Passend zum diesjährigen Motto des Osterfestivals „Liebe“ setzte das schlichte, puristische Bühnenbild den Fokus auf die tanzende Partner und ihre Beziehung - ihre Liebe zueinander. Das kahl-kühle Licht und der hohe Raum der Dogana versinnbildlichten den Anfangs- und Schlussvers von Richard Dehmels 1896 veröffentlichtem Gedicht: „Zwei Menschen gehen durch kahlen, kalten Hain (…) / ihr Atem mischt sich in den Lüften / zwei Menschen gehen durch hohe, helle Nacht“.
Arnold Schönbergs Vertonung des Liebesgedichts "Verklärte Nacht" liefert dem Tanzstück einen hochpoetischen und gleichzeitig lebensnahen Dramaturgiestoff. Die expressive Musik Schönbergs spiegelt die Dramatik des Gedichts über eine unkonventionelle und für die Zeit brisante Liebesbeziehung wider: Eine Frau gesteht, dass sie ein Kind von einem anderen Mann erwartet. Dabei reagiert ihr Liebster aber auf offene, großherzige und verzeihende Weise. Die Gedichthandlung des im Mondschein wandernden Paares wird von De Keerksmakers Choreografieversion aus dem Jahr 2014 durch eine innewohnende Vorgeschichte eingeleitet:
Stille. Bühne im kahlen Licht. Jeder Schritt des nun auftretenden ersten Paares bricht ein in diese „hohe, helle Nacht“, in diesen Raum, der sich Atem für Atem in weit mehr verwandelte als einen schwarzen leeren Doganasaal. Die kurze Mélange à trois, ein Sinnbild auch für die vertanzte Vertonung, die Mélange von Gedicht, Musik und Tanz: wer geht hier wirklich Hand in Hand? Es lässt mutmassen, dass die Musik das Gedicht vertonte und die Choreographie in erster Linie die Vertonung und nicht das Gedicht vertanzte. Im Allgemeinen konfrontiert diese Inszenierung das Publikum mit eigenen Fragen und lässt sie zum Teil unbeantwortet zurück.
Mittelpunkt der Inszenierung scheint die Rolle der Frau einzunehmen: sie hat kaum Verschnaufpausen, die meisten Teile des Stücks bestehen aus Solostellen der Tänzerin, während der Tänzer in einem eher statischen Part den Rücken zu Tänzerin und Publikum wendet. Die Tänzer der Tanzcompany Rosas waren Bostjan Antoncic und Nordine Benchorf, anstatt der verletzten Samantha van Wissen tanzte Cynthia Loemij. Sie kannte, so schien es, jede Facette des Stücks und meisterte nicht nur die körperliche Höchstleistung mit Bravour, sondern überzeugte mit musikalischem Feingefühl. Es wird der Eindruck erweckt als würde nur die „Stimme eines Weibes“ zur Körpersprache gelangen, während die warme Offenheit des dialogisierenden Mannes im Gedicht im Tanz kaum „zum Sprechen“ kommt. Nach einem kurzen Solo des Tänzers, kommt es eher spät zu einem wirklichen Pas-de-deux, der immer wieder von weiblichen Solopassagen unterbrochen wird.
Dabei berühren am Anfang ihre brachialen, urweiblichen, abtreibende Gesten – man sieht sich in die Rolle hinein getanzt, spürt den Selbsthass, die Verzweiflung über ihre „Lebensfrucht“, spürt ihre Abneigung gegen ihr „Vergehen“ am eigenen Körper. Die Bewegungen und Schattenwürfe in der Choreografie unterstreichen subtil die soziale Thematik, die politische Brisanz im Gedicht. Wie De Keersmaeker selber sagt, ist der Tanz eine "lebende Kunstform", die in der Gegenwart geschieht und deshalb auch die Fragen dieser Zeit innehat. Wie geht man mit ungewollten Schwangerschaften auch heute noch um? Dem Publikum wurde viel Rücken zugewendet, man könnte mutmaßen, dass dies ein Sinnbild dafür sein könnte, wie eine Frau in dieser Situation tatsächlich behandelt wird? So stellt sich weiter die Frage: auch heute noch?
Ein Tanzstück, das mit offenen Fragen endet.
Ein Tanzstück, das aufwühlt.
Ein Tanzstück, das verklären kann.
Anne Teresa de Keersmaeker/Rosas: "Verklärte Nacht" am 19. März im Congress Innsbruck (Dogana) im Rahmen des Osterfestival Tirol