Der historische Sitzungssaal des Wiener Parlaments muss vom Schmutz, der sich im Laufe der Zeit angesammelt hat, befreit werden. Doch der sitzt fester als man denkt. Es wird nämlich ein Konzert zu Ehren von zur Nazizeit vertriebenen jüdischen Komponisten und ihrer Musik stattfinden. Der wunderbare Schweizer Regisseur Christoph Marthaler, ein exzellenter Denkmalpfleger der besonderen Art, setzt sich mit „Letzte Tage. Ein Vorabend“ bei den Wiener Festwochen auch selbst ein Denkmal.
Eine Marthaler`sche Putzbrigade, bestehend aus handverlesenen Meisterinnen ihres Fachs, wird in den „zukünftigen Platz ihres Wirkens“, den historischen Sitzungssaal im Parlament eingewiesen. Ein Ort, der seiner Renovierung harrt, da und dort steht ein Gerüst oder sind Säulen verhüllt. Die Abgeordneten, so die Einführung, waren im Laufe der letzten 100 Jahre dort phasenweise wenig oder gar nicht zugegen. So auch nicht in den Jahren von 1933-1945. Manchmal waren sie zwar vorhanden, aber - frei nach Marthalers Inszenierung - wohl eher als Pausenclowns, die den heroischen Säulenfiguren, die den Saal säumen, auch einmal die rote Nase aufsetzen.
Marthalers inszenatorische Zeitrechnung ist breit angelegt: Sie reicht von der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, vom Abgeordnetenhaus der Donaumonarchie bis in die Zukunft. Anlässlich einer europäischen Gedenkfeier 200 Jahre nach der Schließung des Konzentrationslagers Mauthausen, in einem zukünftigen Kaiserreich Habsburg-Europa, wird eine der herausragenden europäischen Eigenschaften dem UNESCO-Weltkulturerbe unterstellt. Es handelt sich dabei um den in der europäischen Geschichte durchgängig existierenden Antisemitismus und Rassismus, der nun nur noch in Unterhaltung umgewandelt werden müsse. Er sei „ein Ausdruck der eigenen europäischen Kultur“. „Geschichtsschleifen“ seien wichtig für uns, so eine der Marthaler`schen Wortkunstwerke, die Clemens Sienknecht mit dem Song „Oh wont you stay, just a little bit longer“ gesanglich eindrucksvoll unterstützt.
Die verwendeten Texte (Collage/Dramaturgie Stefanie Carp) sind „fast alle dokumentarisch oder fingiert / dokumentarisch“. Den Gruselfaktor der dokumentarischen Materialien - nicht nur der länger zurückliegenden Geschichte sondern auch der jüngeren Vergangenheit – können die fingierte Texte kaum toppen: Josef Ostendorf flüstert zum Beispiel Passagen von Karl Luegers Rede vom 26. Mai 1894 ins Mikrofon: „Gewiss meine Herren, der Antisemitismus wird einmal zugrunde gehen, aber erst dann, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen sein wird.“ Oder es werden Aussagen aus Politikerreden aus der österreichischen, deutschen und ungarischen Presse entnommen. Publizist Gregor Mayer hat dazu öffentliche Aussagen u.a. von Viktor Orbán, dem ungarischen Ministerpräsidenten, recherchiert und übersetzt, der einschlägiges Material liefert.
Katja Holm stellt eine österreichische Spitzenpolitikerin dar, die gefragt wird, ob denn Ausländer als einziges Wahlkampfthema nicht etwas wenig sind und die im Dialog mit Nelson Etukudo, einem „integrierten Afroeuropäer“, sagt, sie selbst habe nie ein Problem mit Ausländerfeindlichkeit gehabt. Ihre Volksnähe demonstriert sie mit ihren Jodel-Kenntnissen (großartig: „Hätti di – Habidi“ mit Hall und Echo vom Schauspiel-, Gesang-Ensemble). Wunderbar auch Bettina Stucky als Mutter, die mit der Steinsäule spricht und sie fragt, ob sie schlafen könne. Seit sie gelesen habe, dass jede Mutter, die arbeitet, ihr Kind vernachlässigt, könne sie nicht mehr schlafen. Die Gefahren des Schulwegs, die aufgrund der steigenden Zuwanderung in ihrem Wohngebiet lauern, will sie damit lösen, dass sie ihren Sohn in eine Eliteschule nach Indien zu schicken gedenkt, da das im Moment sehr angesagt sei.
Neben all diesen erhellenden Reden und Szenen des Schauspiel-Ensembles jedoch beruht ein zentraler Teil der äußerst gelungen Aufführung auf dem zugrundeliegenden großartigen Werk der jüdischen Komponisten (u.a. Pavel Haas, Viktor Ullman), von denen viele 1941 nach Theresienstadt deportiert und später in Auschwitz umgebracht wurden. Von Viktor Ullmann stammt das musikalische Leitmotiv, eine Melodie für Violine, man vermutet, dass es die letzte Komposition ist, die er aufgeschrieben hat. Uli Fussenegger (musikalische Leitung) hat fast alle Kompositionen bearbeitet und neu instrumentiert, da das Theresienstädter Orchester situationsbedingt nur unvollständig bestückt war.
Bernhard Lang hat eine Komposition für diese Aufführung geschrieben, Epilog II, nach einem Text von Primo Levi: „was geschen ist kann wieder geschehn hier und jetzt jeden tag.“ Eindrucksvoll auch die musikalischen Einlagen und Chorgesänge des Schauspiel-Ensembles und der Mezzospranistin Tora Augestad, vor allem der Schlusschor aus Felix Mendelssohn-Bartholdys Oratorium Elias. Das Ensemble schleicht in bedrückendem Todesmarsch über die obere Galerie und singt „Wer bis ans Ende beharrt“, die Klänge verlieren sich in den Gängen im Gebäude und kehren von unten wieder.
Christoph Marthaler, Letzte Tage. Ein Vorabend, Uraufführung am 17. Mai 2013, gesehen am 24.5.2013 im historischen Sitzungssaal im Wiener Parlament, noch zu sehen 27. und 28.5.2013, www.festwochen.at