Aufregende Körperlichkeit. Was ist auf der Bühne eigentlich aufwühlender als der „cirque nouveau“, der neue Zirkus? Mit dem „Cirque de Soleil“ hat Kanada seine Innovationskraft in diesem Genre zu weltweitem Ruhm geführt. Die Gruppe Les 7 doigts de la main, ebenfalls aus Montreal, steht ihm an Ideenreichtum und Kreativität nicht nach.
Mit dem cirque nouveau ist seit den 1970er Jahren eine neue Bühnenform entstanden, die den traditionellen Zirkus weit hinter sich lässt und Tanz, Theater und Artistik miteinander verschmilzt. Einerseits hat der neue Zirkus abgespeckt: es gibt keine Tiernummern mehr, allein das Können der Artisten steht im Zentrum. Andererseits sind diese heute zumeist an einer der hochprofessionellen Schulen so vielseitig ausgebildet, dass sie in allen Disziplinen mitmischen können. Und sie sind nicht nur virtuose Akrobaten, sondern auch ausdruckstarke Bühnenpersönlichkeiten, die mit ihren Körpern Geschichten erzählen können.
Im Fall von „PSY“ sind dies Episoden über neurotische und psychotische Zustände – von schrulligen Macken bis zu pathologischen Auswüchsen, von der Soziophobie bis zur Suchtgefährdung. Das fiktive Setting ist eine psychiatrische Praxis mit Einzel- und Gruppentherapien. Die emotionalen Zustände dieser Krankheitsbilder werden in akrobatischen Szenen, Jonglage-, und Trapeznummern, mit Seil- und Stangenklettern verkörpert. Einer der Höhepunkte ist die Geschichte des Süchtigen auf dem Rhönrad, der sich dem ewigen Kreislauf, die die Sucht mit sich bringt, zu entziehen versucht. Oder die Jonglage auf drei Ebenen, in der die ganze Gruppe involviert ist.
Der Drive der Choreografie ist zwar unermüdlich, hat aber den idealen Rhythmus gefunden, der den Zuschauer nicht überfordert. Die Musik und das Sounddesign von Julien Lanthier sind dafür maßgeschneidert. Das mobile Bühnenbild integriert die artistischen Geräte in immer neuen Raumkonstellationen. Perfektion ist nicht angesagt, Fehler sind erlaubt und das macht diesen Zirkus so menschlich und sympathisch.
Die sieben Gründungsmitglieder des Kollektivs waren alle auch beim Cirque de Soleil tätig, bevor sie 2002 Les 7 doigts de la main gründeten. Der Name ist auf ein frazösisches Idiom zurückzuführen. Spricht man von den 5 doigts de la main meint man eine Einheit, deren Einzelteile in engem Zusammenspiel miteinander agieren. In diesem Sinne funktioniert Zirkusartistik. Die Mitglieder müssen sich auf ihre Partner und Kollegen total verlassen können und ihnen voll vertrauen.
Die Vertrauensfrage taucht bei „PSY“ auch immer wieder als Thema auf, denn auch psychisch Kranke müssen Vertrauen (wieder) erlernen. Les 7 doigts de la main vermeidet so, dass diese Krankheiten distanziert gesehen wird. Damit, und mit ihrem subtilen Witz und feinem Humor überwinden sie den schmalen Grat zwischen Pathologie und „Normalität“.
Das Ergebnis: aufregende Körperlichkeit, die das Publikum zwei Stunden lang mitfiebern lässt.
Les 7 doigts de la main: PSY am 1. November 2012 im Festspielhaus St. Pölten