Euridice kommt nicht zurück. Sie bleibt wo sie ist. Orpheus muss ohne sie weiter leben, weiter singen. Euridice heißt Karin, Karin Anna Giselbrecht. Sie lebt in der Wachkomastation im Geriatriezentrum Wienerwald / Lainz , hört über Kopfhörer die Vorstellung und ist die Hauptperson an diesem Opernabend. Regisseur Romeo Castellucci wollte es so. Karin war einverstanden, sie ist Euridice.
Zwischen den Welten lebendig. Das Bild, das sich Castellucci, Glucks Musik hörend, mit Macht aufdrängte, war das der Wachkomapatientin. Euridice schwebend zwischen Leben und Tod. Karin Anna Giselbrecht, die mit den Eltern und dem Bruder über Blickkontakt kommunizieren kann, war einverstanden. Bevor die jetzt 26 jährige nach einem Herzstillstand ins Koma gefallen ist, war sie Tänzerin und hat zugleich Slawistik studiert. Jetzt wacht und schläft sie auf der Wachkomastation.
Erschütternde Begegnung. Zwei Mal hat sie die Proben zu diesem technisch aufwändigen und gewagten Unternehmen besucht und ist dabei auch John Neumeier begegnet, in dessen Compagnie zu tanzen, einst ihr Traum war. Choreograf Neumeier wusste davon nichts, war aber mit seiner Compagnie gerade in Wien, um seine „Kameliendame“ zu zeigen. Höflich fragte er den Festwochenintendanten Markus Hinterhäuser, ob er eine Probe dieser rätselhaften Produktion sehen könne. Orpheus begegnet Eurydike. Neumeier lernte Karin Anna Giselbrecht kennen. Eine für alle Anwesenden erschütternde Begegnung.
Uralt aber heute noch gültig. Die Musik ist bekannt, die Geschichte ebenfalls, ich bin gekommen, um beides zu genießen.Großer Irrtum. Um Genuss, um Unterhaltung und das wohlige Bad im Schönen geht es diesmal nicht, sondern ums Ganze, das Existenzielle.
Der Mythos berichtet, dass Orfeo, dessen geliebte Gattin gestorben ist, den ihm von Amor empfohlenen Schritt wagen will, durch seinen Gesang die Furien zu besänftigen, damit sie den Weg in die Unterwelt frei geben und er Euridice zurück holen kann, zurück in seine Welt. Ich muss mit ihm gehen. Die Kamera fährt durch die regennassen Straßen, es ist Sonntagabend, wenig Verkehr. Ihre Fahrt ist auf einer großen Leinwand zu sehen. Bejun Mehta als Orfeo, steht davor, singt seinen Schmerz, seine Sehnsucht, seine Zweifel und Ängste. So fein und vorsichtig, so der Musik folgend und später zärtlich und respektvoll bedient Kameramann Vincent Pinckaers sein Instrument, dass Mehta auf der Bühne nur noch hörbar ist, zu sehen scheint er auf dem Weg ins Schattenreich. Ich folge.
Im Schattenreich. Der Schranken vor der Krankenanstalt Lainz geht hoch, Orfeo läuft durch die Parkanlage, gelangt endlich zum Geriatriepavillon (Primar Dr. Johann Donis), klettert die Stufen hinauf, klopft an und betritt das Vierbettzimmer, in dem Euridice vielleicht auf ihn wartet, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist sie da, atmet, hört die emotionsgeladene Musik Glucks, den aufwühlenden Gesang Mehtas;und die Stimme von Christiane Karg, die für diesen Abend die ihre ist. Doch sie kümmert sich nicht um den verzweifelten Mann. Als Schatten im Hintergrund ist Euridice, die Sängerin, zu sehen, unscharf und verschwommen bleibt meinst auch Euridice / Karin. Sanft streicht ihr Orfeo über das dichte Haar, entfernt sich vom Angesicht, schaut die Bilder von Karin aus einer anderen Welt an, nähert sich wieder dem Gesicht, die braunen Augen sind offen, bewegen sich. Euridice lebt, doch nicht in unserer Welt. Einmal schweift sein Blick – es ist der Blick der Kamera, der über Internet und Funk gestreamt wird – über den Monitor, der Euridices Lebensfunktionen beobachtet. Die Uhr zeigt die aktuelle Zeit. Karin Anna Giselbrecht ist live eingebunden in die Vorstellung. Sie hat die Hauptrolle, als für diese, unsere Welt verlorene Euridice.
Aufwühlender Mythos. Was Castellucci mit dieser Inszenierung (Künstlerische Mitarbeit: Silvia Costa, Dramaturgie: Piersandra Di Matteo, Christian Longchamp) gelungen ist, kann nicht auf Tournee gehen, wird vergeblich zu einem Theatertreffen eingeladen werden. Es ist mehr als ein schöner Opernabend, viel mehr und ganz sicher kein Spektakel, auch wenn die Grundidee als spektakulär bezeichnet werden muss. Castellucci gelingt es den Mythos von Orpheus und Eurydike lebendig werden und zu uns sprechen zu lassen. Über die Musik, den Gesang (im Orchestergraben unsichtbar: der unnachahmliche Arnold Schoenberg Chor) und die Darstellung werden Emotionen aufgerührt, Gedanken und Assoziationen frei und wir spüren, dass wir direkt angesprochen sind. Der Mythos von Orpheus und Eurydike erzählt von unserem Leben, von Abschied und Loslassen, von Zärtlichkeit, Respekt und Liebe. Castellucci wird für seine Arbeit nicht immer geliebt, diesmal aber wird ihm (und seinem Team) mehr als Liebe zuteil – Bewunderung und Verehrung.
Tröstliches Ende / lieto fine. Komponist und Librettist fügen sich den Konventionen von 1762, dem Uraufführungsjahr: Kein tragisches Ende. Orfeo hat die badende Eurydike im Elysium gesehen, die Musik verklingt, die Lichter gehen aus, eine Hand nimmt Karin behutsam die Kopfhörer ab. Das Publikum bleibt lange still, für Applaus ist später noch Zeit. Verhalten klingt er auf, wird intensiv, dankbar, innig. Mit wässrigen Augen verlassen die Zuschauerinnen das Museumsquartier, etwas benommen und verstört, aber tief bewegt.
„Orfeo ed Euridice“, Oper von Christoph Willibald Gluck, Libretto Ranieri de’ Calzabigi, Inszenierung Romeo Castellucci, Dirigent des B’Rock – Baroque Orchestra Ghent: Jérémie Rhorer. Euridice: Karin Anna Giselbrecht / Christiane Karg; Orfeo: Bejun Mehta; Amor: Laurenz Sartena (Wiener Sängerknabe); Kamera: Vincent Pinckaers. Arnold Schoenberg Chor. Eine Produktion der Wiener Festwochen / La Monnaie | De Munt, Brüssel, gesehen am 18. Mai 2014, Museumsquartier
In Brüssel wird ab 17. Juni 2014 der 2. Teil von Casteluccis Diptychon, Hector Berlioz’ „Orphée et Eurydice“, gespielt. Von 9. bis 29. Juli 2014 ist diese Aufführung im Internet zu sehen.