Christine Gaigg verschränkt das Bewegungsvokabular des von Vaclav Nijinsky choreografierten Balletts „Le Sacre du printemps“ zur Musik Igor Strawinskys mit den Gesten der russischen Protestgruppe Pussy Riot in der Christerlöser-Kirche in Moskau. Damals in Paris wie kürzlich in Moskau wurde ein wunder Punkt der Gesellschaft getroffen – ein Skandal hervorgerufen.
„Es war eine unglaublich intelligente Performance und eine unglaublich intelligente Erklärung mit viel Fingerspitzengefühl und Sachlichkeit.“ Den Worten des Bundespräsidenten nach der Vorstellung ist nichts hinzuzufügen. Die Übereinstimmung der Gestik in Nijinkys „Sacre“ mit Pussy Riots Auftritt hat selbst in der kühlen Analyse des Vokabulars bewegt. Das Ambiente, die Josephskapelle in der Hofburg, mitten in den Amtsräumen des Bundespräsidenten, mag einen Teil der Magie ausgemacht haben, die Anwesenheit des Staatsoberhauptes, den anderen. Es ging um Sakrileg und Blasphemie, um Empörung und Skandalgeschrei, aber auch um ein Jubiläum: 100 Jahre ist es her, dass „Le Sacre du Printemps“ bei der Premiere niedergebrüllt worden ist.
Das Heulen, Trampeln, Pfeifen und Spucken des Publikums im noblen Pariser Théâtre des Champs Elysées am 29. Mai 2013 war bis nach New York zu hören. Der junge Komponist – erschüttert, der eigenwillige Choreograf – gekränkt, der erfolgreiche Impresario – freudig erregt. Skandale sind gut fürs Geschäft. Hundert Jahre danach ist „Le Sacre du Printemps“ von Igor Strawinsky und Vaclav Nijinsky kultureller Alltag, auf der Ballettbühne und im Konzertsaal. Aufregend sind die „Bilder aus dem heidnischen Russland“ immer noch, doch aufregend sind auch die Bilder aus dem heutigen Russland. Gefeiert wird der Skandal in Moskaus Hauptkirche vor einem Jahr jedoch kaum. Vergessen soll er aber auch nicht werden, meint Christine Gaigg.
Das Ritual des Skandals. Leicht ist es nachzuvollziehen, wie die österreichische Choreografin vom prunkvoll ausgestatteten Elysees-Theater zur weiß-goldenen Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau schwenkt. Wieso ihr zur Choreografie von Vaclav Nijinsky der Auftritt von Pussy Riot am 21. Februar 2012 einfällt. Auch wenn die Empörung über stampfende Tänzerinnen auf der Bühne und hämmernde Rhythmen im Orchestergraben damals während der gesamten 35 Minuten der Aufführung anhielt und die Protest-Performance der jungen Frauen von Pussy Riot nur 41 Sekunden währte. Nijinsky / Strawinsky wurden niedergebrüllt, die drei Pussy Riot-Mitglieder eingesperrt. „Sakrileg“ empörte sich der Patriarch der russisch orthodoxen Kirche; „Sakrileg“ warf das Pariser Publikum auch dem Künstlerduo vor. 2012 fühlte sich die Kirche beleidigt, 1913 die Kunst. „Da wurde jedes Mal ein wunder Punkt der Gesellschaft getroffen“, meint die Choreografin und ging auf die Suche, was die dekadente Noblesse in Paris und die Allianz von Kirche und Staat in Moskau eint.
Christine Gaigg stellt die Aktion(en) von Pussy Riot mit Szenen aus der Originalchoreografie von Nijinksky nebeneinander, zerlegt sie, zoomt sie heran und wechselt den Blickwinkel. Gemeinsam mit dem Klangregisseur und Komponisten Florian Bogner ist eine Abfolge von Szenen entstanden, die zur liturgischen Aufführung werden. Der Kreis schließt sich: Die Uraufführung von „DeSacre“ findet in einem sakralen Raum statt, in der Josephskapelle der Hofburg. Die Module aus dem „Sacre“ werden durch Überlegungen der Choreografin unterstrichen, die Bewegungssprache von Pussy Riot (nicht nur die Sekunden-Aktion wiedergebend) wird durch veröffentlichte Kommentare veranschaulicht und unterstützt. Die in die Performance eingebauten Texte wurden von Christine Gaigg und Erich Klein zusammengestellt und gesprochen
Was nach der Uraufführung von Claude Debussy mit spitzer Zunge als „Le Massacre du Printemps“ apostrophiert worden ist, beschäftigt bis heute Tanzschaffende in aller Welt. Auch Christine Gaigg ist mit dem „Sacre“ längst vertraut, hat sie doch schon 2000 in den Sofiensälen und ein Jahr später im Hof des Museumsquartiers ihr „Frühlingsopfer“ dargebracht. „Sacre Material“ verstand sie als „musikalisch-choreografische Versuchsanordnung“ basierend auf der Auseinandersetzung mit Komposition und Choreografie. Max Nagl hatte die Originalpartitur mit eigenen Komposition ergänzt. Was Gaigg interessiert hat, war die rituelle Struktur des stilprägenden Werkes. „Damals habe ich zum ersten Mal sozusagen meine ‚Marke’ vorgestellt, indem es das gesamte Stück hindurch keine Narrativität gibt, sondern sich Bewegungsmodule in einer systematischen Abfolge wiederholen, sodass die Zuschauer in einen Sog geraten, aber gar nicht genau wissen, warum oder was sich da wiederholt. Und das ist das, was ich in der Folge immer wieder gemacht habe.“ In „Maschinenhalle#1“ (Uraufführung beim steirischen herbst, 2010), bei „Trike“ (Premiere im Theater am Neumarkt Zürich, 2005) und allen Folgestücken (zuletzt „M-Trike“, Schauspielhaus, 2012) und auch in „Über Tiere von Elfriede Jelinek“ (Zürich, 2007) verwendet Gaigg sogenannte Loops, also Bewegungs-Sequenzen, die wie in einer Schleife, minimal verändert ablaufen. In der jüngsten ihrer choreografischen Arbeit zu einem Text von Xaver Bayer, „Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen“ (Premiere im Schauspielhaus, 2012), wurde ihr der Text zur Musik. Struktur und Rhythmus der Prosa inspirierten sie, dem Text „etwas Körperliches“ entgegenzusetzen. „Damit dieses Komplementäre überraschend und auch gefährlich ist, improvisieren die TänzerInnen das ganze Stück hindurch.“ Theaterkritikerinnen wie Tanzaffine waren begeistert. In dem reichen Œuvre Gaiggs mag sie ein „unpopuläres“ Kind am allerliebsten: „,Adebar/Kubelka’, das ich von dem knapp einminütigen Film ,Adebar’ von Peter Kubelka abgeleitet habe, der einen ganz genauen Bauplan hat. Diesen Bauplan haben Max Nagl als Komponist und ich als Choreografin auf fünf Tänzerinnen und den Raum umgelegt. Unsere Arbeit war es, das zugrunde liegende Prinzip zu finden. Der Erfolg war mäßig und das Stück ist auch nach den vier Vorstellungen 2003 nie wieder aufgeführt worden.“ Dennoch oder gerade deshalb hat sie es ins Herz geschlossen.
Suche nach Strukturen. Die geborene Oberösterreicherin ist eine der produktivsten und konsequentesten freischaffenden Künstlerinnen der Tanzszene, nicht nur in Wien. Originalität gewinnen ihre Werke, produziert unter dem Label „2nd nature“, auch durch die enge Zusammenarbeit mit Komponisten Neuer Musik (Max Nagl, Bernhard Lang, Bernhard Gander). Statt Bewegung zu vorhandener Musik zu komponieren oder damit zu unterlegen, ist Gaiggs Ziel, Strukturen darzulegen und aufzudecken. Deshalb arbeiten Komponist (Klangregisseur) und Choreografin (Bewegungsregisseurin) gemeinsam nach der gleichen Methode. Studiert hat sie in Wien Philosophie und Linguistik. Ihre Tanz- und Choreografie-Ausbildung erhielt sie an der School for New Dance Development in Amsterdam. Dort hat sie später auch unterrichtet. Seit 1996 ist Christine Gaigg Lektorin für Performancetheorie am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. „Die Studentinnen haben meistens noch gar keine Berührung mit Performance gehabt und sind oft ganz verwirrt, wenn sie sich eine Vorstellung angesehen haben. Es ist eine Übung und sie sind gezwungen sich Gedanken zu machen.“
Gedanken haben sich auch die Gäste der aktuellen Vorstellung gemacht. „ Natürlich war die Idee für das neue Stück von diesem Jubiläum, 100 Jahre ‚Sacre’, inspiriert. Dann erhielt ich das Angebot, in der Josephskapelle der Hofburg aufzutreten. Diese Familienkapelle der Habsburger mitten in der Präsidentschaftskanzlei wird zwar heute hauptsächlich für kulturelle Veranstaltungen benützt, ist aber immer noch eine Kirche. Als ich den Ort mit dem ‚Sacre’ im Hinterkopf besucht habe, fiel mir gleich Pussy Riot ein. Es war eine Angelegenheit von zwei Wochen, bis ich die beiden zusammengebracht habe.“ Interessant wurde die Arbeit für Gaigg, als sie herausfand das sehr vieles von der Gestik des Sacre der in den Auftritten von Pussy Riot gleicht. „Bald habe ich festgestellt, dass das gestische Material, von Pussy Riot auch im Sacre vorkommt. Das war mir anfangs gar nicht bewusst. In den beiden Events gibt es einfach Gemeinsamkeiten. Mir kam auch der Gedanke, dass Pussy Riot auf eine gewisse Art geopfert worden sind. Der springende Punkt aber war für mich, dass die Aktion in einer Kirche gemacht worden ist und da beschäftigt mich der Blasphemievorwurf. Gerade in diesem Ort, den ich für die Premiere zur Verfügung habe, kann ich diese Frage stellen. Im Vergleich dieser winzigen Aktion – zu der eigentlichen Performance sind sie ja gar nicht gekommen – zur Strafe und auch zur Aufregung danach, muss man sich fragen, welcher Schaden entstand denn dadurch für die Religion.“ Die Frage, ob sie eine politische Choreografin sei, beantwortet Christine Gaigg in spontanem Fortissimo: „Ja!“
Dankbar nahmen Tänzerinnen und Tänzer (Marta Navaridas, Anna Prokopová, Eva Maria Schaller, Veronika Zott, Alexander Deutinger, Radek Hewelt, Petr Ochvat) den Applaus der geladenen Gäste entgegen.
Christine Gaigg / 2nd nature: „DeSacre!“, 24.4. Josephskapelle, Hofburg.>
„DeSacre!“ war die Eröffnungsvorstellung des Minifestivals „Feedback“ im Tanzquartier , bei dem bis 27. April Tanz und Performance aus Österreich mit Uraufführungen und Erinnerungsstücken gezeigt wird.
Ein Teil des Textes ist am 19. April 2013 im Kultur Magazin der Tageszeitung "Die Presse" erschienen.