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HoraAls zweiten Beitrag unserer „Student’s Corner“ präsentiert Anna Grüssinger ihre Bachelorarbeit im Studium Zeitgenössische Tanzpädagogik an der MUK (2014): eine Analyse des Stücks „Disabled Theater“, für welches der französische Choreograf Jérôme Bel 2012 mit den DarstellerInnen des Schweizer Ensembles Theater HORA zusammengearbeitet hat, und das unter großer Medienresonanz und teils heftigen Publikumsreaktionen weltweit gezeigt worden ist.

Im Kern der Arbeit steht die Frage nach Authentizität: Hat dieser Aspekt in der Entwicklungs- und Probenarbeit eine Rolle gespielt? Ist dies thematisiert worden? In welchem Kontext ist Authentizität im Œuvre von Jérôme Bel überhaupt zu verstehen? Wird in der Rezeption des Stückes dieser Begriff verwendet und in welchen Zusammenhängen?

Um sich diesen Fragen nähern zu können, steht am Beginn der Arbeit eine Auseinandersetzung mit der Komplexität des Begriffs „Behinderung“. Dabei werden verschiedene Erklärungsmodelle dargelegt und Definitionen aus medizinischer, soziologischer, kulturwissenschaftlicher Sicht sowie aus dem Verständnis der Disabilities Studies herangezogen. Die theoretischen Überlegungen werden um leibphänomenologische Gedankenanstöße erweitert, um ein Bewusstsein für die eigene und fremde (bzw. „normale“ und „andersartige“) Leiblichkeit zu schaffen.

In weiterer Folge werden die Protagonisten vorgestellt.
Nach einer Kurzbiografie Jérôme Bels und einem Werküberblick unternimmt die Autorin den Versuch von Bels künstlerischer Verortung. Als wichtige Erkenntnis kann festgehalten werden, dass Bel in seinem Schaffen oftmals das kulturelle Verständnis von Tanzkunst stärker reflektiert, als dass er in seinen Stücken tatsächlich Tanz zeigt. Im Hinblick auf „Disabled Theater“ scheint die Frage legitim, wie Bel den Stücktitel verstanden wissen will: Geht es um „Behindertentheater“ oder eher um „behindertes Theater“? Zweites lässt Interpretationsspielraum für eine Kritik am Kulturbetrieb samt dessen Produktions- und Rezeptionsbedingungen zu.
Das Theater HORA wird als Institution mit seiner Vision und künstlerischen Intention vorgestellt, ebenso werden die professionelle HORA-Schauspielausbildung, die strukturellen Bedingungen des Ensembles und die Thematisierung von Behinderung im bisherigen Œuvre dargestellt.

Die detaillierte Stückbeschreibung basiert auf einem Gedächtnisprotokoll eines Vorstellungsbesuchs der Autorin. Ihre Beobachtungen sind durch den Dramaturgen Marcel Bugiel und Simone Truong, Assistentin und nicht-behinderte Darstellerin, verifiziert worden.
Um die Stückentwicklung, den Probenprozess sowie Bels künstlerische Intention, deren Einführung und die Auseinandersetzung mit dieser in der Zusammenarbeit mit dem Ensemble HORA zu erläutern, wurden Aussagen und Stellungnahmen von Jérôme Bel herangezogen sowie Experteninterviews mit Marcel Bugiel und Simone Truong geführt. Mit beiden ist die Autorin während des Verfassens ihrer Arbeit in regem E-Mail-Austausch gewesen.

Am Beginn der Forschungen für die Bachelorarbeit hat die Auseinandersetzung mit Kritiken und Berichten zu „Disabled Theater“ eine bedeutende Rolle gespielt. Die immer wieder vorgefundenen Authentizitätszuschreibungen an die Darsteller*innen waren schlussendlich ausschlaggebend für die Konkretisierung der Fragestellung. Der Analyse eines Bruchteils der deutschsprachigen Medienberichterstattung folgt eine theaterwissenschaftliche Darlegung des Begriffs Authentizität, der von der Verfasserin letztlich als Inszenierungspraxis und Wahrnehmungseffekt erörtert wird. Auch die Problematik des Begriffs, der im theaterwissenschaftlichen Diskurs nicht unumstritten ist, wird hervorgehoben. Abseits der (vermeintlich) authentischen Lesart des Stückes setzt sich die Autorin mit alternativen Interpretationsmöglichkeiten auseinander - mit einem emanzipatorischen Blickwinkel bzw. dem Prinzip der Verletzbarkeit.

Die künstlerische Leistung von Disabled Theater zeigt sich für die Autorin im Gewahrwerden der eigenen bzw. kollektiven Zuschauerhaltung. Anke Dürr hält in einem Artikel für das Magazin Spiegel fest: „Und wenn die Zuschauer klatschen, weil einer auf der Bühne sagt: ‚Ich habe Trisomie 21.‘, dann stellt das nicht den Darsteller bloß, sondern sein Publikum.“ Dies bestätigt die HORA-Darstellerin Julia Häusermann: „Ein behinderter Schauspieler kann auf der Bühne furzen oder Kaka machen. Behinderte haben keine Angst, nur die Zuschauer.“

Die wissenschaftliche Abschlussarbeit von Anna Grüssinger wurde im April 2015 von der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA7), Geschäftsgruppe Kultur und Wissenschaft, mit einem Förderstipendium ausgezeichnet.

 

GruessingerMag. (FH) Anna Grüssinger, BA

Nach dem Abschluss (mit Auszeichnung) des BA-Studiums Zeitgenössische Tanzpädagogik an der Konservatorium Wien Privatuniversität (inzwischen: MUK - Musik- und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien) im Juni 2014 setzte Anna Grüssinger ihre langjährige Unterrichtstätigkeit im Bereich des Kreativen Kindertanzes und des Zeitgenössischen Tanzes für Jugendliche in Klosterneuburg fort. Außerdem war sie mit einem Sonderlehrvertrag mit voller Lehrverpflichtung an einer Neuen Mittelschule im 10. Bezirk als Lehrerin für Englisch, Tanz und Theater tätig.
 
Als Tänzerin war sie 2015 in „septem“, choreografiert von Miriam Schmid, im Rahmen der Theater BRETTERHAUS-Produktion „Die 7 - Auch deine Todsünde ist dabei“ zu sehen. Zudem nahm sie an verschiedenen Projekten von Tanz die Toleranz in der Brunnenpassage teil, um sich im Bereich des Community Dance weiterzubilden.
 
Im Juli 2015 leitete sie Workshops und Nachgespräche im Rahmen des Festivals Junges Theater im Delta, an dem über 400 theaterbegeisterte Kinder und Jugendliche aus der Rhein-Neckar-Region (Mannheim, Heidelberg, Ludwigshafen, Speyer) teilnahmen.

Im September 2015 trat Anna Grüssinger ihre Stelle als Tanz- und Theaterpädagogin im Jungen Nationaltheater Mannheim an. Dort ist sie für zwei Spielzeiten als Elternzeitvertretung engagiert. Ihr Tätigkeitsbereich umfasst u. a. die spielplanbegleitende Theaterpädagogik, die künstlerische Leitung der Theaterpartnerschaften (Schulkooperationen), die Leitung und Durchführung einer Bewegungsrecherche in einem Kindergarten, die Mitarbeit bei der Organisation und Durchführung des Festivals „PLAY Jugend spielt Theater“ sowie die Leitung von zwei Spielclubs.

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