Protest vor dem Altar. Nach dem nahezu im Privatrahmen auf Einladung des Bundespräsidenten gefeierten Uraufführung, hat Christine Gaigg einen neuen passenden Aufführungsort gefunden, um ihr Tanzstück, „DeSacre!“, auch einem größeren Publikum zu zeigen. In der Wiener Ursulinenkirche konnte wieder staunend beobachtet werden, wie sich die bewegten Bilder gleichen. Vaslav Nijinskis Choreografie und Pussy Riots kurzer Auftritt in einer Kirche Moskaus.
Man erinnert sich: Vaslav Nijinskis Choreografie zur aufwühlenden Musik Igor Strawinskys – „Le Sacre du printemps / das Frühlingsopfer“ – wurde vor 100 Jahren uraufgeführt; Pussy Riot, ein Kollektiv junger russischer Künstlerinnen, die sich auch politisch „einmischen“, erregte mit einem keine Minute dauernden Auftritt in der größten Kirche Moskaus nicht nur die Weltöffentlichkeit sondern vor allem den orthodoxen Patriarchen und die Regierungsspitze. Drei der vier Aktionskünstlerinnen sitzen seit dem im Gefängnis. Wie bereits nach der Uraufführung im April beschrieben, hat Gaigg mit ihrer Compagnie 2nd Nature durch eine genaue Analyse der Bewegungsabläufe der protestierenden Performerinnen und der rekonstruierten Choreografie Nijinkis durch Millicent Hodson frappierende Übereinstimmungen gefunden. Geballte Fäuste, offene Handflächen, gereckte Arme, Drohgebärden – im „Frühlingsopfer“ ebenso zu sehen wie beim vor ganz anderem Hintergrund geschehenen Auftritt von Pussy Riot.
Tanz will politisch sein. Dazu stellt Christine Gaigg gemeinsam mit dem Russlandspezialisten Erich Klein auch politische Überlegungen an und wirft die Frage auf, ob Kunst provozieren muss, wenn sie die Wahrheit sucht. Seit der Uraufführung ist das spannende Stück mit der minutiös gezeigten Zerlegung des keineswegs aggressiven Ablaufs in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale und der im Gegensatz recht aggressiven Musik Strawinskys zu den gezeigten Passagen aus der rekonstruierten Urchoreografie des „Sacre“ kompakter und intensiver geworden. Auch wenn die Choreografin mit ihrem Team, bis auf die Einfügung eines kleinen ironischen „Kirchengesangs“, keine wesentlichen Änderungen vorgenommen hat. Tanz will (auch) politisch sein. Dass er es kann, zeigt Gaigg, einprägsam ohne Gefasel und dennoch verständlich. Doch kann diese besondere Form, Tanz mit Zwischentexten, die erklären und auch Stellung nehmen, nur eine Parzelle in der vielfältigen Tanzlandschaft sein. Es darf und soll auch Tanz um des Tanzes willen gezeigt werden.
Die barocke Ursulinenkirche in der Johannesgasse steht dem im ehemaligen Kloster der Ursulinen angesiedelten Institut für Orgel, Orgelforschung und Kirchenmusik der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (MDW) zur Verfügung und wird wegen der guten Akustik nicht für den Unterricht sondern während des Studienjahrs an Sonntagen auch für den Gottesdienst benutzt, den die studierenden Kirchenmusiker mitgestalten. Für die Aufführung der klug konzipierten und durch die Zwischentexte ebenso verständlichen wie nachdenklich machenden Performance, erweist sich die mit reichlich Stuckatur ausgestatte ehemalige Klosterkirche ebenfalls als idealer Aufführungsort. Auf einer Theaterbühne würde die stringente Form erheblich an Ausdruckskraft verlieren. Dass ImPulsTanz für das jährliche Festival immer wieder neue Aufführungsorte entdeckt und bekannt macht, ist ein erfreulicher Nebeneffekt, dieser klug konzipierten Vorstellung.
Christine Gaigg / 2nd Nature: „DeSacre!“, im Rahmen von ImPulsTanz, 25. Juli 2013, Kirche St. Ursula.