Meister der Tabubrüche. Handgranaten – auch wenn es Attrappen sind - gegen christliche Ikonen zu erheben, lässt die Gemüter auch hierzulande nicht kalt: Nach Proteststürmen und Polizeischutz für die Aufführung in Paris, Blasphemie-Vorwürfen eines hohen religiösen Würdenträgers in Berlin, gab es nun auch Störaktionen und Protest-Flugblätter in Wien. Seit Claus Peymanns polarisierender Ära in Wien oder Christoph Schlingensiefs „Ausländer raus“-Container am Karlsplatz, erhitzte kaum etwas das Wiener Publikum noch so, wie Romeo Castelluccis „Sul concetto di volto nel Figlio di Dio“ (Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn).
Ein vergrößertes Jesusbild des Renaissancemalers Antonello da Messina blickt milde lächelnd direkt ins Auge der Zuschauer. Während der Blick unverändert bleibt, wirft das Schauspiel menschlichen Elends auf der Bühne ein wechselndes Licht auf dieses Bildnis von Gottes Sohn und dringt damit tief in die Widersprüche christlichen Glaubens ein. Es werden mehr Fragen gestellt, als Antworten geboten werden, aus dieser Verantwortung entlässt der Regisseur aus Cesena die Zuseher nicht. Für sein Lebenswerk wird er heuer bei der Biennale mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet: Seine Fähigkeit eine neue Sprache für die Bühne zu schaffen, die Theater, Musik und Bildhauerei miteinander verwebt, wird damit zu Recht gewürdigt.
Mit dem Weg allen Lebens zu Alter und Verfall kämpfen Vater (Gianni Plazzi) und Sohn (Sergio Scarlatella). Der gebrechliche Vater hat seine Ausscheidungen nicht mehr unter Kontrolle, was beide an ihre Grenzen treibt. Der Realismus der Szene erspart auch dem Publikum den olfaktorischen Grenzgang nicht. Doch es wäre nicht Romeo Castellucci, würde es bei diesem Hyperrealismus bleiben, dieser bekommt bald Risse. Aus einem Kanister schüttet der Vater Fäkalien über das weiße Bett, was einen Übergang auf eine andere, innere Ebene einleitet. Der Sohn verschwindet symbolisch unter dem übergroßen Jesusbild und kehrt als Junge wieder, der aus seinem Rucksack Handgranaten nimmt, die er auf das Bildnis wirft. Aus dem einen Jungen werden viele, die es ihm gleich tun und damit vielleicht Emotionen, die unter der Oberfläche brodeln, visualisieren mögen. Als sie die Bühne wieder verlassen, erstrahlt das Bildnis in neuem Glanz und der Vater bahnt sich, Fäkalien verschüttend, seinen Weg durch den zurückgebliebenen Scherbenhaufen.
Unter ohrenbetäubendem Sound, einer Mischung aus sakralen Gesängen und Störgeräuschen (Musik Scott Gibbons), beginnt jetzt vor aller Augen eine Transformation des Gemäldes. Mächtige dunkle Schatten legen sich über das Bildnis und Beulen treten bedrohlich aus dem vorher unbeweglichen Antlitz. Schließlich beginnt es zu bluten und das Gewebe bekommt Risse, drei schwarz gekleidete Männer seilen sich ab und reißen dabei die Haut vom Gesicht und entblößen das Innere des Gemäldes. Ein Schriftzug mit den Worten „You are (not) my shepherd“ erscheint.
Wer Blasphemie vermutet: Castellucci bezieht sich mit seiner Arbeit auf Psalm 22 („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“) der in der Passion Jesu zitiert wird und Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln.“). Inhärente Widersprüche löst Castellucci nicht auf, und das ist gut, dafür wäre dann der Glaube (heraus-)gefordert.
Romeo Castellucci / Societas Raffaello Sanzio, Sul concetto di volto nel Figlio di Dio (Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn), Wiener Festwochen vom 12.5. 2013 im Burgtheater, www.festwochen.at