Sich dem Heiligtum der nordischen Mythologie mit dem Tanz zu nähern, ist eine Herausforderung, die Peter Breuer mit „Siegfried“ am Badischen Staatstheater angenommen hat. Sie ist noch größer, wenn man sich nicht auf die Opern von Wagner stützt, sondern auf die Sage aus dem 13. Jahrhundert, auch wenn der „Ring“ nicht ganz aus dieser Geschichte ausgeblendet werden kann, dazu ist er zu tief im kollektiven Gedächtnis verankert.
Peter Breuer greift für sein Konzept auch auf andere Komponisten wie Franz Liszt, der mit der Familie Wagner verbunden war, zurück. Der erste Satz der Dante Sinfonie (Inferno) ist im ersten Akt und zu Beginn des zweiten Akts, dort allerdings in einer Bearbeitung von J. Adams, zu hören („Die Schwarze Gondel“). Liszt und Adams finden sich durch den „Ring“ in der Welt Wagners wieder, ein orchestrales Abenteuer, von Henk de Vlieger nach dem „Ring der Nibelungen“ und dem „Ring ohne Worte“ von Lorin Maazel arrangiert. „Wagner ohne Worte“ hat Breuer die Tür für die Fantasiewelt der Choreographie geöffnet.
Die Geschichte wird reduziert und der psychologische Konflikt wird auf eine spannende Art erzählt und durch klare Linien dargestellt. Dabei stehen die weiblichen Figuren, Brünhild, Kriemhild, und Ute, die Urmutter im Vordergrund. Bei Siegfried wird das Heldenhafte zurückgenommen, er verhält sich etwas naiv und nimmt nicht wirklich wahr, was ihn erwartet (perfekt: Amil Kuyler). Mit starker Betonung der emotionellen Seite der Beziehung zwischen Brünhild, Kriemhild und Siegfried sind die dadurch entstehenden Konfliktsituationen der Kern der Handlung. Das innere Drama der zwei Frauen hat Breuer am meisten interessiert. Verrat, Leidenschaft, Mord, Rache – zeitlose Strukturen der Tragödie sowie Mystik und Mythos – sind in dem Werk sorgfältig dosiert.
Erster Akt
Der Orchestergraben ist mit zirka 70 Musikern und ihren Instrumenten gefüllt, auf der linken Seite sind zwei Harfen durch schwarze Tücher verdeckt, um nicht die Aufmerksamkeit des Publikums auf sie zu lenken. Die Musik von John Adams trägt uns, als ob sie aus unserem Unterbewusstsein kommt.
Als sich der Vorhang öffnet, ist alles in tiefem Blau. Die offene schwarze Bühne ist in ihrer Breite, Länge und Tiefe, von einem riesigen silbernen Ring umgeben. Ute, die Mutter von Kriemhild, in langen schwarzen Seidentüchern, die ihr verblassendes Blond verdecken, lässt mit wenigen Gesten erahnen, dass sich am Wormser Hof eine Tragödie abspielen wird (wunderbar: Markéta Elblová).
In dieser Vorgeschichte, machen die Vorhersagen und Träume der archetypischen Personen - Ute, Kriemhild, ihr Bruder Gunther und ihr Gatte Siegfried - diese zu Gefangenen ihres bereits festgelegten Schicksals. Die Königin Kriemhild und Siegfried lieben einander leidenschaftlich. Er will sie aber nur heiraten, wenn Gunther ebenfalls heiratet, der sich Brünhild auserwählt hat, die Königin der Walküren. Brünhild hingegen möchte nur einen Mann heiraten, der stärker ist als sie, also den unbesiegbaren Siegfried, der bei all seiner Stärke eine verwundbare Stelle an den Rücken hat. Niemand kennt sie außer Kriemhild, die das Geheimnis Hagen, dem Gefolgsmann von Siegfried anvertraut, und ihn damit dem Tod ausgeliefert hat, der von Hagen (der fabelhafte Andrey Shatalin) mit seinem, den Tod evozierenden Kostüm verkörpert wird.
Bei der Eroberung von Brünhild treten Siegfried, Gunther und die Walküre mit Stöcken und in Kendo-Kampfkleidung gegeneinander an. Diese traditionelle asiatische Kampfkunst und der Kampf mit den Stöcken schaffen einen magischen Moment, mit der über den Bergen im Hintergrund aufgehenden Sonne. Hier hat uns Breuer den üblichen expressionistischen Schwertkampf erspart. Es ist Siegfried, der an Stelle von Gunther gegen die Walküre kämpft und sie besiegt. Sie willigt ein, Gunther (alias Siegfried) zu heiraten. Alle begeben sich zum Wormser Dom.
Der Wormser Dom ist durch ein pyramidenförmiges schwarzes Prisma im Hintergrund der Bühne und eine schwache gelbe Sonne dargestellt. Mädchen und Jungen in langen schwarzen Röcken und schwarzen Korsetten, Stiefel für die Männer, Spitzenschuhe für die Mädchen bereiten sich auf die Doppelhochzeit vor. Auf zwei Metallgerüsten auf jeder Seite der Bühne erscheinen Kriemhild und Brünhild, in langen weißen Kleidern, sich gegenseitig misstrauisch abschätzend, dann lassen sie sich von den Männern wegtragen. Das goldfarbene Licht, das die schwarzen Kostüme in Blau taucht, die fortissimo Musik für großes Orchester und zwei Synthesizer von Adams schaffen eine brillante und überschwängliche Szene, eine Ausgelassenheit von Tönen, von plastischer Schönheit, und eine Choreografie, die sich von all dem nicht verschlingen lässt.
Als Gunther nicht auf die Fragen von Brünhild antwortet, verweigert sie den Vollzug der Ehe. Noch einmal kommt Siegfried Gunther zu Hilfe. Er schleicht sich in das Zimmer von Brünhild und vollendet die Angelegenheit so gut, dass ihm die schöne Königin einen Gürtel als Zeichen ihrer Liebesbereitschaft schenkt. Dann nimmt Gunther seinen Platz ein, Siegfried schenkt den Gürtel Kriemhild und erzählt ihr von seiner „Hilfe“ für Gunther.
Ute, allein vorne auf der Bühne, deutet mit ihren ausdrucksvollen Gesten an, dass sich etwas Schreckliches ereignen wird. Marketa verhält sich wie ein Sprengkopf der Spannungen, die sich im ersten Akt durch die Erzählung aufgebaut haben: in der Annäherung der Hauptpersonen, den ausgewählten Kompositionen, der Beleuchtung und dem Tanz im neoklassischen Stil, der die Schönheit der Linien und der Körper unterstreicht, ob in Ensembleszenen, in Pas de Deux, Pas de Trois, oder in einem ausdrucksvollen maskulinen Pas de Cinq.
Zweiter Akt
Im zweiten Akt begreifen die Königinnen, dass sie die gleiche Position im Königreich haben, aber schlimmer noch, Kriemhild zeigt Brünhild vor allen Anwesenden den Gürtel. Hagen verspricht, seine Königin zu rächen und besteht gegenüber Gunther auf dem Tod Siegfrieds, damit wieder Frieden im Königreich herrscht und der Reichtum des Schatzes der Nibelungen zu ihm zurückkehrt.
Kriemhild zeigt Hagen die verwundbare Stelle Siegfrieds. Am Horizont erscheint Etzel (Bledi Bejleni) als zukünftiger Thronanwärter, mit dem sie ihren Rachedurst vergessen könnte.
Die Bühne verwandelt sich, der Ring ist ein riesiger Sternenhimmel geworden, im Hintergrund eine weiße Rampe. Siegfried und Kriemhild umarmen sich, alles wird schwarz, nur ein schwaches, düsteres Licht leuchtet.
In einem dramatischen Pas de Deux von Gunther und Brünhild scheint sich alles zu entfesseln und zu einem betäubenden Glockenklang eine mythische Dimension anzunehmen. Der Tod Siegfrieds ist kaum sichtbar, nur Blutflecken auf dem weißen Podest zeugen davon.
Fazit
Mit einem breiten choreografischen Vokabular und seiner legendären Musikalität hat Peter Breuer es in „Siegfried“ geschafft, dass Gesten, Bewegungen und Schritte nicht die Musik illustrieren oder sich von ihr überwältigen lassen. Er versteht es, mit einem Ensemble zu arbeiten und ist einer der wenigen Choreografen (spontan fallen mir dazu nur Jean Christophe Maillot und John Neumeier ein), die Handlungsballette schlüssig erzählen können. Seit zwanzig Jahren ist er Ballettdirektor in Salzburg. Bis heute hat er 22 Handlungsballette kreiert, das bedeutet mehr als eines pro Jahr.
Seine Choreografie ist technisch und künstlerisch schwierig und fordert Schnelligkeit, Legato und eine ehrlich Interpretation. Breuer hat mit dem Badischen Staatsballett (eine von Birgit Keil und Vladimir Klos geleitete Kompanie von hoher Qualität) ein Meisterwerk erreicht.
Großartig die Solisten: Neben den bereits erwähnten waren das Barbara Blache (Brünhild) mit fantastischer Dramatik und sehr starker Technik, Bruna Andrade (Kriemhild), lyrisch und bestimmt zugleich, Flavio Salamanca (Gunther) als fabelhaften und machiavellischer Tänzer.
Die Unterstützung durch ein brillantes Team wie Andreas Geier für Libretto und Dramaturgie war entscheidend für das Verständnis des Stücks, die Dosierung der emotionellen Aspekte, die Spannungen und die psychologische Analyse der Situationen und Charaktere. Dorin Gal, mit seinem Einfallsreichtum und seiner Kenntnis des Tanzes entwirft nicht nur wunderbare Kostüme, sondern findet auch passende Stoffe für die Bewegungen, die dazu das Licht aufnehmen können. Eduard Stipsits, seit 18 Jahren an der Seite von Peter Breuer und zuständig für die Beleuchtung, erweist sich von großer Sensibilität und Verständnis für die Situationen.
Die Badische Staatskapelle unter der Leitung von Christoph Geldschold musiziert in der Interpretation von Wagner-Stücken ebenso souverän wie von John Adams wunderbarem, in seiner musikalischen Konzeption schwierigem Werk, das der Komponist selber eine neue „unusual music“ nennt.
Peter Breuer: „Siegfried“, Badisches Staatstheater Karlsruhe am 19. November 2011. Weitere Vorstellungen am 8. Dezember 2011 und 19. Jänner 2012