schwadroniert. Ihr Grab ist eine Krinoline, aus der sie einmal in der Woche einen Ausflug ins Grüne unternehmen darf. Stephanie Cummings verkörpert diesen Charakter des absurden Theaters mit umwerfendem Charme und Witz und setzt den düsteren Figuren der Weltliteratur eine heitere Note entgegen.
Aber natürlich zieht sich der humorvolle Blick von toxic dreams durch alle Episoden. Aus dem Kontext gerissen, hinterlassen die Figuren einen ziemlich banalen Eindruck, in die Gegenwart geworfen, werden sie zu Projektionsflächen alltäglicher Befindlichkeiten – und die arbeitet die Gruppe mit feiner Klinge heraus.
Das digitale Format schreit geradezu nach einem Leben nach der Ausstellung. Vielleicht wird daraus ja dann doch ein Film … Jedenfalls ist „After the End and Before the Beginning“ eines der interessantesten Experimente des Pandemie-bedingten Theaterstopps und einfach eine Wohltat für die Seele.
toxic dreams: „After the End and Before the Beginning“ ist noch bis 31. Mai im Theatermuseum zu sehen.