Als Gastspiel des Hamburg Balletts zeigt John Neumeier Johann im Theater an der Wien das gesamte „Weihnachtsoratorium“ Sebastian Bachs. Nach der Uraufführung der ersten drei Teile 2007 in Wien, war er getrieben, auch die restlichen Teile zu choreografieren. „Weihnachtsoratorium I–VI“ soll als eigenständiges Werk gesehen werden. Die Uraufführung fand 2013 in Hamburg statt.
John Neumeier ist eine Ikone des Tanzes an der nicht zu kratzen ist. Er erzählt wunderbare Geschichten und motiviert seine Kompanie, das Hamburg Ballett, zu höchster Tanzkunst, präzise, ausdrucksvoll, jede Schwierigkeit meisternd. Dennoch muss es erlaubt sein, seine Choreografie zu den sechs Kantaten, die Bach für die sechs Gottesdienste zwischen dem Weihnachtstag und dem Fest der Hl. Drei Könige komponiert hat und im Konzertsaal und in Kirchen als „Weihnachtsoratorium“ aufgeführt werden, kritisch zu betrachten.
Die Bilder der Uraufführung der Version „I–III“ sind noch nicht aus dem Kopf gelöscht und auch wenn Neumeier den Teil für das neue Opus „I–VI“ überarbeitet hat, gleichen sie sich doch. Aber der Glanz ist verblasst. Die gleichen roten Kleider wirbeln beim Eröffnungschor (einst als Geburtstagsständchen für die Kurfürstin Maria Josepha komponiert) über die Bühne, doch das Lächeln der Tänzerinnen ist zur Maske erstarrt, ist eher ein Grinsen als ein Jauchzen und Frohlocken.
Jubelnde Fröhlichkeit ist nicht John Neumeiers Sache. Da muss immer und immer heftiger auf die Pathostube gedrückt werden. Christbäumchen mit Kerzenschimmer und güldenem Stern, den dann der gierige „König“ (Herodes, hinreißend im Tango- und Steppschritt getanzt von Dario Franconi) verächtlich wegschnippt. Da muss „der Mann“, ein Beobachter des Geschehens (wie bei der Uraufführung des 1. Teils: Lloyd Riggins), wie die persofinizierte Caritas umherschleichen. „Die Mutter“ (Anna Laudere) darf sich über ihr Kindlein (eine zusammengefaltete Windel, die später zum Hemd mit blutigem Kreuz wird) nicht freuen, ist von Anfang an verhärmt, frierend, die Passionsgeschichte ahnend. Bühnenbildner Ferdinand Wögerbauer, der im ersten Teil die Bühne so angenehm leer lässt, setzt noch ein Zeichen drauf: Zu Beginn des 2. Teiles schwebt ein hölzernes Kreuz bedrohlich über dem mit Tröten, Pfeifen, Papierschlangen und bunten Hütchen das Neue Jahr feiernden Volk.
Gut, an die koffertragende Reisegesellschaft hat man sich seit der „Matthäuspassion“ (1981) schon gewöhnt, Lebensreise, Migration, Flucht (nicht nur nach Ägypten), globale Welt. Die Metapher ist reichlich abgegriffen. Dass aber, wenn Engel tanzen, wie nur Engel (Silvia Azzoni, Alexandr Trusch) tanzen – klassischer Spitzentanz, überirdisches Heben, Schweben –, im Hintergrund das gesamte Corps sein Wesen treiben muss, holt diesen himmlischen Genuss auf die Erde von Neumeiers wuchernden Einfällen herunter. Gerne möchte ich mich den berührenden Bildern, die der Choreograf findet, hingeben, doch immer wieder stören „Echos“ und „Verdopplungen“ diese Hingabe.
Neumeier hat sich intensiv mit Choreografien sakraler Werke befasst („Matthäuspassion“, „Magnificat“ von J. S. Bach, G. F. Händels „Messias“, W. A Mozarts „Requiem“), dennoch will er, obwohl gläubiger Christ, keinen „sakralen Tanz“ schaffen, sondern immer „eine Geschichte für alle“ erzählen, verständlich, durchschaubar und auch bewegend.
Er will „theatrale Bewegungen generieren …, Bachs Musik in einen Theaterraum bringen …“ , haben wir im Programmbuch „vor der Aufführung zu lesen“. Dass er das darf, haben schon die Zeitgenossen J. S. Bachs erkannt, die meckerten, dass die Weihnachtskantaten „oft so weltlich und lustig“ klingen, „dass sie besser auf einen Tanzboden [sicI] oder in einer Oper aufgehoben wäre(n) … Für den sittenstrengen wie sinnenfeindlichen Konsistorialrat Johann Christian Gerber war der Lärm in unserer ehrwürdigen Thomaskirche’ höchst ärgerlich und die ,neumodische’ Kirchenmusik ein Werk des Teufels“, ist im Programmbuch nachzulesen.
Neumeier darf und Neumeier kann, seine Tänzerinnen und Tänzer sind makellos, seine Tanzsprache differenziert und vielfältig und wenn er nach drei doch etwas sehr langen Stunden, wieder den Anfangschor als Refrain erklingen lässt, dann jauchzt und frohlockt auch das Publikum, preist die TänzerInnen und verneigt sich ehrfürchtig vor dem Choreografen. Verdammt sei, wer anders denkt.
„Weihnachtsoratorium I–VI“, Johann Sebartian Bach, John Neumeier, Hamburg Ballett, Premiere im Theater an der Wien am 17. Dezember 2014. Weitere Vorstellungen: 18., 19., 20. Dezember 2014.