Nicht nur die literarische Figur der Anna Karenina ist vom Pech verfolgt, auch die Staatsballett-Produktion des Balletts von Boris Eifman hat ihr Leid zu tragen. Weil Eno Peci, der Karenin des ersten Abends der Wiederaufnahme, verletzt war, musste die Besetzung des zweiten Abends holterdiepolter einspringen und war dementsprechend überrascht. Erst der folgende Abend soll bewertet werden. Denn an diesem erfreute das solistische Dreieck wie das Corps de Ballet mit einer wahren Explosion an Ausdruck und Bewegungskunst.
Eifmans expressive Choreografie, zu einem Puzzle aus Pëtr Tschaikowskis Werken die Neoklassik kühn überschreitend, ist nicht einfach zu tanzen. Dennoch lieben die Tänzer und TänzerInnen des Wiener Staatsballetts die „Anna Karenina“, ein Ballett, das sowohl von der Präsenz der drei ProtagonistInnen (Anna, Karenin und Wronski) als auch vom spektakulären Einsatz des Corps de Ballet lebt. Dagmar Kronberger, Eno Peci und Shane A. Wuerthner mussten auf „ihre“ Premiere verzichten und Ketevan Papava, Kirill Kourlaev sprangen ein (Samstag, 24 März). Keine leichte Aufgabe, zumal Alexis Forabosco seinen ersten Wronski früher als geplant tanzen musste. Die Chance sich zu präsentieren, nutzte der seit 2006 im Ensemble tanzende Halbsolist jedoch bestens in der zweiten Aufführung (Montag, 26. März) und erlaubte damit auch seiner Partner Ketevan Papava ihre gesamte tänzerische Ausdruckskraft zu zeigen.
Forabosco meistert die schwierige Partie mit den vielen Hebungen einwandfrei, doch ist er weniger der entflammte, betörende Liebhaber als ein grübelnder, zweifelnder junger Mann, der von Annas Temperament und Erotik fasziniert ist. Mit Verve springt sie in seine Amre und beschließt ihn nicht mehr los zu lassen. Kind und Mann bleiben einsam und traurig zurück. Traurig, dass es mir das Herz bricht
Kirill Kourlaev tanzt als Karenin, trotz des pomadisierten Haars, keinen verknöcherter Beamten, keinen papierenen Gesellschaftsmensch, dem Ansehen und Karriere über alles geht, sondern ein Mensch mit Gefühlen, die er nicht leicht zeigen kann, die sich nach dem Verlust der Ehefrau statt in Wut in unendliche Trauer wandeln. Die Ausdruckskraft Kourlaevs ist unnachahmlich. Wenn er einsam auf der Brücke steht und die Liebenden beobachtet, einen letzten Versöhnungsversuch startet, sich windet und dreht, krümmt und streckt, auf dem Boden kriecht, in Trauer und Verzweiflung schier versinkt, dann kann man dem Mann nicht böse sein, muss tiefes Mitleid mit dem Verletzten empfinden. In dieser großartigen Besetzung geht mir das Schicksal Karenins mehr zu Herzen als das der Karenina. Papava und Kourlaev sind übrigens, auch wenn die Rolle anderes verlangt, ein überaus harmonisches Paar und man genießt das Zusammenspiel, selbst wenn Anna und Karenin immer weiter auseinander streben.
Fulminant und für Spannung und allerlei Aha-Erlebnisse sorgend, wie schon bei der Wiener Premiere (2006), das Ensemble. Dirigent Guillermo García Calvo dirigierte einfühlsam das wohl disponierte Orchester und gibt den Tänzerinnen und Tänzern das richtige Tempo für die von den Solisten und dem Ensemble geforderten akrobatischen Sprünge und Drehungen vor.
„Anna Karenina“, 24., 26. März, Staatsoper Wien
Nächste Vorstellungen mit Dagmar Kronberger, Eno Peci und Shane A. Wuerthner am 28. März und 9. April 2012.