Wenn’s am schönsten ist, dreht man das Licht ab! Knapp drei Stunden dauert Münchens choreografische Neuerwerbung: Pina Bauschs in weiten Passagen bewegungsfrenetische Szenencollage „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“. Ein hart erarbeiteter Brocken leicht beschwingter, rauschhaft-gutlauniger aber auch slapsticklastiger Tanztheaterkunst. Beim ersten Mal mag es da schon an der Spannung hapern. Ob Sandburgbauen als Überleitung in die Pause aber genügt? Das sollte freilich kein Grund sein, den zweiten Teil zu schwänzen.
Auch hier können die 15 Staatsballettler der Premierenbesetzung in dynamischen Gruppensequenzen überzeugen. Und die gipfeln zuletzt in einer turbulenten Kurzsoli-Abfolge eines furiosen Männerquintetts. Angesetzt wird mit einem Rutscher, weiter geht’s runter auf’s Knie. Mit den Armen schwingt man groß durch den Raum und dreht sich dann mit halbwaagrecht gelegtem Body – die Brust stumm-jauchzend zur Decke hinaufgedrückt.
Kniffliges zwischen Glück und Verzweiflung für einen starken, insgesamt neunköpfigen Boy-Cast, aus dem in solistischen Einlagen Jonah Cook (u.a. als Songimitator), Léonard Engel, Nicholas Losada, Shawn Throop, Nicola Strada oder Matej Urban herausragen. Mehr an souveräner Ausstrahlung braucht noch Urbans skurriler, von einem Kollegen über die Bühne gepusteter Tüllwolkenauftritt (mit Gießkanne als Regenmacher). Mädchen, die sich mit Hilfe von Seilen wie Steine in Richtung des anderen Geschlechts schießen, ein zusätzliches Quäntchen ausgelassenen Schmiss.
Von hinten katapultieren sich zwei Frauen nach vorn. Das offene Haar verwirbelt. So expressiv als hätte Emil Nolde sie in das sich verdunkelnde Bild gepinselt. Wäre da nicht dieser sanfte, bauschtypische Nachklang langer, sommerluftiger Kleider (Kostüme: Marion Cito). Joana de Andrade, die die mal kindlich-quirlige, mal schlafwandlerische Partie der zierlichen Bausch-Tänzerin Ditta Miranda Jasjfi übernommen hat, beweist durch den Wechsel in ihrem Outfit und der Wiederholung ihres Anfangssolos, wie das äußere Erscheinungsbild einen inneren Bewegungsmonolog im Auge des Betrachters verwandeln kann. Gemeinsam mit Séverine Ferrolier, Daria Sukhorukova, Alexa Tuzil und Zuzanna Zahradniková bürstet sie nicht nur ihre Frisur mit einem Besen, sondern das bisherige Tanzerfahrungsrepertoire gegen den Strich.
Peter Pabst, der schon die Uraufführung vor 14 Jahren ausgestattet hat, verortet die spannungsbogenfreie Nummernabfolge vorlagengetreu (ganz im Sinn der gesamten Einstudierung) in einer weißen Wohnhalle mit verschiebbaren Wänden (z. B. um den mäandernden Fokus einer dahinwankenden Angetrunkenen visuell auszugestalten), hohen Schiebetüren und breitem Fenster. Es ist ein warmer, schlichter Raum für Pina Bauschs späte Beziehungs-Poesie der Ecken und Kanten. Der bunte Mix aus verhuscht-fernen bis zu laut-krächzigen Musikstücken fungiert dabei als zweite atmosphärische Ebene zur Choreografie.
Die halbminütige Umarmung als Liebe auf Probe (mit Blick auf die Uhr und Option auf eine Minute am Folgetag) haben darin markante Persönlichkeiten wie Lutz Förster oder Nazareth Panaderos kreiert. Zur Eröffnung der Ballettfestwochen schlüpften Matteo Dilaghi (zusätzlich als Geschichtenerzähler gefordert) und Marta Navarrete Villalba (ihre Sprüche provozierten die meisten Lacher) in deren Parts – mit der nicht immer evidenten Aufgabe, diese wie eigene Rollen zu übernehmen und dabei nicht bloß zu kopieren.
Hochgewachsen und sprechgewandt tastete Matteo Dilaghi sich trotz seiner jungen Jahre recht nah an seinen Mentor und dessen besondere, selbst in Kleinigkeiten unverwechselbar-präsente Aura heran. Für dessen gänzlich von Pina Bausch choreografiertes Solo – ein (im Wortsinn) vermessendes Bewegungsspiel der Finger, Hände und Arme am stillstehenden Körper entlang – erntete er sogar einen seltenen Zwischenapplaus.
Wie leicht die Welt aus der Balance gerät, demonstrieren zwei Männer. Sie hocken auf einem Tisch nebeneinander, als einer plötzlich von der Kante seitlich mit dem Kopf nach unten kippt. Seine Rettung ist, dass der Kollegen fix in time seinen Knöchel packt. Damit beginnt das große, von Ivan Liška und der Pina Bausch Foundation mit dem Tanztheater Wuppertal gewagte Spiel. Aber ist der Coup gelungen?
Die Schlussapplaus-Stimmung im Saal macht sofort klar: einhellige Begeisterung! Auf der Bühne jedoch scheint die zurückliegende Tour de Force alle noch fest im Griff zu haben. Das Erbe Pina Bauschs 1:1 bewahren, war hier vorderstes Ziel. Nun gilt es abzuwarten, wie der Funke, den das Einstudierungsteam mit Herzblut erarbeitet hat, weiter überspringt.
Bayerisches Staatsballett: „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ Premiere am 2. April 2016 im Nationaltheater München im Rahmen der Ballettfestwochen 2016. Weitere Vorstellungen am 8. April, 10., 19., 23. Mai, 10., 27. und 29. Juni 2016